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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

85–88

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Erny, Nicola

Titel/Untertitel:

Konkrete Vernünftigkeit. Zur Konzeption einer pragmatischen Ethik bei Charles S. Peirce.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XI, 324 S. gr.8° = Philosophische Untersuchungen, 14. Lw. EUR 74,00. ISBN 3-16-148752-4.

Rezensent:

Gesche Linde

Bei dieser Düsseldorfer Habilitationsschrift handelt es sich um einen echten Forschungsbeitrag: Das herausragende Verdienst des Buches ist darin zu sehen, dass es sich eines Themas annimmt, das bisher vernachlässigt worden ist und besondere Probleme aufwirft, da Peirce selbst sich kaum explizit, geschweige denn zusammenhängend dazu geäußert hat, so dass erhebliche Mühen der Rekonstruktion erforderlich sind. Hinzu kommt die schwierige Editionslage, da insbesondere die späten Texte ab ca. 1900, die von grundlegendem Interesse sind, immer noch nicht von der chronologisch geordneten Ausgabe der »Writings« erfasst werden. Der folgende Kommentar ist ausdrücklich unter dieser Prämisse zu lesen.
Die Vfn. verfolgt ihr Untersuchungsziel in sechs Schritten: Zu­nächst behandelt sie die frühe doubt-belief-Theorie, die auf die handlungsorientierende Funktion der beliefs zielt, greift den Begriff des sozialen Impulses auf und leitet über den Begriff des habit zur Pragmatischen Maxime von 1878; sodann geht sie zum späten Peirce über und weist die Wissenschaftsklassifikation von 1902, in der die Ethik nun als mittlere der drei (alle zur Philosophie gehörenden) normativen Wissenschaften erscheint, als »Bruch« (2.99) zu Peirces bisherigem Denken aus. Danach erörtert sie unter dem Stichwort des summum bonum, mit dem es nach Peirce die Normativen Wissenschaften ja zu tun haben, das Verhältnis von (ethisch) Gutem und (logisch) Wahrem; dann behandelt sie Peirces Theorie des Agapismus. Schließlich untersucht sie Passagen aus un­veröffentlichten Manuskripten zum Themenkomplex von Schuld und Strafe, also der angewandten Ethik; und zuletzt diskutiert sie die Ethik Peirces im gegenwärtigen neopragmatistischen Kontext (Rorty und Putnam).
Es handelt sich um einen schlüssigen Aufbau, der die themenrelevanten Aspekte erfasst, zu denen Peirce selbst sich explizit ge­äußert hat. Eine Einschränkung wäre vielleicht, dass die Vfn. in Kapitel III das Jahr 1902 als »Zeitpunkt der Wende« (109) in Peirces Ethik-Konzeption ausweist, in Kapitel II den Peirce vor der »Wende« behandelt und im folgenden zum Peirce nach der »Wende« übergeht, dann jedoch das gesamte Kapitel V der Agapismus-These widmet, die nach 1893 bei Peirce so gar nicht mehr auftaucht. Die Vermutung der Vfn., dass die Agapismus-These den Weg für Peirces spätere Konzeption der Ethik als Wissenschaft (anstatt wie zuvor als Praxis; vgl. 97.262 f.265 f.) bzw. als Teil der Philosophie (anstatt der Psychologie, vgl. 91) gebahnt habe, wird m. E. weder durch die wenigen angeführten Texte wirklich überzeugend gestützt (CP 6.104 [vgl. 266] datiert von 1892) noch durch den Hinweis auf den Teleologie-Gedanken, der sowohl der evolutionären Metaphysik als dann auch der Ethik zu Grunde liege; zudem verträgt sie sich nicht unbedingt mit der Behauptung des »Bruchs«. In jedem Falle ist jedoch hervorzuheben, dass die Vfn. den späten Peirce ins Zentrum ihrer Untersuchung stellt: eine richtige Entscheidung.
Die beiden hier geltend zu machenden generellen Kritikpunkte sind konzeptioneller Natur und betreffen den Stellenwert 1. der Semiotik, 2. der Religionsphilosophie.
1. Handeln wird beim späten Peirce – für den die Vfn. sich ja vorrangig interessiert – unter dem Stichwort des sogenannten dy­namischen Interpretanten diskutiert: Handlungen sind Interpretationsleistungen. Das bleibt unerwähnt.
Das Register weist das Stichwort »Interpretant« nur für sieben Seiten aus; das Stichwort des dynamischen Interpretanten fällt im Text, soweit ich sehe, lediglich auf S. 186; das Zitat in Anm. 33 (»The Dynamical Interpretant ... de­rives its character from ... the category of Action«) bleibt unkommentiert. Dynamische Interpretanten sind solche Resultate von Zeicheninterpretationsprozessen, die anders als unmittelbare Interpretanten für andere zu Zeichen werden können, weil sie sich extern (leiblich) bzw. beobachtbar manifestieren, dies aber anders als normale Interpretanten noch nicht unabhängig von der konkreten Situation tun, in der sie auftreten. Peirce sieht in dem 1905 entwickelten zehntrichotomischen Zeichenklassifikationssystem drei Trichotomien allein für die dy­namischen Interpretanten vor, die sich, grob gesagt, nach zunehmender Habitualisierung (bzw. Repräsentierbarkeit) unterscheiden. Den Begriff des Willens vernachlässigt Peirce weder noch spielt er ihn gegen den Begriff des habit aus (83), sondern: »the volitional element of Interpretation is the Dynamical Interpretant« (CP 8.165). Die Vfn. übersieht, dass Peirce, indem er die dynamischen Interpretanten als Bedingung für die Herausbildung normaler Interpretanten betrachtet, Handeln als Voraussetzung für Er­kenntnis ausweisen kann, und ebenso übersieht sie den Zusam­menhang zwischen unmittelbaren und dynamischen Interpretanten, Fühlen und Handeln: Es ist nicht korrekt, dass Peirce den Begriff der Gefühlsgebundenheit dem des Verstandes entgegensetze (so 93; vgl. auch 248); und das Zitat, das die Vfn. anführt (93, Anm. 8), fundiert diese Lesart auch nicht. Sentiments orientieren Handlungen, noch bevor der Verstand eingreift (vgl. CP 1.628 [1898]), doch Peirce plädiert nun gerade nicht gegen, sondern für den sentimental conservatism, wie das Zitat in Anm. 9 auf S. 93 f. tatsächlich zeigt. Peirces Begründung ist in dem Begriff der in­stincts zu suchen, der erklären soll, weshalb sentiments überraschend oft zuverlässig orientieren; und auch wenn es stimmt, dass Peirce in neuartigen Situationen den instincts wenig zutraut (247 f.), so gilt eben doch, dass in vielen praktischen Belangen die Orientierung durch die instincts nachträglich durch die Wissenschaft gerechtfertigt wird. CP 5.445 würde eben dies belegen, hätte die Vfn. auf S. 248 das Zitat nicht nach dem Semikolon abgebrochen. Und so besagt das auf S. 92 angeführte Zitat – »in practical affairs, ... it is very easy to exaggerate the importance of ratiocination« – auch nicht, dass wir »den Anteil, der bei einer Entscheidungsfindung dem Verstand zu­kommt«, »unterschätzen«, so die Vfn., sondern dass wir ihn überschätzen, denn das heißt »exaggerate«! Das Fazit der Arbeit, demzufolge »die Einnahme einer rationalen Perspektive die Voraussetzung« für »die Verfolgung der Zwecke« bildet, »die die Interessen aller Menschen schützen« (305), ist darum nur korrekt, wenn man hinzufügt, dass die Einnahme einer solchen rationalen Perspektive (oder: »konkrete Vernünftigkeit«) nicht ohne die Beteiligung der sentiments bzw. der Emotionen gelingen kann. (Die neurobiologischen For­schungen der letzten Jahrzehnte – z. B. durch Antonio Damasio – haben Peirce darin Recht gegeben.) Und schließlich: Wenn dynamische Interpretanten gerade daraus entstehen können, dass vorangegangene unmittelbare Interpretanten als Zeichen herangezogen werden, dann setzt ethisch kontrolliertes Handeln ästhetisch kontrolliertes Fühlen voraus. Das ist der Grund, warum Peirce zur Resozialisierung von Straffälligen empfiehlt, Haftanstalten schön zu gestalten (vgl. 277): damit verrohte Gesellen lernen, etwas zu lieben, und dies ihr Handeln beeinflussen möge. Nicht umsonst entgeht auch dieser Punkt der Vfn. in ihrem Kommentar zur Stelle.
Handeln geht, darin hat die Vfn. Recht, dem Denken nicht nur voraus, es kann und soll ihm auch nachfolgen. Ein »vernünftiges« Handeln würde, um das Interesse der Vfn. aufzunehmen, erfordern, dass ein vorangegangener Gedanke – ein normaler Interpretant – in ein Zeichen (type) in Bezug auf ein dynamisches Objekt umgesetzt wird und auf diese Weise nun in jedem Fall einen unmittelbaren und darüber hinaus einen dynamischen Interpretanten (eine konkrete Handlung) oder sogar einen normalen Interpretanten in Form einer ausformulierten Handlungsregel oder eines Vorsatzes etc. erzeugt. Die Pragmati(sti)sche Maxime, die sich mit den möglichen Konsequenzen aus Begriffen befasst, zielt in ihrer Spätfassung auf diesen Zusammenhang. Ebenso gilt, dass auch ein unmittelbarer Interpretant zum Zeichen werden und auf diese Weise einen normalen Interpretanten hervorbringen kann: Nur deshalb kann Peirce an die Möglichkeit der Kontrolle von Gefühlen glauben.

2. Es ist zumindest unpräzise zu behaupten, Peirce grenze den »Akt des kognitiven Spiels«, woraus er »die Hypothese Gottes« ge­winne, »von wissenschaftlicher Argumentation« ab (8), so dass Ethik (als Teil der philosophischen Wissenschaft) mit Religion grundsätzlich nichts zu tun habe.
Eine der Pointen der späten Semiotik/Logik, einschließlich der Lehre von den Schlussformen, liegt in der These, dass auch »wissenschaftliche Argumentation« – wenn man unterstellt, die Vfn. meine logisch abgesicherte Schlussfolgerungsprozesse induktiver und deduktiver Art – letztlich auf abduktive Prozesse zurück­greift und dass umgekehrt abduktive Prozesse in induktive und deduktive münden können. Religion – so der Text »A Neglected Argument for the Reality of God« (1908) – ist ein Fall von abduktiver bzw. instinktgeleiteter Überzeugungsbildung, der aber deshalb nun gerade nicht einfach als »unwissenschaftlich« zu disqualifizieren ist. Dass die Dualismen von Emotivität (oder Irrationalität) und Rationalität, Gefühl und Verstand, Glaube und Wissenschaft, Synthese und Analyse, Induktion und Deduktion, Leib und Seele etc., ja, selbst, wie bei der Vfn., von instinct und vernunftgeleitetem habit von Peirce gezielt unterlaufen werden, wäre zuletzt bei Michael Hampe nachzulesen (Erkenntnis und Praxis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, hier der Abschnitt »Religion und Gemeinschaft bei Peirce«, 302–313). Die Schieflage, in die die Ausführungen der Vfn. auf diese Weise geraten, sind am – ansonsten sorgfältig gearbeiteten und aufschlussreichen – Agapismus-Kapitel zu verfolgen, in dem zwar Peirces Rekurs auf das Johannesevangelium explizit erwähnt wird (225 f.), dann jedoch das dem »Gospel of Greed« kontrastierte »gospel of Christ« (CP 6.294 [233]) auf ein unbestimmtes »Gegen-Evangelium[]« (240) reduziert wird, obwohl Peirce selbst seinen Agapismus mit Religion – näherhin: dem Chris­tentum als »religion of love« (CP 6.443 [1893]) – ausdrücklich in Verbindung gebracht hat: Das Christentum verleiht dem »Gesetz der Liebe« (CP 6.302; 6.441 [beide 1893]) Ausdruck, das die Evolution des Kosmos vorantreibt (vgl. z. B. CP 5.339 [1893]). Peirce behauptet nirgends in voraufklärerischer Weise, dass ein ethisch als gut zu qualifizierendes Verhalten auf der Befolgung religiöser Gebote etc. beruhe. Es stimmt aber ebenso wenig, dass »das universale Liebesgebot für Peirce nicht mehr als ein frommer Wunsch ist« (303), vgl. dazu CP 4.68; 6.111; 6.440 ff.; 6.288; 6.295 (alle 1893); auch 6.3 (1898). Auch an anderen Stellen macht die Unterschlagung der Vfn. sich bemerkbar. Wenn Peirce von »two gospels ... current in our day« (277, Anm. 14) spricht und dabei abermals »the gospel of Christ«, welches »God is love« verkünde, dem »gospel of political econ­omy and natural selection« entgegenstellt, so trifft das Resümee, dass Peirce hier die »normative Wendung des Selektionsprinzips, mithin den sozialdarwinistischen Ansatz«, kritisiere, nur halb. Und wenn Peirce in Bezug auf Verbrecher ausführt, »I should love them; and should try to treat them with loving kindness in the light of truth« (277), und in unerbittlicher Schärfe weiter formuliert, »I feel that their being so is ... the fault of our own grinding selfishness, our thoughtless dishonesty«, dann sind die neutestamentlichen und theo­logischen Anspielungen mit Händen zu greifen, so dass es an der Sache vorbeigeht, eine solche Bemerkung lediglich als »Plädoyer für die wohlwollende Behandlung von Kriminellen« (277; Hervorh. G. L.) auszugeben, selbst wenn die Vfn. einige Zeilen später auf den Agapismus verweist. Insgesamt ist die Religionsphilosophie nun einmal kein Phänomen der Spätzeit Peirces (vgl. 8) – so, als sei der Ärmste im Alter eben sentimental geworden –, sondern bildet von den Jugendschriften an ein Anliegen (besonders eindrucksvoll in diesem Zusammenhang ist MS L 482 aus dem Jahr 1892, der Zeit, da Peirce seine Agapismus-These entwirft).