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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

88–90

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kuhl, Julius

Titel/Untertitel:

Der kalte Krieg im Kopf. Wie die Psychologie Naturwissenschaft und Religion verbindet.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. XIII, 328 S. m. Abb. gr.8° = Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, 7. Lw. EUR 42,00. ISBN 3-451-28622-X.

Rezensent:

Brigitte Boothe

Julius Kuhl, Autor des Werkes über die Erkenntnis des Religiösen im Geist einer ganzheitlichen Erschließung des Gegebenen oder personaler Intelligenz, ist seit 1986 Professor für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an der Universität Osnabrück. Er habilitierte sich 1982, nach Forschungsaufenthalten an der University of Michigan und an der Stanford University, und war bis zur Übernahme des Lehrstuhls in Osnabrück Leiter der Forschungsgruppe Motivation und Entwicklung am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung an der Universität München. Breite Be­achtung fand unter anderem sein empirisch und testpsychologisch fruchtbares Modell der Handlungs- und Lageorientierung (Kuhl & Beckmann 1994) sowie sein großes Werk Motivation und Persönlichkeit (Kuhl 2001). In diesem umfangreichen Werk entfaltet K. seine Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie), die auch im Zentrum seiner Psychologie der Religion steht.
Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt, das ist auch K.s programmatische Losung. Der Vormachts- und Vordenkeranspruch einer modernen experimentell-naturwissenschaftlichen Weltorientierung mit ihrer Kultivierung des analysierenden und kalkulierenden Verstandes führt zur Ungerechtigkeit gegenüber den Tatsachen des religiösen Le­bens. So können die wertvollen Überlieferungen der christlichen Tradition für eine wissenschaftliche Psychologie der Persönlichkeitsbildung nicht ausreichend fruchtbar werden, weil kalter Krieg herrscht, Krieg zwischen dem analytischen Verstand, der sich der linken Hirnhemisphäre verdankt, und dem ganzheitlichen Denken, oder der personalen Intelligenz, das mit der rechten Hirnhemisphäre verbunden wird. Einen klugen Kopf hat, wer scharf beobachten, das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen, Scharfsinn entfalten, gut kombinieren, korrekt folgern, gut ableiten kann. Bloß ein reiches Gemüt hat, wer sich mit Intuition, Phantasie und Hingabe auf das Diesseits und Jenseits der Lebenstatsachen einzulassen vermag. Man erringt wissenschaftliche und technische Siege mit dem Können des Naturwissenschaftlers, Ingenieurs und Mathematikers, man erfährt bestenfalls flüchtige Dankbarkeit für die Erträge der Wahrhaftigkeit und Weisheit, des Humors und praktizierter Nächstenliebe. K. würde es wahrscheinlich begrüßen, wenn sich an dieser Prämienverteilung etwas ändern ließe. Vor allem aber gilt seine Entfaltung der Theorie von den vier Erkenntnissystemen dem Ende des Kalten Krieges: Erst das Zusammenwirken aller Formen der Intelligenz, erst die Integration der Verstandes- und Gemütskräfte würde die Human- und Lebenswissenschaften von der Schalheit des Reduktionismus – der Enge des Denkverbots, um eine Freudsche Redewendung aufzugreifen – befreien. Da sind vier »Erkenntnissysteme« oder »psychische Systeme« (151 ff.), formuliert K. Jedes verbindet in bestimmter Weise Erkennen, Handeln und Urteilen. Je zwei Erkenntnissysteme un­terliegen der bewussten Selbstkontrolle, je zwei unterliegen der unbewussten Selbstregulation. Die beiden Systeme der bewussten Selbstkontrolle sind Intentionsgedächtnis und Objekterkennung, die beiden Systeme der unbewussten Selbstregulation sind Extensionsgedächtnis und intuitive Verhaltenssteuerung. Ein Mensch bildet eine Absicht, er prüft ihre Passung im Blick auf die Situation, in der er sich befindet, und im Blick auf das, was er von sich, seinen Neigungen und Fähigkeiten, weiß; er sondiert Verwirklichungsmöglichkeiten und entwickelt die Fähigkeit, warten zu können und die Gunst der Stunde zu entdecken (so lernt man die Welt und sich kennen, in der Perspektive der eigenen motivationalen Verfassung oder des Intentionsgedächtnisses). Ein Mensch fokussiert Objekte, unterscheidet wesentliche von unwesentlichen Merkmalen, exploriert die Dinge, exploriert, was los ist. Das ist Objekterkennung. Ein Mensch wird handelnd wirksam, er kann es als einer, der über ein Repertoire an nicht bewusstem Knowing how verfügt, als einer, der intuitive Verhaltenssteuerung in Gang setzt.
Ein Mensch spricht das Vater unser, er ist einer, der sich dabei als Anrufender versteht (Vater unser); als einer, der sich anderen menschlichen Wesen verbunden sieht (Vater unser), die ein gleiches Anliegen betend ausdrücken; er ist sich dessen inne, was Sünde ist und Versuchung; er verwendet betend das alltägliche Wort Vater als ein zeremonielles; er kann das, weil er die Sprachspiele des Alltags in zeigende und darstellende zu verwandeln vermag. All dies kann ein Mensch als Person, die über das Extensionsgedächtnis oder das »fühlende Selbst« verfügt (193).
Ein Mensch ist eine Persönlichkeit, die ihr intelligentes Poten­tial dann zu voller Entfaltung bringt, wenn sie flexibel und situationsangemessen, couragiert und handlungslustig alle vier Systeme nutzen kann. Sie ist originell, wirkungskräftig und einfallsreich, wenn sie die vier Systeme interaktiv aufeinander beziehen kann. Dann gibt es witzige Mathematik, spekulative Naturphilosophie, spielfrohe Experimente, sensible Rechtsprechung, nüchterne Bibelexegese, scharfsinnige Argumentation im Kontext der Gottesbeweise (Mackie 1987).
Religiöse Erfahrung ist möglich, weil es das fühlende Selbst gibt. Oder: Das fühlende Selbst schafft religiöse Erfahrung. Die Aktivierung des psychischen Systems fühlendes Selbst macht den Lebensvollzug zum Innewerden, zur Anschauung, zum gleichzeitig Eindringlichen und Unendlichen.
Carl Gustav Jung und Martin Heidegger sind wichtige Gewährsleute. Individuation und Transzendierung durchdringen das Buch assoziativ und thematisch. Irdische und Gottesliebe sind thematische Schwerpunkte im Blick auf ein Erkennen und Innewerden, das für die religiöse Erfahrung – soweit es die christliche Tradition betrifft – besonders aufschlussreich ist. Liebe bringt – ideal gesprochen – bekanntlich das scheinbar Unmögliche fertig, Selbstvergessenheit im Dienst am Andern zu schaffen und eben darin das eigene Personsein zu vergrößern. Diese Selbstvergessenheit im Dienst am Andern ist eine Form des Offenseins für die Welt, die wohl auch jenseits der christlichen Religionen eine fundamentale Rolle spielt. Ob sie zu jenen als originär religiös reklamierten Erfahrungen und Bereitschaften gehört, die in Theologie, Philosophie und Psychologie immer wieder diskutiert werden und die das Religiöse in der menschlichen Seele anthropologisch verankern wollen, sei dahingestellt. Auch die Hirnforschung, mit deren Befunden K. seine Persönlichkeitstheorie verknüpft, wird darüber keinen Aufschluss geben können.
Denn was ist das psychische System ohne die menschliche Praxis? Was ist die Wahrheit der Empfindung, wenn die sozialen Beziehungen fehlen, die diesen Empfindungen Worte geben und Resonanz verleihen? Was ist die Wahrheit der Empfindung, wenn die kulturellen Gepflogenheiten fehlen, die ihnen Ausdruck und Bedeutung geben? Was ist Religion, wenn sie nur noch im Dunstkreis der Individuation flüstert? Was ist sie ohne Praxis und Ritus, Bekenntnis und Gemeinde? Was ist sie, darüber hinaus, ohne Macht und Kirche?

K. plädiert für eine Psychologie der Person, eine Persönlichkeitspsychologie der vielfältigen Intelligenzen, für eine Psychologie, die den religiösen Fähigkeiten Genüge tut und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lässt. Welches gesellschaftliche Angebot diesen humanen Ressourcen Genüge tun soll, bleibt offen. Wir wissen nur: Das kulturelle Gedächtnis ist auch ein religiöses Gedächtnis. Auch wenn viele längst nicht mehr zur Kirche gehen und die heiligen Schriften lesen, in der Seele leben dennoch die Gestalten und Worte, Parabeln und Botschaften. Es lebt das Bewusstsein von Sünde und Vergänglichkeit. Wir sind fähig zur Selbstreflexion und zur mitmenschlichen Liebe, wenn wir uns anstrengen und darin gefördert werden. Wir wären ganz andere ohne das fühlende Selbst, das seine Geburt vielleicht dem Christentum verdankt.
K. hat ein tiefgründiges, engagiertes, anspruchsvolles und ge­dankenreiches Buch geschrieben. Es stellt für den Leser freilich nicht nur eine intellektuelle Herausforderung dar, sondern auch eine, sich zurechtzufinden, sich in der Verwendung nicht selbstverständlicher Begriffe und nur partiell erläuterter Konzepte zu orientieren und den argumentativen Duktus zu erkennen. Die Tendenz, im Abstrakten und Allgemeinen zu verbleiben, macht den Gegenstand oft nur schwer greifbar und erschwert den Überblick. Die Wahl der Kapitelüberschriften ist nicht immer informativ. Umso bedauerlicher, dass ein Personen- und Sachregister fehlt.
Als weiteres Werk dieses produktiven Autors wäre eine Psychologie der religiösen Praxis wünschenswert, die in schönster phänomenologischer Tradition – nun durch die Fortschritte der Psychologie aufgefrischt – so interessante Phänomene wie Andacht und Verehrung, Beten und Bereuen, Dienen und Demut, Verkünden und Offenbaren beleuchtet. Gewiss, die Demut kommt im Buch vor, aber eigentümlich abstrakt.