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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

101–103

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian

Titel/Untertitel:

Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XI, 303 S. gr.8° = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 2. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-149011-8.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD haben seit Anfang der 1970er Jahre die hohe Wertschätzung der Kasualien dokumentiert. Parallel dazu ist in der praktisch-theologischen Forschung das Interesse an der Erkundung der kulturellen und le­bensweltlichen Einbindung religiöser Praxis gewachsen. Beides führte zu einer Zunahme der Veröffentlichungen im Bereich der Kasualtheorie; denn die Aufgabe der Vermittlung von individuellen und kulturellen Bedürfnislagen und theologischem Anspruch in den Kasualhandlungen fordert besonders zur Reflexion heraus.
Von den bisher vorliegenden Monographien und Aufsätzen hebt sich das Buch von Christian Albrecht, der an der Universität Erfurt als Professor für Evangelische Theologie und Kulturgeschichte tätig ist, als ein »primär wissenschaftsgeschichtlich angelegte[s] Lehr- und Studienbuch« ab, das Studierenden wie Pfarrern und Pfarrerinnen eine grundlegende theoretische Orientierung bieten will (vgl. 8 f.). Dieser Ansatz wird konsequent durchgehalten insofern, als das Buch auf seinen 264 Textseiten verlässlich in Ge­schichte, Wissenschaftsgeschichte und Konzeptionen der Kasualtheorie einführt, den Fragen der praktischen Gestaltung hingegen vergleichsweise nur geringen Raum gibt. Dem Anspruch des Lehr- und Studienbuchs wird auch das umfangreiche Literaturverzeichnis gerecht, in dem nicht nur die Debatte der letzten ca. 40 Jahre umfassend dokumentiert wird, sondern das auch zahlreiche Titel aus der Geschichte der Kasualtheorie aus dem 19. und frühen 20. Jh. einbezieht.
Das Buch enthält drei große Kapitel, von denen das letzte den weitaus geringsten Umfang hat: 1. Zur Geschichte der Kasualien, 2. Zur praktisch-theologischen Bedeutung der Kasualien, 3. Zu Themen und Problemen der Gestaltung von Kasualien.
Im ersten Kapitel findet sich erstmals eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung der Kasualtheorie, in der auch die weniger bekannten Entwürfe des 19. Jh.s gewürdigt werden. Man vermisst allerdings, dass die unterschiedlichen Konzepte auch im Zusam­menhang der jeweiligen kulturgeschichtlichen Situation dargestellt und interpretiert werden. Gerade weil Kasualtheorie beweglich auf die Veränderungen der Lebenswelt reagiert, lässt eine rein ideengeschichtliche Darstellung der verschiedenen Ansätze manche Fragen offen. Insgesamt aber wird im ersten und auch in Teilen des zweiten Kapitels ein umfassender und gut systematisierter Überblick über die Kasualtheorie und über die Geschichte der einzelnen Kasualien geboten. Was bisher nur in Einzelstudien und Aufsätzen zur Verfügung stand, ist hier zusammengeführt worden.
In einer »Orientierung über die Deutehinsichten« (Kapitel 2.1) werden die unterschiedlichen Interpretationsperspektiven, die in der Kasualtheorie anzutreffen sind, dargestellt und auf ihre Leis­tungsfähigkeit hin reflektiert. Dieser Teil des Buches hätte von einer großzügigeren Strukturierung und strafferen Darstellung profitiert.
Kapitel 2.2 entfaltet neben dem Grundverständnis aller das Verständnis der einzelnen Kasualien von ihrer spezifischen Vermittlungsaufgabe her: Dem kirchlich-theologischen Sinn, der jeweils im Gottesdienst verdichtet symbolisiert ist, wird jeweils ein strukturanaloger lebensgeschichtlicher Sinn zugeordnet. Die Konfirmation z. B. interpretiert A. von der Fürbitte der Gemeinde her. Sie ziele nicht auf die gegenwärtige Entscheidung der Heranwachsenden zum christlichen Glauben, sondern vertraue auf deren zukünftige Entwicklung. Das aber sei vergleichbar mit der Erwartung, die von Gesellschaft und Familie insgesamt auf die Jugendlichen gerichtet werde, dass sie nämlich zunehmend selbstständig und in Verantwortung für die gesellschaftlichen Belange ihr Leben gestalten werden. Das ist durchaus plausibel. Die Abschnitte über Trauung und Bestattung überzeugen insofern weniger, als sie wenig verraten über die Irritationen der kirchlichen Praxis durch die kulturellen Veränderungen, die im Feld der privaten Lebensformen und im Zusammenhang des Umgangs mit den Toten in den letzten Jahren besonders deutlich zu erkennen sind.
Leitend für die gesamte Darstellung A.s ist die Auffassung, dass die Kasualpraxis für die protestantische Volkskirche von großer Bedeutung ist: Hier entscheide sich – A. folgt dem Konzept Dietrich Rösslers einer dreifachen Gestalt des Christentums in der modernen Gesellschaft –, ob es gelinge, individuelle Religiosität, kirchliches Selbstverständnis und Öffentlichkeit zueinander in Beziehung zu setzen. Diese These ist an sich nicht originell, sondern in den letzten Jahren von Wilhelm Gräb u. a. wiederholt akzentuiert worden. Originell aber ist es, die Kasualien als »Scharnierstück« zu bezeichnen, das die Funktion habe, zwischen Individuum, Kirche und Gesellschaft zu vermitteln (vgl. 5). Die Metapher des Scharniers ist besonders passend, weil sie die notwendige Beweglichkeit im Verständnis und im Vollzug der Kasualien ins Bild setzt, die aus den Veränderungen ihrer kulturgeschichtlichen Bedingungen re­sultiert. Zugleich aber macht das Bild auch die sachliche Notwendigkeit deutlich, die drei Größen Individuum, Kirche und Gesellschaft gleichermaßen miteinander im Spiel zu halten. Wo der Bezug zu einer von ihnen verloren geht, hat das Scharnier seine Funktion verloren.
Der mit dem Bild des Scharniers implizierte Begriff der Vermittlung bestimmt auch das theologische Grundverständnis der Kasualien: Es gehe um »die Vermittlung zwischen individueller Lebensgeschichte und christlich-kirchlicher Deutungstradition: Kasualien leisten die Rekonstruktion von lebensgeschichtlich manifester Abhängigkeitserfahrung mit dem Ziel der Anerkennung und Relativierung individuellen Geschicks im Horizont der allgemeinen und unverfügbaren Bedingungen des Lebens« (194). Mit diesem Bezug der Kasualien auf die Lebensgeschichte und ihre rechtfertigungstheologische Deutung schließt A. sich dem breiten Konsens der gegenwärtigen Theoriedebatte an. In seiner Akzentuierung des Momentes der Abhängigkeitserfahrung allerdings betont er nicht nur die Erfahrung erlebten Mangels an den Rändern des Lebens, sondern ebenso die Momente erlebter Erfüllung (198 f.). Dieser Akzent erscheint mir wichtig, denn die Kasualgottesdienste sind nicht nur bestimmt von den als problematisch empfundenen Momenten der Lebensgeschichte, sondern auch von dem Dank für geschenktes, gesegnetes Leben.
Im Rahmen seiner inhaltlichen Bestimmung plädiert A. durchgehend dafür, die Kasualien als Teil kirchlicher Praxis mit eigenem Recht zu verstehen (z. B. auch in seinem – im Vergleich mit dem sonst fast zu moderaten Ton – scharfen Votum, die Taufe als eigenständigen Kasualgottesdienst zu vollziehen [246–248]). Die Akzeptanz der individualisierten und kirchendistanzierten Frömmigkeit, die im Kontext der Kasualien begegnet, wird als grundlegende Voraussetzung für eine angemessene Haltung des Pfarrers/der Pfarrerin in diesem Handlungsfeld beschrieben.
Insgesamt entsteht im Laufe der Lektüre die Frage, ob die solide Darstellungsform des Lehrbuches nicht die Probleme der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation für die Kasualpraxis zu stark in den Hintergrund stellt. Weder werden die auch in der Kasual­praxis unübersehbaren Einbrüche der volkskirchlichen Selbstverständlichkeiten thematisiert noch die Herausforderungen einer religiös pluralen und medialisierten Lebenswelt. Auch theoretische Zugänge, die in der jüngsten Vergangenheit für das Verständnis der Kasualien wichtig geworden sind – so z. B. die Ritualtheorie oder systemische Zugänge in der Seelsorge –, streift A. nur am Rand. Der primär wissenschaftsgeschichtliche Zugang führt dazu, dass die Gegenwart seines Gegenstandes deutlich schwächer belichtet wird.
In vieler Hinsicht aber erfüllt das Buch ein Desiderat der Praktischen Theologie, weil es in Geschichte und gegenwärtige Diskussionslage eines Feldes historisch und systematisch einführt, das in den letzten Jahrzehnten zentrale Bedeutung gewonnen hat.