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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

90–93

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sommer, Andreas Urs

Titel/Untertitel:

Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant.

Verlag:

Basel: Schwabe 2006. 582 S. 8° = Schwabe Philosophica, 8. Geb. EUR 57,50. ISBN 978-3-7965-2214-7.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Der Plausibilitätsverlust geschichtsphilosophischer Theoriebildung, der mit dem Beginn des 20. Jh.s begann, führte zu einem wachsenden Sinndefizit im Modernisierungsprozess. Trotz des Plausibilitätsverlustes der aufgeklärten Fortschrittsgeschichten, der idealistischen Systeme und des Marxismus kann an der kulturellen Unverzichtbarkeit historischer Sinnbildung allerdings kein Zweifel bestehen. Und dadurch kommt auch heute noch der Ge­schichtsphilosophie als Versuch, die Einheit der Geschichte unter Verwendung einer sinnvollen Vorstellung vom Zeitverlauf deutend zu erfassen, eine freilich reduzierte Bedeutung zu. Angesichts dieser Orientierungsprobleme der Geschichtsphilosophie ist eine Untersuchung der Konstitutionsphase der Geschichtsphilosophie, die von 1700 bis 1780 reicht, zweifelsohne sinnvoll und hilfreich. Ein Blick auf die Literatur zur Vor- und Entstehungsgeschichte der Geschichtsphilosophie ist jedoch ernüchternd. Zwar wird in der Literatur eingehend die Frage diskutiert, ob die sich konstituierende Geschichtsphilosophie in einem kausalen Zusam­menhang mit der christlichen Heilsgeschichte steht, aber eine fundierte quel­lengesättigte Untersuchung dieser Thematik ist bislang ein Desi­derat in der philosophiegeschichtlichen Forschung. Diese Lücke schließt jetzt die ausgezeichnete Studie von Andreas Urs Sommer, die im Wintersemester 2003/04 von der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald als Habilitationsschrift angenommen wurde.
Vom späten 17. Jh. bis in die 1780er Jahre vollzog sich ein kultureller Prozess, in dem sich das Verständnis von Geschichte und das Verhältnis von Subjekt und Geschichte grundlegend veränderten. Wurde der Mensch vor dem 18. Jh. durch anthropologische, theologische oder metaphysische Systeme bestimmt und die Vergegenwärtigung geschichtlicher Erfahrungen zur Normen- und Wertevermittlung verwandt, trat der Mensch im Laufe des 18. Jh.s im geschichtstheoretischen Diskurs der Zeit zunehmend als Handlungssubjekt einer sich dynamisierenden Geschichte in Erscheinung. Damit wurde eine selbstreferentielle Geschichtsphilosophie möglich, die von S. als spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie bezeichnet wird. Spekulativ ist diese Geschichtsphilosophie, »insofern sie aus einer sehr beschränkten Anzahl kontingenter historischer Tatsachen einen kontinuierlichen und zielgerich teten Verlauf der Geschichte ableitet« (49). Die Kontinuitäts- vor­stellung, die dieser spekulativen Geschichtsdeutung zu Grunde liegt, orientierte sich im 18. Jh. stets am Fortschrittsbegriff. Uni­versalistisch ist eine solche Geschichtsphilosophie, weil die ganze Menschheit ihr Referenz-Subjekt ist. D. h., Gegenstand der Be­trachtung einer spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie ist die ganze Geschichte und nicht nur, wie in der Ge­schichts­theologie, die Heilsgeschichte. Diese sinnbildende Konstruktion des Geschichtsverlaufs, wie sie in der Geschichtsphilo­sophie der Aufklärungszeit entwickelt wurde, entsprach dem Ori­entie­rungs­bedürfnis der Adressaten dieser Philosophie, in der Aufklärung also dem gebildeten Bürgertum. Mithin erfolgte hier eine Sinnstiftung durch Geschichte. Im Unterschied zur Universal­geschichtsschreibung der Aufklärungszeit war diese Ge­schichts­philosophie »transempirisch« (49). Diesen Konstitutionsprozess der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie untersucht S. zunächst in autorenbezogenen Studien und dann unter systematischen Fragestellungen.
Im ersten Teil seiner Untersuchung beschreibt S. das Ge­schichts­denken repräsentativer Autoren aus verschiedenen Mili­eus und Ländern, Großbritannien, Neuengland, Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz, denen im Konstitutionsprozess der Geschichtsphilosophie eine exemplarische Bedeutung zu­kommt. Dabei untersucht er sowohl die Geschichtskonzepte von Theologen als auch die philosophischer Autoren und das Beziehungsgeflecht zwischen diesen sehr unterschiedlichen Ansätzen. In diesem Beziehungsgeflecht entwickelte sich die Geschichtsphilosophie.
Die behandelten Theologen stehen beispielhaft für eine theo­logische Geschichtsdeutung und ihre allmähliche Veränderung. Herausragende Vertreter einer solchen Heilsgeschichte waren am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jh.s drei französische Gelehrte, Sébastien Le Nain de Tillemont, Claude Fleury und Jacques-Bé­nigne Bossuet. Bei allen Unterschieden im Einzelnen wird doch bei allen drei Theologen die Rolle der katholischen Kirche als Dienerin der heilsgeschichtlichen Vorsehung im Gang der Weltgeschichte deutlich betont und die Geschichte entsprechend gedeutet. Ein völlig anderes Geschichtsbild entwirft der pietistische Historiker Gottfried Arnold in seiner Kirchen- und Ketzerhistorie. Seine Kirchengeschichte dient der Destruktion des traditionellen Kirchen- und Geschichtsverständnisses der Orthodoxie. Statt dieser tradi­tionellen Orientierung werden den Adressaten dieses Geschichtswerkes exemplarische Geschichten zur Erbauung und Bekehrung angeboten. Die calvinistische Geschichtstheologie des Briten Jonathan Edwards zeigt dann das Bild eines vollständig entmündigten Menschen, der »dem göttlich verordneten Geschichtsziel ... feindlich gegenüber« steht (129). Am Ende der Geschichte folgt das Jüngs­te Gericht. Mit Recht betont S., dass in Edwards Geschichtsdeutung »die prinzipielle Erwählungsunsicherheit des calvinistischen Individuums« aufgewogen wird durch die totale Gewissheit des Geschichtsverlaufs zwischen Sündenfall und Gericht (132). Als letzten Theologen behandelt S. den Neologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Dessen »Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion« (1768 ff.) deuten das Weltgeschehen als Entwicklungsprozess, genauer: als Erziehungsprozess, und verweisen so schon auf Lessing und dessen Geschichtsphilosophie. Dieser Prozess wird durch die Geschichtsmächtigkeit der Vorsehung be­wirkt. S.s Untersuchung belegt anschaulich, dass die radikalen Veränderungen in der Geschichtstheologie von den französischen Theologen bis zu Jerusalem vor allem auf externe Faktoren zurück­geführt werden können. Da die Theologen »mitnichten länger die unbestrittenen Inhaber weltanschaulicher Deutungshoheit« wa­ren, »mussten sie zur Sicherung und Mehrung ihrer Position auf die zeitgemässe Darstellung und Adaption ihrer Verkündigung sinnen« (150).
Auf den ersten Blick erscheint die Reihe der ausgewählten Theo­logen gelungen, weil sehr unterschiedliche Positionen behandelt werden. Allerdings entspricht Edwards (1703–1758) Geschichtsverständnis zur Zeit seiner Konzeptualisierung nicht mehr der damaligen Deutung von Zeiterfahrungen. Auch S. ist dies bewusst, wenn er schreibt, dass diese Schrift »schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens für die geschichtsphilosophische und wissenschaftshistorische Diskussion kaum anschlussfähig« war (132). Dies hat zur Konsequenz, dass der zeitliche Abstand zwischen Arnold und Jerusalem zu groß ist, um auch nur einigermaßen befriedigend die Entwick­lung der geschichtstheologischen Diskussion wiederzugeben. Hier hätten beispielsweise Mosheim, Baumgarten oder der englische Theologe Humphrey Ditton untersucht werden müssen, um eine sinnvolle Kontinuitätslinie des geschichtstheologischen Diskurses zu erhalten.
Seine intime Kenntnis der veröffentlichten Quellen und der umfangreichen Sekundärliteratur stellt S. dann bei der Behandlung von Repräsentanten aufklärerischen Philosophierens unter Beweis, indem er in konziser und sachlich weiterführender Weise die Destruktion des traditionellen theologischen Geschichtsbildes und die Entstehung der Geschichtsphilosophie beschreibt. Die Reihe der behandelten Philosophen reicht von Bayle, Bolingbroke und Vico über Buffon bis zu Lichtenberg, Turgot, Iselin, Mercier, Les­sing­ und Kant. Der Übergang von einer exemplarischen Ge­schichts­­schreibung zu einem dynamischen Geschichtskonzept, das die Geschichte als Gesamtheit versteht und die Menschheit als Geschichtssubjekt auffasst, wird in Iselins »Geschichte der Menschheit« (zuerst anonym 1764) zum ersten Mal prägnant greifbar. Auch wenn der Mensch zunehmend zum eigentlichen Handlungssubjekt der Geschichte wird, bleiben die Philosophen doch angewiesen auf Gott und die Vorsehung, damit die Geschichte als sinnvoller Prozess gedeutet werden kann, wie auch Lessings und Kants Überlegungen zeigen.
Im zweiten Teil der Studie »Zur Topik der Geschichtsphilosophie« rekonstruiert S. die Haupttopoi geschichtsphilosophischen Denkens im 18. Jh.: Exempla, Vorsehung, Moralisierung und Vervollkommnung, Metaphysikkritik, Fortschritt, Aufklärungskritik, Theodizee, Entwissenschaftlichung, Kontingenz und Trost. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle Facetten der Untersuchung an­zuführen. Besonders interessant im Hinblick auf das theologische Denken sind die Ausführungen zur Vorsehung Gottes als Lenkungsmacht der Geschichte und zum Fortschrittsbegriff, auf die ich mich im Folgenden beschränke. S. zufolge bewirkte der »Rationalisierungs- und Sinnstiftungsdruck« von Anfang an eine »Restauration theologischer Begriffe« (369), besonders des Providenzgedankens. Die Verwendung dieses Gedankens führte zwangsläufig zu Problemen mit der Vorstellung von der Geschichtsmächtigkeit des Menschen.
Gottes Teilnahme am Geschehen wird von den meisten Ge­schichts­philo­sophen so gedacht, dass dieser Gott keine Eingriffe in den natürlichen Lauf der Dinge vornimmt, sondern sich des menschlichen Handelns und der Naturgewalten bedient, um seine Ziele zu erreichen. Damit distanzierte sich das geschichtsphilosophische Denken sowohl vom Deismus und Atheismus als auch von der traditionellen Offenbarungstheologie. Mit der Fortschrittsidee ist ein verändertes Verständnis von Vergangenheit gegeben. Die Fortschrittsidee privilegiert das Neue gegenüber dem Alten. Somit entsteht ein völlig neues Verständnis von Geschichte. Vor allem mit dieser Fortschrittsidee ist das Sinnstiftungspotential der Geschichte verbunden. Eine unter Verwendung der Fortschrittskategorie gedeutete Geschichte stellt eine Sinneinheit dar, die das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit erfüllt. Die Idee des Fortschritts führt zu einer Harmonisierung von Philosophie und Theologie, von göttlicher Vorsehung und menschlicher Geschichtsmächtigkeit. Die Einsicht in das Sinnstiftungspotential des Fortschrittsbegriffs bewirkte nach S. bei protestantischen Theologen die Bereitschaft, ihre theologische Theoriebildung mit Hilfe der von den Philosophen rezipierten Fortschrittsidee grundlegend zu verändern. Ob die protestantische Theologie den Fortschrittsbegriff lediglich rezipierte oder ob sie selbst an der Ausprägung dieses Begriffes im Bereich der Kultur maßgeblich beteiligt war, muss sicherlich noch eingehender geprüft werden. Mögliche Aufschlüsse über die Entstehung eines dynamischen Geschichtskonzeptes, das einer Geschichte, deren leitende Kategorie ein Fortschrittsbegriff ist, stets zu Grunde liegt, ermöglicht eine Untersuchung des Strukturwandels des historischen Denkens im 18. Jh.
Für S. entzündete sich die Kritik der sich konstituierenden Geschichtsphilosophie »an der Statik der metaphysischen Systementwürfe« (417). Da­gegen hält er die »Verzeitlichungs- und Beschleunigungserfahrung«, die für viele Gelehrte und Gebildete im 18. Jh. spürbar war, für »wenig hilfreich« (ebd.) zur Erklärung des Phänomens Ge­schichtsphilosophie. Ein Vergleich mit der Veränderung der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung im 18. Jh. und der Entstehung der allgemeinen Geschichtswissenschaft in der Spätaufklärung zeigt aber, dass diese Entwick­lungen ohne die Ver­zeitlichungs- und Beschleunigungserfahrung nicht hinreichend erklärt werden können. Kurz: Hand in Hand mit diesem Übergang von einem statischen zu einem dynamischen Ge­schichtsbegriff entstand das Bedürfnis nach Sinnbildung über Zeiterfahrung. Und gerade protestantische Theologen (Mosheim, Baumgarten, Chladenius oder Semler) waren es, die dieses Bedürfnis nach zeitlicher Orientierung ihrer Adressaten frühzeitig in ihren Arbeiten aufgegriffen und damit der geschichtstheoretischen Diskussion den Weg gewiesen haben. D. h., die Entstehung der Geschichtsphilosophie war nur Teil eines allgemeinen Prozesses, in dem die Sinnbildung über historische Erinnerungsleistungen zunehmende Bedeutung erfuhr. Erwähnt sei, dass Semler noch vor Iselin in Deutschland die Fortschrittsidee verwandte und Iselin ja bei Mosheim studiert hat.

Die in sich geschlossene, gut fundierte Studie rekonstruiert sehr ansprechend die Ent­stehungsgeschichte der spekulativ-universalistischen Ge­schichts­philosophie.