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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

78–81

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Stolt, Peter

Titel/Untertitel:

Liberaler Protestantismus in Hamburg 1870–1970 im Spiegel der Hauptkirche St. Katharinen.

Verlag:

Hamburg: Verein für Hamburgische Geschichte 2006. 373 S. m. Abb. u. Ktn. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs, 25. Geb. EUR 24,00. ISBN 3-935413-11-4.

Rezensent:

Ulrike Murmann

Was als Gemeindechronik begann, ist ein Stück Kirchen- und Theo­logiegeschichte Hamburgs geworden, so bekennt Peter Stolt selbst. Aus der Geschichte der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen, an der S. von 1982 bis 1991 selbst als Hauptpastor gewirkt hat, wurde ein Kaleidoskop der gesellschaftlichen und kirchlichen Entwick­lungen eines ganzen Jahrhunderts. St. Katharinen, Kirche und Gemeinde im Herzen der Stadt, wird dabei zum Spiegel, in dem sich die großen sozialgeschichtlichen und theologischen Linien dieser bewegten Zeit lokal und konkret abbilden. Mit seiner Arbeit folgt S. einem aktuellen Bedürfnis nach mikrohistorischen Einzeldarstellungen, die neue Perspektiven auf die jüngere und jüngste Kirchengeschichte eröffnen. Das innere Leitthema, das die Arbeit durchzieht und dem das besondere Interesse S.s gilt, ist die Bedeutung von liberaler Theologie und Verkündigung innerhalb eines spannungsgeladenen protestantischen Spektrums. Führt der Liberalismus, der in St. Katharinen seit dem 19. Jh. ein verlässliches Zuhause hat, zu einer »Selbstauflösung des Christentums« oder ist eine liberale Theologie für die »Lebensfähigkeit des christlichen Glaubens« geradezu notwendig? S. stellt sich in seiner kirchenhis­torischen Arbeit praktisch- und systematisch-theologisch relevanten Fragen, die auf die Gegenwart zielen.
S. folgt weitgehend der Chronologie der äußeren Ereignisse. Dazu führt er seine Leser zunächst ausführlich in die Hamburger Lebensverhältnisse ein, mit denen sich im letzten Drittel des 19. Jh.s die Bürgerinnen und Bürger der Stadt auseinandersetzen muss­ten. Die gesellschaftlichen, sozial- und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen sind notwendige Voraussetzungen, um die Herausforderungen zu verstehen, vor die sich die evangelisch-lutherische Kirche im Hamburgischen Staate im Allgemeinen und die Kirchengemeinde St. Katharinen im Besonderen gestellt sahen (Kapitel 1). Alte Ordnungsprinzipien einer ständischen Gesellschaft lösten sich auf, Industrialisierung und Urbanisierung veränderten die Lebensverhältnisse für breite Schichten rigoros und nachhaltig und mit erheblichen Auswirkungen auf die Stellung bisheriger Autoritäten, auch auf die der Kirche. Welche Rolle spielt diese in dem neuen Zusammenhang? Was ist die »Gemeinde« in einer Großstadt, welches die Aufgabe der Geistlichen? Wie geht man mit den »Entkirchlichten« um? Für die Kirche jener Zeit ergeben sich Problemstellungen, die von frappierender Aktualität sind. Die Relevanzkrise der Kirche ist kein postmodernes Phänomen und Zielgruppengottesdienste an außergewöhnlichen Orten gab es in Hamburg schon um 1900. S. weiß dazu Erhellendes und Amüsantes aus dem gemeindlichen Leben, aus Gottesdienstpraxis und Pastorenalltag jener Zeit zu berichten.
S. beschreibt die Kirche im Gegenüber zur bürgerlichen Klassengesellschaft und ihren Milieus, schildert drastisch die »soziale Frage«, vor die sich besonders St. Katharinen durch die Erweiterung ihres Gemeindegebietes um das große Arbeiterquartier Hammerbrook gestellt sah (Kapitel 3), bringt diese aber in den theologischen und kirchenpolitischen Zusammenhang, wie er sich in Stadt und Hauptkirche darstellte (Kapitel 2). S.s Blick geht immer wieder auf die innerkirchlichen bzw. innerprotestantischen Grundspannungen ein, die durch die veränderte gesellschaftliche Lage bedingt sind und anhand der Katharinengemeinde anschaulich werden: die Lagerbildung in Positive und Liberale, die Auseinandersetzung der Amtskirche mit neuen, freien christlichen Trägern, diakonischen Vereinen und missionarischen Bewegungen und schließlich der Umgang mit charismatischen und zum Teil auch exzentrischen Einzelgängern.
Ein solcher »Non-Konformist« war beispielsweise Wilhelm Heydorn, dem S. das ganze vierte Kapitel widmet. Der Pastor an St. Ka­tharinen wurde in den 20er Jahren von der Kirchenleitung seines Amtes enthoben, nachdem er den Grund des lutherischen Be­kennt­nisses (u. a. in Bezug auf Sakramente und Schriftverständnis) verlassen und monistische Sonderlehren veröffentlicht hatte. Exemplarisch und in ekklesiologischer Perspektive fragt S. nach Individualität und Gewissensfreiheit in der evangelischen Amtskirche und erörtert an diesem Lebensbild den radikal-liberalen Umgang mit der kirchlichen Tradition und seine Folgen.
Das fünfte Kapitel fasst die Ereignisse und Personen an St. Katharinen von 1918 bis 1945 zusammen und stellt sie erneut in den Hamburger Kontext. Anhand von biographischen Skizzen und Profilen, wie sie an der Hauptkirche auftraten, zeichnet S. ein Bild der theologischen Konflikte jener Jahre – die Konfrontation der liberalen mit der Kritik der dialektischen bzw. der konfessionellen Theologie und die Auseinandersetzung des Liberalismus mit der faschistischen Ideo­logie der Deutschen Christen und der nationalsozialistischen Kirchenpolitik. Details und Erkenntnisse aus dem gemeindlichen Leben St. Katharinens in der NS-Zeit fehlen mangels erhaltener Quellen und so bleibt diese Epoche eine »Grauzone«, die, so das von S. selbst angemerkte Desiderat, eine Aufarbeitung sucht. Das jüngst erschienene Buch von Victoria Overlack (Zwischen nationalem Aufbruch und Nischenexistenz, Evangelisches Leben in Hamburg 1933–1945) ist ein wichtiger Schritt, um diese Lücke zu füllen.
Kapitel 6 schlägt den Bogen bis in die 70er Jahre. S. beschreibt den Neubeginn des gemeindlichen Lebens in der vollständig zerstörten Kirche, den entschlossenen Wiederaufbau unter der Leitung von dem Hauptpastor und späteren Landesbischof Volkmar Herntrich, der charismatischen und schillernden Führungspersönlichkeit jener Nachkriegszeit in Hamburg, und die theologisch fundierte »Neuinszenierung« des alten Kirchenraumes. S. rückt schließlich einen weiteren seiner Vorgänger in den Fokus: Hauptpastor Hartmut Sierig ist die prägende Figur für eine Gemeinde, die liberal und vermittelnd Kirche in einer sich verändernden Stadtgesellschaft sein will und dieses Profil bis heute pflegt.
S. endet mit einer Schlussbetrachtung, in der er seine Grundfrage nach den Grenzen liberaler Theologie und ihrer Stellung im protestantischen Spektrum wieder aufnimmt und sie um die Frage nach einer zukunftsfähigen protestantischen Identität erweitert. Er plädiert für eine protestantische Pluralität aus Prinzip. Die plurale Gegenwart ist allerdings nicht mehr gekennzeichnet durch die vormaligen Lager und Polarisierungen, sondern äußert sich vielmehr in individuellen Frömmigkeiten und anhand der verschiedenen gesellschaftlichen Milieus. In ihnen sind konservatives Traditionsbewusstsein und intellektuelle Aufgeschlossenheit nebeneinander vorhanden, müssen aber aufeinander bezogen und in die eine Kirche integriert werden. Nur eine in diesem Sinne plurale und sich auch streitende Kirche bleibt lebendig.
Das Buch von S. ist durch ein aufwändiges Quellenstudium (inklusive Gespräche mit Zeitzeugen) und die verarbeitete Sekundärliteratur hervorragend recherchiert und bietet umfangreich und detailliert einen Einblick in das Kirchen- und Gemeindeleben eines ganzen Jahrhunderts. S. erzählt schwungvoll und mit einem warmherzigen Blick für die Menschen. Dabei gelingt es ihm, Mikro- und Makrogeschichte so miteinander zu verweben, dass Hamburgensien und Katharinen-Interna beispielhaft werden und über den engeren Kontext hinausweisen (auch wenn ein Grundwissen um die Hamburger Verhältnisse an vielen Stellen sicher hilfreich ist). Höhepunkte bilden dabei die Porträts herausragender Akteure, die stellvertretend für den Protestantismus der jeweiligen Zeit stehen.
Am bemerkenswertesten für den Leser ist die überraschende Aktualität der herausgearbeiteten historischen Problemanzeigen. Ob es das Verhältnis von Innenstadt- zur Vorstadtkirche betrifft, ob es um die Umnutzung überflüssiger Kirchgebäude und die Strukturierung von Großgemeinden geht oder die Überwindung der Milieugrenzen angestrebt wird und der Gottesdienst durch neue Formen belebt werden soll – deutlich wird: Wir befinden uns mit den gegenwärtigen Ordnungsfragen und Krisenszenarien in der Kontinuität der Krise einer Kirche, die mit der Moderne konfrontiert ist. So leistet S.s Buch, das er im Alter von 80 Jahren als Dissertation vorgelegt hat, einen wertvollen Beitrag zur ekklesiologischen Diskussion unserer Zeit.