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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

103–105

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lämmermann, Godwin

Titel/Untertitel:

Einführung in die Religionspsychologie. Grundfragen – Theorien – Themen.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. XV, 405 S. 8°. Geb. EUR 34,90. ISBN 978-3-7887-2174-9.

Rezensent:

Michael Utsch

Nach langen Jahrzehnten religionspsychologischer Dürre erfährt ein in Deutschland vernachlässigtes Forschungsgebiet vermehrte Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren sind einige ambitionierte und höchst unterschiedliche religionspsychologische Entwürfe vorgelegt worden. H. Hemminger legte einen Schwerpunkt auf die Gruppendynamik und das Missbrauchspotential der Religion (siehe die Rezension von B. Grom im Materialdienst der EZW, 4 [2005], 158–159). S. Heine untersuchte die Modelle von Gründerfiguren der Religionspsychologie (siehe die Rezension von H.-J. Fraas in ThLZ 132 [2007], 21–23), M. Utsch beleuchtete den Stellenwert religiöser Fragen in der Psychotherapie (siehe die Rezension von K. Kießling in Theologie und Philosophie 81 [2006], 628–631). Kürzlich hat der Salzburger Religionspädagoge A. Bucher eine »Psychologie der Spiritualität« vorgelegt (siehe die Rezension von M. Utsch in Psy­cho­logie Heute 11 [2007]) und der an der Universität Landau tätige Psy­chotherapeut R. Quekelberghe hat »Grundzüge der spirituellen Psychotherapie« dargestellt (siehe die Rezension von M. Utsch in Psychotherapie und Seelsorge 2 [2007], 56).
Es ist auffallend, dass diese Religionspsychologien zumeist nicht von studierten Psychologen angefertigt worden sind, sondern religionspädagogischer Perspektive entstammen. Das ist auch bei L. der Fall. Dieser überzufällige Zusammenhang leuchtet insofern ein, als auf diesem theologischen Anwendungsgebiet der Bedarf an religionspsychologischen Erkenntnissen be­sonders groß ist.
Anders als G. Theißen, der durch die Beschreibung des Erlebens und Verhaltens der ersten Christen eine Religionspsychologie des Urchristentums zu entwickeln versucht hat, legt L. für seine Einführung in die Religionspsychologie sozialwissenschaftliche Kri­terien an. Der Religionspädagoge an der Universität Augsburg kommt deshalb nicht umhin, Fragen der Wissenschaftstheorie und Modellbildung zu behandeln, wenn er »die pädagogische, diagnostische und therapeutische Relevanz einer psychologischen Betrachtung der Religiosität« herausarbeiten will.
L. setzt mit der Tatsache ein, dass Religion psychische Probleme machen kann, und führt historische und aktuelle Fallbeispiele religiöser Psychopathologien an. In einer Zeit, wo eher die gesundheitsförderlichen Aspekte des Glaubens betont werden, ist die Erinnerung an negative Wirkungen von Religion als Angst, Depression und Neurose wichtig und zu unterstützen. Allerdings führt es in die Irre, der Pastoralpsychologie unter Bezugnahme auf eine Publikation (Klessmann 2004) vorzuhalten, für sie scheine es keine ekklesiogenen Neurosen mehr zu geben, und daran einen Hauptunterschied zwischen Religionspsychologie und Pastoralpsychologie festzumachen.
Ohne Zweifel sitzt die Religionspsychologie zwischen verschiedenen Stühlen, und ihre fehlende institutionelle Anbindung in Deutschland erschwert ihre Profilierung. Allerdings erweist L. sich und seinen Lesern keinen Gefallen, wenn er selbst nur eine vage eigene Standortbestimmung vornimmt, von der aus er die Religionspsychologie darstellt. Seine öfter als »tiefenhermeneutisch« be­zeich­nete Position wird nirgends näher dargelegt. Damit wird eine psychoanalytische Sichtweise favorisiert – nur welche? In der gegenwärtig recht angeregten Fachdebatte um eine psychoanalytische Religionspsychologie konkurrieren die Symbol-, Narzissmus-, Objektbeziehungs- und Bindungstheorie um die Deutungsmacht hinsichtlich religiöser Phänomene. Die eigenwillige Selbstbezeichnung einer tiefenhermeneutischen Religionspsychologie L.s erlaubt keine klare Zuordnung und verwirrt eher, als dass sie Klarheit stiftet.
Auch andere Grundfragen werden zu holzschnittartig, vereinfacht und zum Teil schlicht falsch dargestellt. So trifft es nicht zu, dass die Religionspsychologie sich 1977 in zwei unterschiedliche Richtungen aufgespalten habe (einen englischsprachigen, empirisch orientierten und eine deutschsprachigen Zweig, »der vorrangig von Theologen dominiert wird«). Hier sind entscheidende Veränderungen seit 2001 nicht zur Kenntnis genommen worden. Auch die vehemente Ablehnung des Konzepts »Spiritualität« und das Festhalten am Begriff der Religiosität spiegelt nicht den aktuellen Forschungsstand wider und vermag nicht zu überzeugen, zumal dieser dann so weit gefasst wird, dass dort auch Areligiosität und Nihilismus einbezogen werden.
Nach einem historischen Abriss referiert L. als relevante psychologische Theorien ausführlich psychoanalytische Ansätze (Kapitel 4), religiöse Theorien in der Entwicklungspsychologie (Kapitel 5), der Gesundheitspsychologie (Kapitel 6) und Persönlichkeitspsychologie (Kapitel 7). Die folgenden Kapitel widmen sich weiteren religionspsychologischen Themen wie dem Umgang mit Tod und Sterben (Kapitel 8), mit Vorurteilen bzw. dem Antisemitismus (Kapitel 9) und dem Aberglauben (Kapitel 10). In einem sehr kurzen, eineinhalbseitigen Rück- und Ausblick kommt L. zu dem Ergebnis, dass der Forschungsstand hinsichtlich vieler Fragestellungen un­einheitlich und ambivalent sei. Religiosität sei vielgestaltig und von vielen Faktoren abhängig, und eine »tiefenhermeneutische« Sichtweise könne dazu beitragen, »sich über die unbewussten Elemente seines Denkens auch im Religiösen aufzuklären«.
Von einer 400 Seiten starken Einführung in die Religionspsychologie darf man heute mehr erwarten. Für das Misslingen dieses Versuchs ist zunächst die unklare psychologische Perspektive von L. verantwortlich. Weiterhin sind wichtige Arbeiten von Kollegen übersehen worden. Die im Buch dargestellten Zusammenhänge entsprechen in manchen Fällen nicht mehr dem aktuellen Wissensstand. Hier hätte unbedingt die umfangreiche und differenzierte amerikanische Forschungslage mehr Berücksichtigung finden müssen. Aber auch wichtige deutschsprachige Literatur zur Religionspsychologie fehlt: Der historische Abriss hätte bei Berück­sichtigung von Heines Arbeit anders akzentuiert werden müssen. Die neuere Diskussion um das Profil einer psychoanalytischen Re­ligionspsychologie wird übergangen. Dass in diesem Abschnitt hin­gegen W. Reichs Religionspsychologie als »ein wesentlicher Beitrag zur Diagnose von Religionspsychopathologien« (201) gewürdigt wird, ist eine sehr subjektive und schwer nachvollziehbare Einschätzung, die von kaum einem Kollegen geteilt werden dürfte. Weiterhin ist bedauerlich, dass wichtige psychologische Fachliteratur zum Thema nicht berücksichtigt wurde. In dem umfangreichen Kapitel über Religiosität und Gesundheit fehlt die Bezugnahme auf das deutschsprachige Standardwerk zum Thema (Zwingmann/Moosbrugger 2004, siehe die Rezension von K. Baumann in Münchner Theologische Zeitschrift, 57 [2006]). Die dort entwickelten Querverbindungen der Religiosität zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität hätten den Gedanken L.s wichtige Impulse geben können.
Im Kapitel über die Persönlichkeit wurde das mittlerweile breit rezipierte multidimensionale Messmodell der Religiosität von S. Huber (2003) übergangen (siehe die Rezension im Marburg Journal of Religion 12 [2007]). Unter Einbeziehung dieses vielversprechenden Ansatzes hätte L. viele Fragen des Textes beantworten können. Die letzten beiden Kapitel über Vorurteil und Aberglaube hätten sehr gewonnen, wenn dort die wichtigen Einsichten Hemmingers berücksichtigt worden wären, der in seiner Religionspsychologie diesen beiden Themen ebenfalls jeweils ein Kapitel gewidmet hat.
Die menschliche Religiosität birgt zahlreiche psychologische As­pekte und Facetten in sich, die genau und behutsam zu untersuchen und dadurch besser zu verstehen sind. Leider lässt das Buch an vielen Stellen die gebotene Sorgfalt und die nötige Fachkenntnis vermissen.