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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

96–98

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg, u. Christoph Rehmann-Sutter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zeit­horizonte des Ethischen. Zur Bedeutung der Temporalität in der Fundamental- und Bioethik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 267 S. gr.8°. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-17-019112-9.

Rezensent:

Jens Beckmann

Wenn in der Ethik Handlungsvollzüge reflektiert werden sollen, steht Ethik in der Spannung, die »Temporalität der Praxis« ebenso zu beachten wie die »Atemporalität der Gründe« (7). Regeln, Normen und Prinzipien beanspruchen überzeitliche Gültigkeit. Aber ist diese Forderung überhaupt realistisch und wünschenswert? Die Frage stellt nach Auffassung von Georg Pfleiderer und Christoph Rehmann-Sutter »eines der zentralen Grundlagenprobleme der zeitgenössischen Ethik« dar. Dieser Band verfolge das Ziel, eine »notwendige interdisziplinäre Diskussion zu eröffnen«, um den »zeitlichen Horizont« in der Ethik zu konturieren (8). Er versammelt in fünf Abschnitten insgesamt 16 Beiträge, die im Rahmen des Forschungssymposiums »Zeithorizonte des Ethischen« 2003 vorgetragen und diskutiert wurden.
Als Zugang dienen »Vergangenheits- und Zukunftskulturen« (8), die unterschiedliche Zeitkonzepte verfolgen: retrospektive und prognostische. Allerdings könnten diese Zeitkonzepte nur strukturierend wirken, da sie unter den Bedingungen menschlicher Exis­tenz weder symmetrisch noch linear verliefen. In Lebensgeschichten seien die Vorstellungen von vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Zeit miteinander verwoben. Als »Schlüsselbegriff der retrospektiven Ethikkultur« (9) identifizieren die Herausgeber die Schuld. In der auf Zukunft gerichteten Diskussion stünden die Begriffe Verantwortung und Risiko im Mittelpunkt. Die Diskussion um diese Begriffe wird wiederum zeitabhängig gedacht: Vorneuzeitlich sei das »Schuldparadigma« beherrschend, neuzeitlich das »Verantwortungsparadigma« (9).
Mit Hilfe dieser Begriffe sind die wichtigsten Fixpunkte der »Zeithorizonte des Ethischen« markiert, auf denen fundamental- und bioethische Perspektiven entfaltet werden sollen. Dies vollzieht sich in fünf Kapiteln: I. Grundlegende Perspektiven; II. Verantwortung, Risiko, Schuld; III. Erzählen und erinnern) hier geht es um die Möglichkeiten narrativer Ethik); IV. Körperlichkeit und Medizin; V. Vergangenheit und Eugenik – im Mittelpunkt steht das Ineinander von retrospektiven und prospektiven Argumenten im Bereich der Bioethik. Diesen ethischen Bereich haben die He­rausgeber einerseits auf Grund seiner Aktualität in der ethischen Diskussion und andererseits wegen der in ihm wirksamen vergangenheitsbezogenen Argumente ausgewählt.
Die Stoßrichtung des Bandes wird besonders an folgenden Beiträgen deutlich: Georg Pfleiderer versteht »Temporalität als Leitthema theologischer Ethik«. Mit Hilfe der beiden Chiffren »Platonismus« und »Sophismus« versucht er in seinem Beitrag auf die Besonderheit theologischer, respektive protestantischer Ethik hinzuweisen. Ein platonisches (Miss-)Verständnis schaue nur auf das Ewig-Geltende. Ein sophistisches (Miss-)Verständnis verstehe die Bildung von Normen vor allem als »Wahrnehmung situativer Besonderheiten« (25). Demgegenüber will Pfleiderer mit einem weiten, historisch angelegten Bogen von der neutestamentlichen über die reformatorische bis hin zur neuzeitlich-protestantischen Ethik zeigen, »dass in Bezug auf das christliche Ethos und die ihm gewidmete theologische Ethik tatsächlich von einem substantiellen Inhärenzverhältnis von ethischer Normativität und Zeitlichkeit ge­sprochen werden muss und kann« (24). Seine Schlusspointe mag durchaus ein wenig verwundern, beschreibt aber zugleich eine mögliche Verhältnisbestimmung von Norm und Zeit: Er zieht eine Parallele zwischen Nietzsches Übermenschen, an dem sich der Normenhorizont des Menschen auszurichten habe, und dem neuen Adam. In beiden Denkfiguren sieht er die Orientierung des Menschen am Begriff der eigenen Zukunft – bei Nietzsche jedoch ohne den archimedischen Punkt, ohne Jesus Christus. Für die Zukunft sieht er deshalb die Diskussion darum kreisen, wie dieser Bezug in der Ethik erkennbar werden kann.
Christoph Rehmann-Sutter setzt sich in seinem Beitrag mit der Empfindung der Schuld und daran anschließend mit einer Ethik der Retrospektive auseinander. Er schlüsselt anhand der alltäglichen Bitte um Entschuldigung die »Feinmechanik« von Schuld und Verzeihen auf. In einer daran anschließenden Theorie der Schuld bemüht er sich, an den ursprünglichen Gehalt des Schuldbegriffs als »die Wahrnehmung und die Anerkennung des einem Anderen zugefügten Leides« zu erinnern. Schuld sei dann kein »Verinnerlichungsmechanismus« mehr, sondern Gegenstand ethischer Reflexion. Im Ergebnis kann Rehmann-Sutter so nachweisen, dass gerade durch die Erinnerung Vergangenes revitalisiert wird: »Die Vergangenheit hat somit zweifellos eine genuin moralische Dimension.« (113) Es entsteht die »Ethik der Retrospektion«, die »das Wissen von der Vergangenheit in eine gute Beziehung zum Leben in der Gegenwart zu bringen« (119) versucht.
Originell ist der Beitrag von Rouven Porz, der der Frage nach dem richtigen oder falschen Zeitpunkt einer präsymptomatischen Gendiagnostik nachgeht. Hierzu zieht er als Metapher und heuris­tisches Instrument die Heisenbergsche Unschärferelation heran. Bei der Gendiagnostik entstehe eine Zukunftsprognose, die zu­nächst nicht die Zukunft ändere – die Krankheit ist noch nicht symptomatisch erkennbar –, sondern die erlebte Gegenwart. Im Ergebnis werde aber nun die Prognose »unscharf«, weil sich auch die Zukunft durch die Gegenwart ändere – ausgelöst durch die psychische Wirkung der Diagnose. Analog zu Heisenbergs Experiment werfe die Wechselwirkung von Zukunft und Gegenwart die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Untersuchung, dem kairos, auf. Anhand von Patientenbeispielen weist Porz nun nach, dass gerade das (interpretierende) Verständnis von Entscheidungssituationen und menschlichen Beziehungen für die Bestimmung des kairos bedeutsam ist.
In der Untersuchung des von ihm so bezeichneten »Eugenik-Arguments« (218) zeigt Johann S. Ach, wie terminologische, historische und normative Aspekte in der bioethischen Diskussion miteinander verwoben sind. Deutlich wird, dass nicht von dem einen Eugenik-Argument gesprochen werden kann, sondern allenfalls von einer variantenreichen und interessengeleiteten Verwendung. »Eugenik« sei ein Begriff, dessen negative Konnotation historisch bedingt ist: Seine Verwendung für die nationalsozialistischen Verbrechen lasse ihn als »discussion stopper« (231) in der bioethischen Diskussion wirksam sein. Dem Begriff hafte offensichtlich eine Un­schärfe in der Verwendung an und zugleich ließen sich diese Begriffsdifferenzen mit den unterschiedlich vorgetragenen Be­hauptungen über den historischen Zusammenhang korrelieren. Damit werde jedoch eine Diskussion notwendig, ob und inwiefern überhaupt Parallelen in der gegenwärtigen bioethischen Diskussion zu der schrecklichen historischen Erfahrung bestünden.
Das Buch entlässt die Lesenden zumindest mit zweierlei Er­kenntnissen: Zunächst ist neben dem schon seit langem diskutierten Kulturbezug in der ethischen Reflexion unbedingt ein Zeithorizont mit zu beachten. Dieser äußert sich in ganz unterschiedlicher Weise: sowohl in der Entstehung und Reflexion ethischer Argumente als auch im Umgang mit ihnen. Des Weiteren wird unter dem Zwang, sich der Zukunft prognostisch zuzuwenden und Folgenabschätzung zu betreiben, der Blick in die Vergangenheit notwendiger denn je, um so die implizit vorhandenen Präferenzen transparent zu machen. Für beides leistet dieses Buch einen wertvollen Beitrag.