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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

76–78

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Silomon, Anke

Titel/Untertitel:

Anspruch und Wirklichkeit der »besonderen Gemeinschaft«. Der Ost-West-Dialog der deutschen evangelischen Kirchen 1969–1991.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 764 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 45. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-3-525-55747-1.

Rezensent:

Friedrich Winter

Als sich 1969 der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR bildete, stand in seiner Ordnung, dass er sich »zur ›besonderen Ge­meinschaft‹ der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland« (Artikel 4,4) bekenne. S. geht der Frage nach, zu welchen praktischen Folgerungen diese Aussage führte. Eine Fülle von part­nerschaftlichen Begegnungen auf allen Ebenen existierten bereits oder kamen neu zu Stande, von der einzelnen Gemeinde bis zu einer beträchtlichen Zahl von gesamtkirchlichen Ausschüssen und ähnlichen Gremien. Unter ih­nen ragten ab 1970 die 20 Jahre lang bestehende »Beratergruppe« und die ab 1980 zehn Jahre lang arbeitende »Konsultationsgruppe« heraus, über deren Wirksamkeit S. ausführlich berichtet.
Eine lange Einführung (11–148) beschreibt das Thema und den Forschungsstand zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK). Dabei kommt die »besondere Gemeinschaft« mit in den Blick. 13 westliche und sechs östliche Autoren haben die Bundesgründung beschrieben. S. lässt ihre Deutungen und Kritiken nebeneinander stehen, ohne sie miteinander zu vergleichen. Nach einem »kurzen Abriss« (37) zur politischen und kirchlichen Entwicklung seit 1945 bis zur EKD-Teilsynode in Fürs­tenwalde 1967 schließt sich eine umfangreichere, abgewogene Entstehungsgeschichte des BEK an. Die Schärfe der bereits vollzogenen Trennung der EKD durch Maßnahmen der DDR bis 1968 hätte noch deutlicher markiert werden können. Synode, Rat und Kirchenkanzlei der EKD waren nicht mehr ordnungsgemäß einsatzfähig. Während im Blick auf Fürstenwalde emotional das Be­kenntnis zur Einheit der EKD faszinierte, warteten nüchterne Beobachter darauf, wie der weitere Satz eben dieser Fürstenwalder Entschließung sich praktisch auswirken würde: »Wir werden uns gegenseitig so weit freizugeben haben, dass wir unseren Auftrag in dem Teil Deutschlands, in dem wir leben, gerecht werden.«
Die Entstehungsgeschichte des BEK war stets von der Frage nach der »besonderen Gemeinschaft« begleitet. Die DDR-Regierung versuchte argwöhnisch, eine Aussage dazu zu verhindern und den neu entstehenden BEK zu einer »progressiven bzw. loyalen Institution der Politik unsere Partei und Regierung« zu machen (146). Beides gelang nicht. Methodisch gesehen fällt schon hier auf, dass S. die Entwicklung primär aus den Akten der Kirche im Osten beschreibt, auf die die »Rest-EKD« dann jeweils reagiert.
Das ist auch im Teil I der Fall: »Die ›besondere Gemeinschaft‹ in der Praxis – Die Beratergruppe und der Ost-West-Dialog (1969–1989)« (149–453). In die unsichere Lage hinein, wie man zwischen Ost und West in Zukunft Verbindung halten sollte, schlug der Vorstand be­reits drei Monate nach Gründung des BEK vor, einen »Be­voll­mäch­tig­ten-Ausschuss« zu gründen. Mit dem Vorstand sollte eine adäquate Gruppe von Angehörigen des Rates der EKD regelmäßig zusammenkommen. Schon ab Dezember 1969 gelang das, obwohl sich der Rat zuerst schwertat. Er legte Wert darauf, dass diese Gruppe keine eigene Beschlussvollmacht erhielt. Der Vorstand nahm das auf, zumal besonders wegen des Artikels 4,4 in der Ordnung des BEK die DDR-Regierung den BEK zwei Jahre lang nicht anerkannte, die Wendung von der »besonderen Gemeinschaft« nie zuließ, sondern nur »ökumenische« Kontakte zwischen EKD und BEK respektierte.
S. schildert die Entwicklung der dann sog. »Beratergruppe«, die jährlich viermal in der Ostberliner Auguststraße zusammenkam. Besonders von westlicher Seite wurden die Treffen unregelmäßig besucht. Fast immer waren allerdings Präses Wilm aus Westfalen und Bischof Heintze aus Braunschweig anwesend. Häufig wurde eine stärkere Zusammensetzung der Beratergruppe erwogen, was im Laufe von zehn Jahren zu einer Erweiterung des Kreises bis auf etwa 30 Personen führte. Die Frage der formalen Gestaltung der Beratergruppe werden recht genau dargestellt, besonders aus der Sicht des Leiters der Westberliner Stelle der EKD-Kirchenkanzlei, Oberkirchenrat Lingner.
Jedes Mal wurde eine »Presseschau« zur politischen Lage aus östlicher und westlicher Sicht geboten; aus westlicher Sicht von einem Vertreter des Bevollmächtigten aus Bonn, häufig Oberkirchenrat Gärtner. Als Vertreter aus dem Osten nahm Präsident Kramer aus Magdeburg diese Aufgabe wahr. Ebenso wurden akute kirchliche Ereignisse besprochen, etwa die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz oder der letzte westdeutsche Kirchentag. Ebenso wichtig war die ausführliche Behandlung von übergreifenden Themen, die aus der kirchlichen und politischen Entwicklung heraus entstanden, z. B. die Demokratie-Denkschrift der EKD, die Aufarbeitung des Staatsratsgespräches vom 6. März 1978 oder die Entwicklung von Städtepartnerschaften zwischen West und Ost. S. be­schreibt die besprochenen Themen so, dass sie die Akten des BEK und der EKD heranzieht und daraus ihre Vor- und Nachgeschichte klarmacht.
Die meisten Besucher der Beratergruppe waren von ihrer alltäglichen Arbeit her gewöhnt, in Beschlussgremien zu wirken. Darum empfanden viele die auf reine Information abgestellte Beratergruppe als unzureichend. Kritik wurde besonders aus dem Westen laut. Wer bescheidener dachte, kam auf seine Kosten, empfing Anregungen für seine Lageberichte und schärfte sein Ohr für Töne und Untertöne von der anderen Seite. Aus politischer Vorsicht kamen nicht alle Themen in gleicher Dichte zur Sprache. S. bedauert das ebenso wie die Tatsache, dass die Wahrnehmung der besonderen Gemeinschaft zu keinem Zeitpunkt durch tragfähige Beschlüsse von EKD und BEK »nachhaltig geklärt und abgeschlossen wurde« (453). Vielleicht lag aber in der ungeklärten Offenheit die besondere Kraft der Beratergruppe, die trotz mancher Irritationen zwei Jahrzehnte lang bestehen blieb. Als Irritation wurde häufig empfunden, wenn gegen die verabredete Regel gegenseitiger Schonung sich öffentliche Erklärungen in die Belange des anderen Teiles Deutschlands einmischten. Die Neigung im Osten zum Atompazifismus und zur Wehrdienstverweigerung als dem »deutlicheren Zeichen« rief im Westen Nervosität hervor.
II. »Die ›besondere Gemeinschaft‹ in der Wirklichkeit – Die Konsultationsgruppe und die gemeinsame Friedenverantwortung der evangelischen Kirchen (1980–1991)«: Es brach wiederholt die Frage auf, ob EKD und BEK noch in der Lage seien, zu brennenden Fragen des öffentlichen Lebens gemeinsam Stellung zu beziehen. Als die Bischöfe Lohse und Schönherr sich im August 1979 erstmalig nach dem Bau der Mauer gemeinsam »Zum 40. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs« äußerten, kam der Wunsch nach einem ständig arbeitenden Ost-West-Gremium auf, um nach der erleichterten kirchenpolitischen Situation im Osten infolge des 6. März 1978 ge­meinsame Worte von BEK und EKD vorzubereiten. Weil die Beratergruppe zu groß war, kam es auf Anregung des BEK zur Bildung einer »Konsultationsgruppe« mit je sechs Vertretern aus dem Westen und dem Osten. Diese traf sich ab 1980 mehrmals im Jahr.
Anfangs wurde die unterschiedliche Systembindung als Hindernis für gemeinsame Friedenaktivitäten reflektiert. Es kam zur Feststellung von Divergenzen auf Grund der unterschiedlichen Ausgangslage: Hier lebte man in einem Land, das zur Nato gehörte, dort in einem Land, das in den Warschauer Pakt eingebunden war. Angesichts der ernsten Probleme der atomaren Aufrüstung in Ost und West zwischen 1980 und 1983 kam es zu ungeschminkten Gesprächen. Dennoch gelang es in der Folgezeit, gemeinsame Worte für den Rat der EKD und die Konferenz der Kirchenleitungen des BEK vorzubereiten. Oft wurden auch die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD und die Kommission für Kirche und Gesellschaft des BEK in Gespräche einbezogen. Nach 1985 kam es leichter zu einer »Konsensfindung« für gemeinsame Worte: Wort zum Frieden zum Kriegsende vor 40 Jahren 1945, Hoffnung auf Frieden 1986, Gemeinsames Wort zum Millenium der Taufe Russlands 1988, Gedenken an den Kriegsbeginn vor 60 Jahren, Wort zur Eigentumsfrage vom 6.10.1990.
Die westdeutsche Öffentlichkeit nahm die Worte, bis auf rechtskonservative Kreise (»politische Kameraderie mit der DDR-Führung«, 549), mit Zustimmung auf. Umgekehrt zeigten sich die staatlichen Stellen der DDR enttäuscht, dass es nicht zur eindeutigen Unterstützung von östlichen Positionen kam. Wichtig war auch, dass in der Konsultationsgruppe ein Austausch über das »Konzil des Friedens« und seine Vorbereitungstagungen in Ost und West stattfand.
Seit Ende 1989 trat die Bedeutung von Berater- und Konsultationsgruppe zurück. S. schildert die Fortschritte und Schwierigkeiten, die seit Anfang 1990 mit dem Bemühen um die Rückkehr des BEK in die EKD verbunden waren, und geht damit über das eigentliche Thema des Buches hinaus. Berater- und Konsultationsgruppe lösten sich auf. »Die so genannte Wende überholte derartige Überlagerungen, denn es galt jetzt, auf der Basis der wie auch immer gearteten ›besonderen Gemeinschaft‹ zwei Kirchen im geteilten Deutschland zu fusionieren ... Letztlich ›bezahlen‹ musste der Bund der Evangelischen Kirchen« (667).
Abgeschlossen wird das umfangreiche Buch durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis (32 Seiten), ein Abkürzungsverzeichnis (6 Seiten) und biographische Angaben zu kirchenleitenden Persönlichkeiten und Politikern (56 Seiten). Die Angaben bedürfen noch einmal einer Überprüfung. Alles in allem handelt es sich um eine gründliche, oft breite und minutiöse Darstellung, die nicht selten in eine allgemeine Beschreibung der Ost-Westbeziehungen von BEK und EKD übergeht. Wesentliche Aspekte sind zum eigentlichen Thema nicht mehr hinzuzufügen. Das Feld ist bestellt.