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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

74–76

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Titel/Untertitel:

Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 4: 1950. Bearb. v. A. Silomon.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 526 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe A: Quellen, 13. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-525-55763-1.

Rezensent:

Martin Greschat

Das Jahr 1950 bildete für die Menschen in Deutschland und insbesondere für die Protestanten eine gewichtige Zäsur: Heinemann trat aus Protest gegen die Pläne Adenauers zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik als Innenminister zurück. Niemöller veröffentlichte einen grob polemischen Offenen Brief gegen den Kanzler und die angebahnte Aufrüstung des westdeutschen Staates. Damit begannen die jahrelangen leidenschaftlichen und erbitterten Auseinandersetzungen über die Westintegration und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Im gleichen Jahr 1950 wuchsen hier die Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken. Papst Pius XII. verkündete im November das Dogma der leibhaftigen Aufnahme Mariens in den Himmel. Monate vorher war die Erinnerung des Hl. Offiziums an die Diözesanbischöfe verbreitet worden, wonach diese Gespräche mit Protestanten über religiöse und kirchliche Themen ausdrücklich genehmigen mussten. Dabei sollte prinzipiell deren Konversion das Ziel sein.
Beide Themen spielten in den Verhandlungen des Rates der EKD eine Rolle, die politischen allerdings nicht in dem Ausmaß, in dem sie die Öffentlichkeit bewegten. Erheblich intensiver befassten sich die Ratsmitglieder mit der Versorgung ehemaliger Mitarbeiter und Beamter der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) sowie mit dem Problem der deutschen Kriegsgefangenen und insbesondere der Kriegsverbrecher. Mit großem Aufwand und beträchtlichem Engagement warb der Rat bei den westlichen Siegermächten um Strafmilderungen, Amnestien sowie die Beendigung der Prozesse. Daneben beschäftigten das Leitungsgremium der EKD natürlich die Verhältnisse in der DDR, die Not der Teilung Deutschlands, die Friedensfrage sowie die Beziehungen zur Ökumene. Eine knappe Zusammenfassung dieser Themen ist der Edition vorangestellt (7–27). Hinzuzufügen wäre die ausführliche Diskussion über den »Ehekonsens«, wonach die Kirchenleitungen ihre Zustimmung zu Verlobung und Heirat der Pfarrer, Hilfsprediger und Vikare geben mussten (226 f.251–254.307–309).
Der Band enthält die Quellen zu den neun Ratssitzungen des Jahres 1950, dazu die Protokolle der vier Sitzungen der Kirchenkonferenz der EKD, des Organs der Kirchenleitungen also. Die Edition folgt dem in den früheren Bänden verwendeten bewährten Muster: Auf die Vorbereitung der Sitzung sowie das Protokoll folgen Anlagen und Beschlüsse, sodann die Vorlagen und Anträge, schließlich Dokumente zum Kontext.
Die besondere Schwierigkeit der Edition besteht darin, dass es sich um Beschlussprotokolle handelt. Ohne Kenntnis der Hintergründe, der kontroversen Meinungen und insgesamt der größeren Zusammenhänge bleiben sie daher in der Regel unverständlich. Ebenso sorgfältig wie gründlich hat die Bearbeiterin diese Kontexte erhellt. Klare, knappe, dabei differenzierte Erläuterungen helfen dem Leser zu verstehen, worum es bei den einzelnen Punkten der Tagesordnung ging und welche Entscheidungen der Rat der EKD fällte.
Dass bei diesem schwierigen und mühsamen Unternehmen einzelne Mängel zu konstatieren sind, nimmt kaum Wunder. Da der Bearbeiterin meine Untersuchungen zur Gründung und Zielsetzung des Deutsch-Französischen Bruderrates entgangen sind, weiß sie wenig Exaktes zur Speyerer Erklärung zu sagen (193.202–204). Der nicht nur hier begegnende Verweis auf die Darstellung Joachim Beck­manns im Kirchlichen Jahrbuch macht dort Sinn, wo es sich um andere Quellen handelt, aber nicht, wenn es um historische Vorgänge geht. Die im Literaturverzeichnis genannten Ar­beiten entsprechen nicht durchweg dem Stand der Forschung. An Stelle der älteren Studie von Gerhard Wettig über Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung (1967) wäre z. B. besser das vom Mi­litärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene vierbändige Standardwerk »Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956« (1982–1997) zu nennen. Was bedeutet die Charakterisierung Niemöllers als »linker Nationalist« (20)? Und was hat man sich unter einer »Art Freikirche« vorzustellen (43, Anm. 29)? In den Niederlanden gab es keine Staatskirche, also auch keine Freikirchen. Bei der Gereformeerde Kerk handelte es sich um eine neocalvinistisch-erweckliche Abspaltung von der als rationalistisch attackierten Hervormde Kerk.
Das sind allerdings eher Kleinigkeiten, verglichen mit den Mängeln im Personenregister. Die Zufälligkeit der Angaben, die bereits in den früheren Bänden zu beobachten und zu beklagen war, ist der Bearbeiterin nur begrenzt vorzuwerfen. Es ist schlechterdings nicht nachzuvollziehen, warum der Leser z. B. über Karl Barth oder Karl Koch in vier Zeilen informiert wird, Erwin Sommerlath lediglich eine einzige erhält, Churchill dagegen neun, Pieck immerhin 12 und der katholische Theologe Johannes Neuhäusler sogar 16 Zeilen. Nur der Name oder ganz unvollständige Angaben begegnen bei 17 Personen. Ließ sich über sie wirklich nichts oder nicht etwas mehr herausfinden? Bei einer Reihe anderer fehlt das Todesdatum. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich nicht eruieren ließ. Gewichtiger sind andere Defizite. Der Name von Paul Graf Yorck etwa wird auf einer und derselben Seite falsch (193, so auch im Register, 512) und richtig (193, Anm. 17) geschrieben. Ein besonders grober Schnitzer ist der Bearbeiterin bei Stählin unterlaufen (505): Unter dem Eintrag Gustav Stählin und seiner Biographie werden die Hinweise subsumiert, die ausnahmslos den Oldenburgischen Bischof Wilhelm Stählin betreffen – der jedoch nicht ge­nannt ist! Dass die Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis nicht denjenigen im Buch entsprechen (ab 448), weckt Zweifel an der Solidität der Arbeit insgesamt. Diese Fakten mindern leider den Glanz der Edition.