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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

94–95

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dungs, Susanne, Gerber, Uwe, Schmidt, Heinz, u. Renate Zitt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Soziale Arbeit und Ethik im 21. Jahrhundert. Ein Handbuch.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 632 S. gr.8°. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02412-4.

Rezensent:

Ralf Evers

Der erklärte Wille der Herausgeber des Handbuches »Soziale Arbeit und Ethik im 21. Jahrhundert« ist es, »einen umfassenden Überblick über den Zusammenhang von Sozialer Arbeit und Ethik« zu bieten (9). Nötig wird dieser Überblick weniger, weil die Diskussion der vergangenen Jahre und ihre Ergebnisse darzustellen sind, sondern weil das 21. Jh. neue Herausforderungen mit sich bringe. Die Soziale Frage ist neu zu buchstabieren. Ausgangspunkt der Herausgeberüberlegungen ist demgemäß die durch Globalisierung und europäische Einigung verursachte und beschleunigte umfassende Transformation des Sozialen in der Spätmoderne. Sie führe zu neuen Problemlagen für Betroffene (10), vor allem aber zu einer neuen Qualität in der professionellen Selbstverständigung der Sozialen Arbeit. Ethische Selbstverständigung, so die These der Herausgeber, sei die Instanz, »die die komplexen Lebensverhältnisse analysiert, die erforscht, wie sich Soziales (!) Handeln in ungewissen Praxen vollzieht und Erkenntnis darüber gewinnt, wo­durch sich eine gute professionelle Praxis in unsicheren Zeiten auszeichnet« (11).
Damit ist eine Perspektive angedeutet: Durch die Herausbildung einer eigenen »Sozialphilosophie« könne die Soziale Arbeit einen Weg aus der »selbst- und fremdverordnete[n] Bescheidenheit« einer »Semiprofession« (12) finden und den Herausforderungen des 21. Jh.s entsprechen. Mit 37 Beiträgen will das Handbuch seinen Beitrag dazu leisten und gleichermaßen ein fundiertes Hintergrundswissen über exemplarische Positionen sozialarbeitswissenschaftlicher Selbstverständigung der letzten 50 Jahre entwickeln wie einen Überblick über ethische Positionen in ihrem Verhältnis zur Sozialen Arbeit bieten wie die Modifizierungen des Sozialen angesichts von Globalisierung und europäischer Einigung analysieren (9). Den Ansprüchen, die sich mit dem ambitionierten Vorwort und seinen programmatischen Weichenstellungen verbinden, wird der Sammelband in seiner breiten Zielstellung und in der Fülle der Einzelbeiträge nicht gerecht. Der Charakter eines Handbuchs ist nicht gegeben; dafür bietet der Band aber eine ganze Reihe bemerkenswerter und anregender Einzelbeiträge zum Thema »Ethik und Soziale Arbeit«, von denen – pars pro toto – einige hervorgehoben seien:
So skizziert Silvia Staub-Bernasconi Grundannahmen ihres eigenen Ansatzes einer »Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession« unter Bezugnahme auf eine systemtheoretisch basierte Ethik. ›Systemische‹ Ethiken – nicht ›systematische Ethiken‹, wie es fälschlicherweise in den Kopfzeilen des Handbuchs heißt – stellen einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung von Menschenwürde dar, weil sie mit der Frage nach dem Vorrang des Individuums bzw. der Gesellschaft brechen. Ihre Begründungsfiguren machen es möglich, »die Belange des Individuums als Mitglied einer (un-)gerechten, die Menschenwürde (ver-)achtenden Gesellschaft« ernst zu nehmen, »ohne die sich auf das Individuum oder die Gesellschaft beziehenden Werte absolut zu setzen« (280). – Ähnlich gehaltvoll skizziert Cornelia Füssenhäuser die ethischen Perspektiven einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (vor allem 297 ff.) und unterstreicht damit, dass die ethische Diskussion der sozialarbeitswissenschaftlichen Selbstverständigung nicht erst im 21. Jh. aufkommt.
Beide genannten Beiträge stehen für exemplarische Theoriebildungen der Sozialen Arbeit. Ebenso beispielgebend wie instruktiv für den ethischen Diskurs in einem Handlungsfeld ist der Beitrag von Ulfrid Kleinert »Soziale Arbeit im Bereich der Justiz« (479 ff.). Kleinert gibt gleichermaßen einen Überblick über die sozialarbeiterischen Herausforderungen des Handlungsfelds wie eine systematisierte ethische Erschließung des Handlungsfelds – fokussiert auf professionsethische Zusammenhänge. Ähnlich hilfreich sind Andrea Schiffs und Hans-Ullrich Dallmanns – allerdings an ganz anderem Ort im Handbuch positionierte – Darstellungen zur »Ethik der Pflege« (62 ff.) und Johannes Eurichs Skizze einer »Suche nach gerechten Verhältnissen für Menschen mit Behinderung« (405 ff.). Eine Fülle von Beiträgen entwickelt den ethischen Diskurs in der Auseinandersetzung mit der Praxis. Allerdings ist die Orientierung an professionell-fachlichen Standards oder der Nachweis der Wirksamkeit von Interventionen nicht mit Ethik gleichzusetzen, wie es die Überlegungen von Matthias Hüttemann und Peter Sommerfeld zur »Evidence-based Social Work« (386 ff.) nahe legen.
Ausdrücklich hervorzuheben sind schließlich die ambitionierten Beiträge von Susanne Dungs und Heiko Kleve. Kleve setzt seine Überlegungen zu einer Sozialen Arbeit in der Postmoderne fort, indem er die konstitutiven Ambivalenzen der Sozialen Arbeit – Hilfe versus Nichthilfe, Lebensweltorientierung versus Ökonomisierung, individuelle Eigenverantwortung versus gesellschaftliche Bedingtheit sozialer Probleme – als ethische Dilemmata deutet (108ff.). Er formuliert mit den Forderungen nach Verantwortungsübernahme, Optionssteigerung und Dekonstruktion drei ›Ethik-Imperative für die Soziale Arbeit‹, die allerdings ihrerseits kritisch hinterfragt werden müssen und eine ›stringente Dekonstruktion‹– Kleve schlägt das Modell des Tetralemmas vor (120 f.) – erforderlich machen. – Auch Susanne Dungs’ Überlegungen zu einem »Spielsinn der Praxis« (87 ff.) rekurrieren auf eine dekonstruktive Ethik, um der eigentümlichen Doppelung von Transparenz und Ungewissheit zu entsprechen, die die Gesellschaft der radikalisierten Moderne kennzeichnet. Im Rückgriff auf Hegel und Bourdieu fordert sie einen »Überstieg von der Theorie zum Spielsinn der Praxis, vom Erkennen zum Anerkennen des ungewiss mich ansprechenden Anderen« (105) zu wagen.
Die beiden letzten Beiträge entsprechen auf ausgesprochen hohem Niveau dem Wunsch der Herausgeber nach der Herausbildung einer neuen Sozialphilosophie. Ebenso deutlich aber sprengen sie den Rahmen eines Handbuchs, das Einleitung, Hintergrundwissen und Überblick verspricht. Der Sammelband vereinigt eine Fülle von Anstößen und diskutierenswerten Weichenstellungen. Anschlussdiskussionen sind wünschenswert, für die ethische Selbstverständigung der Sozialen Arbeit wie für ihre Praxis.