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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

98–100

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Unger, Tim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was tun? Lutherische Ethik heute.

Verlag:

Hannover: Lutherisches Verlagshaus 2006. 311 S. 8° = Bekenntnis, 38. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-7859-0945-4.

Rezensent:

Sibylle Rolf

Was heißt eigentlich lutherische Ethik, und welche Handlungskonsequenzen ergeben sich aus der lutherischen Tradition für Kirche und Gesellschaft der Gegenwart? Der von Tim Unger he­rausgegebene Sammelband »Was tun? Lutherische Ethik heute« dokumentiert die Beiträge, die von lutherischen Theologen bei Be­ratungen des Theologischen Konvents Augsburgischen Be­kennt­nisses 2004 und 2005 zur Diskussion gestellt wurden.
Den Herausforderungen entsprechend, die sich aus dem grundsätzlichen Wert- und Orientierungsbedarf der Gegenwart bei gleichzeitiger notwendiger kirchlicher Selbstbeschränkung in Zeiten leerer Kassen ergeben, bieten die verschiedenen im Sammelband vereinten Aufsätze ein vielfältiges Bild: Exegetische Beiträge stehen neben fundamentaltheologischen Überlegungen zum reformatorischen Freiheitsbegriff und zu der lutherischen Zweireichelehre, eine theologiegeschichtliche Abhandlung zum Verhältnis von Gebot und Gewissen bei Ritschl, Holl und Hirsch ne­ben insgesamt fünf materialethischen Beiträgen zur Friedens- und Wirtschaftsethik, auch im Hinblick auf die allgegenwärtige Globalisierung. Weitere zentrale und gegenwärtig äußerst um­strittene materialethische Fragestellungen, zu denen lutherische Ethik et­was zu sagen hätte, wie die Medizin- und Bioethik, Familienethik, Sexualethik oder Umweltethik, werden vermisst. Daher erscheint mir der Aufbau des Sammelbands von einiger Kontingenz; nicht klar geworden ist mir bis zum Schluss der Lektüre, warum genau diese Themen in einem Sammelband vereint worden sind, zumal in der Friedens- und Wirtschaftsethik mit einem solchen Gewicht, und andere noch nicht einmal benannt werden.
Trotz dieses empfundenen Desiderats ist der Aufbau des Buches konsistent – von der Exegese zunächst des Alten, dann des Neuen Testaments wenden sich die Beiträge fundamentaltheologischen, fundamentalethischen und schließlich materialethischen Fragestellungen zu.
Klaus Grünwaldt und Christof Landmesser arbeiten alt- und neutestamentliche Perspektiven für eine lutherische Ethik heraus. Bei dem Text von Grünwaldt scheint mir zentral, dass der Mensch als Ebenbild Gottes, der mit der Fürsorge für die Erde beauftragt ist, für das Alte Testament als freies Wesen gilt, das von JHWH befreit worden ist, um in Gerechtigkeit vor Gott und den Menschen zu leben. Welche Auswirkungen die im Gegensatz zu Calvin formulierte lutherische Erkenntnis, dass das Alte Testament als Gesetz für den Christen nicht (mehr) gilt, auf die luthe­rische Ethik des Alten Testaments hat, lässt der Autor jedoch offen.
Der Text von Landmesser untersucht paulinische und matthä­ische Texte und arbeitet als zentral für die Ethik des Paulus vor allem das ein neues Handeln ermöglichende Rechtfertigungshandeln Gottes am Sünder heraus, in das der Mensch mit seiner Taufe eingesenkt wird. »Gerecht« ist darum, wer ein intaktes Verhältnis zu Gott hat. Nach dem Matthäusevangelium bezeichnet »Gerechtigkeit« die Gemeinschaftstreue zwischen Gott und Mensch, die sich auch auf das Verhältnis von Menschen zueinander er­streckt, so dass nach dem Matthäusevangelium das Streben nach Ge­rech­tigkeit ein zentrales Merkmal der Jünger Jesu ist. Dass der Glaubende in Gemeinschaftstreue mit Gott und Menschen umgehen soll, ist ein zentrales gemeinsames Motiv der neutestamentlichen Schriften. Der Bezug zu lutherischer Ethik wird am Ende des Tex tes nicht mehr aufgenommen, findet aber in der lutherischen Rechtfertigungslehre seine Entsprechung. Dieser Bezug hätte deut­licher ausgearbeitet werden können.
Zwei fundamentalethische Beiträge schließen sich an die exegetischen Überlegungen an: Zunächst bestimmt Dietrich Korsch das Verhältnis von reformatorischem Freiheitsverständnis und mo­derner Sittlichkeit anhand von Luthers Freiheitsschrift (1520) und Kants Konzeption einer verpflichtenden Moral. Im Verständnis der menschlichen Autonomie bestimmt er den Bezugspunkt von Luthertum und Kantianismus: »Christliches Handeln ist autonomes Handeln. Dass Gott in uns wirkt, ist gerade die Bedingung für eine eigene Selbstbestimmung.« Dabei ist die Autonomie aber als abgeleitete Autonomie zu verstehen, die ihren Ursprung nicht in sich selbst hat. An den Grenzen des Lebens, etwa bei der Frage nach Sterbehilfe und Sterbebegleitung, werden die Begrenztheit menschlicher Autonomie und ihre Abgeleitetheit deutlich, allerdings nicht die Grenzen des Autonomiebegriffs selbst in Auseinandersetzung mit Luthers Freiheitsbegriff.
Reiner Anselm würdigt im Anschluss daran die lutherische Zwei-Regimenten-Lehre (spricht dabei allerdings konsequent von der Zwei-Reiche-Lehre) und ihre Weiterentwicklung durch die EKD-Demokratie-Denkschrift von 1985. Er bestimmt es als das besondere Leistungspotential der Zwei-Regimenten-Lehre, Religion und Ethik, »Glaubensüberzeugung und Weltgestaltung« (101) voneinander zu unterscheiden und einander zuzuordnen. Damit könnten die Auslegungskonflikte, die sich im 20. Jh. an der Zwei-Regimenten-Lehre entzündet haben, beigelegt und eine »re­ligiöse Aufladung des Politischen« (102) könnte vermieden werden, weil es dem spezifischen lutherischen Interesse entspreche, »die Reichweite ethischer Herrschaft zu begrenzen« (93).
Der theologiegeschichtliche Beitrag von Arnulf von Scheliha nimmt eine Scharnierfunktion im Buch ein. Er stellt das Verhältnis von Gebot und Gewissen im Anschluss an Ritschl, Holl und Hirsch dar und unternimmt eine systematisch-theologische Würdigung. Der Gewissensbegriff hat erst im 19. und 20. Jh. eine maßgebliche Rolle in der lutherischen Theologie zu spielen begonnen – als der Neuprotestantismus sich vor allem ethisch an Luthers Theologie orientierte.
Exemplarisch für die Neuorientierung sind Ritschl, Holl und Hirsch, die sich mit ihrem Impetus der sittlichen Allgemeingültigkeit als von kantischer Ethik geprägt erweisen. Der Gewissensbegriff wird dabei vor allem deswegen als zentral für lutherische Ethik bestimmt, weil das Gewissen mit der sittlichen Freiheit des Einzelnen konnotiert ist. »Als Gewissen vollzieht sich die Freiheit der verantwortlichen Persönlichkeit.« (129) Die gleichzeitig bestehende Notwendigkeit einer religiösen »Freiheit von Gebot und Gewissen« (129), die schon von Luther gesehen worden sei, birgt ethisches Potential, das noch gehoben werden kann.
Der zweite Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit mate­rialethischen Fragen zur Friedensethik, zur Wirtschaftsethik und zur Globalisierung. In den beiden Beiträgen zur Friedensethik von Volker Stümke und Götz Planer-Friedrich werden Luthers Äußerungen zur Kriegsführung sowie die Entwicklung der Position der EKD nach der Wiedervereinigung dargestellt und gewürdigt. Ein expliziter Rekurs auf die Terrorismus-Frage wird dabei vermisst, wohl aber werden einige Umrisse einer neuen friedensethischen Standortbestimmung unter dem Titel »Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden« gezeichnet, nach denen Krieg immer als ultima ratio und als Scheitern von Politik anzusehen ist.
Wirtschaftsethik und die Probleme der Globalisierung nehmen einen vergleichsweise breiten Raum im Sammelband ein. Der Beitrag von Hans G. Ulrich zur Wirtschaftsethik gehört dabei eher zu den fundamentalethischen Ausführungen, in denen der Autor Luthers Standpunkt beim Wirtschaften besonders konzentriert auf Luthers Stellung zur Habsucht bestimmt. Juan Pedro Schaad und Hermann Sautter widmen sich mit der Globalisierung eher materialethischen Themen, bei denen ich den Bezug zur lutherischen Ethik aber weitgehend vermisst habe.
Insgesamt ist der Band eine Zusammenstellung von Vorträgen, deren innerer Zusammenhang nicht immer deutlich wird, und bietet keine umfassende Einführung oder Darstellung einer lutherischen Ethik. Dazu hätten weitere materialethische Fragen ge­streift werden müssen. Dennoch bietet er Spotlights auf zentrale Fragestellungen und erste Hinführungen zur Thematik. Der Selbstanspruch eines Beitrags zur Frage, »was eine lutherisch ge­prägte Ethik ausmacht« (7), kann als eingelöst gelten.