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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

72–74

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Kluge, Matthias

Titel/Untertitel:

Das Christliche Friedensseminar Königswalde bei Werdau. Ein Beitrag zu den Ursprüngen der ostdeutschen Friedensbewegung in Sachsen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 528 S. m. 1 CD-ROM. gr.8°. Geb. EUR 68,00. ISBN 3-374-02092-5.

Rezensent:

Sebastian Engelbrecht

Die These, die Matthias Kluge vertritt, ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung des friedlichen Umbruchs von 1989 in der DDR. Er zeichnet eine Linie von den ersten Wehrdienstverweigerern im SED-Staat, den »Bausoldaten«, hin zur friedlichen Umwälzung im Wende-Herbst. Ohne die Pazifisten in Uniform, die mit dem Spaten statt mit dem Gewehr ihren Dienst taten und so der Gefängnisstrafe aus dem Weg gingen, ohne ihren beharrlichen gewaltlosen Widerstand in Theorie und Praxis über Jahrzehnte, wäre der waffenlose Sieg der Opposition nicht möglich gewesen.
K. führt seinen Beweis im ereignisgeschichtlichen Detail, in einer mikroskopischen Studie. Bis in kleinste chronistische Einzelheiten stellt er die Geschichte des Christlichen Friedensseminars Königswalde in Westsachsen, im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt, dar. Er verhehlt nicht, dass seine eigene Biographie mit der These wie auch mit dem Untersuchungsgegenstand eng verbunden ist. K. selbst war Bausoldat und nahm seit 1979 an fast jedem Friedensseminar in Königswalde teil. An der gebührenden kritischen Distanz zum Untersuchungsgegenstand mangelt es dennoch nicht.
Der Aufriss der Arbeit ist einfach: K. beleuchtet den weiteren historischen Kontext, stellt die Quellenlage und den Stand der Sekundärliteratur dar, erläutert Begriffe und Desiderate. Auf eine ausführliche Darstellung der Biographien der beiden wichtigsten Protagonisten folgt eine akribische ereignisgeschichtliche Ab­handlung über die Arbeit des Seminars von 1973 bis 1991. Den Ab­schluss bilden eine Zusammenfassung und eine »Bewertung« der Darstellung.
Die zentrale Rolle in der gesamten Schilderung spielt der Kraftfahrzeugelektriker Hansjörg Weigel. Sofort nach seiner Bausoldatenzeit, schon 1966, begann er mit Vorläuferveranstaltungen in der evangelischen Jungen Gemeinde von Königswalde. Bereits Ende der 1960er Jahre zog Weigel mit seiner ehrenamtlichen Arbeit in Königswalde Scharen von Jugendlichen aus dem sächsischen Dorf und aus der Umgebung an. Was die Veranstaltungen so attraktiv machte, war die Freiheit des Denkens und der Rede im Spannungsfeld von Theologie, Literatur und Gesellschaft. Als Weigels wichtigs­ten Mitstreiter im Leitungskreis des Friedensseminars nennt K. den »Philatelisten« Georg Meusel. Er verweigerte den Kriegsdienst, wurde aber nicht zu den Bausoldaten eingezogen, sondern ausgemustert. Bei beiden erwuchs der Pazifismus aus der Kenntnis der blutigen Vorgeschichte Deutschlands im 20. Jh.
Überzeugend stellt K. die biographischen Studien in ihre Kontexte. Er beschreibt die spezifische Gemeinschaft der ersten Bausoldatengeneration als einen Kreis von Intellektuellen, Christen und Systemkritikern. Unfreiwillig entstandene Bündnisse von Bausoldaten bildeten die Grundlage für spätere oppositionelle Netzwerke in der DDR. Der Austausch untereinander war für manche – wie Hansjörg Weigel – der Ersatz für die verwehrt gebliebene universitäre Ausbildung. In der Zeit mit dem Spaten wurden sie so indirekt zu kompetenten Multiplikatoren ihrer pazifistischen Botschaft ausgebildet. Außerdem ordnet K. die Akteure des Friedensseminars in die Generation der sog. »Ost-68er« ein. Charakteristisch für diese Gruppe ist nach K.s Auffassung die gemeinsame Schockerfahrung des gewalttätig niedergeschlagenen Prager Frühlings.
Weigel, Meusel und ein Kreis von Gleichgesinnten gründeten das Königswalder Friedensseminar im Februar 1973. Fortan lud Weigel jedes Jahr zweimal zu den Wochenendtreffen in der Dorfkirche von Königswalde ein. Zu jedem Seminar war ein Referent geladen, gab es begleitende Konzerte, Lesungen oder Ausstellungen oppositioneller Künstler und Schriftsteller. Abschließend feierten die Teilnehmer einen ökumenischen Gottesdienst. Die Veranstaltungen standen von Anfang an unter dem Schutz der Kirche, also des Ortspfarrers, des Superintendenten und in den Zeiten von Schikanierung und Diskriminierung durch staatliche Instanzen auch des sächsischen Landesbischofs und des Landeskirchenamts.
Weigel schaffte es, eine oppositionelle Elite als Referenten nach Königswalde zu holen, aber auch schillernde Figuren der DDR-Geschichte und Funktionäre aus Kirche und Politik. So kamen der Schriftsteller Erich Loest, der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der Theoretiker der DDR-Friedensbewegung Joachim Garstecki von der Studienabteilung des Bundes der Evangelischen Kirchen, der Sänger Gerhard Schöne, der Dresdner Superintendent Christof Ziemer, Landesbischof Johannes Hempel, der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer und viele andere. Am Ende der Existenz der DDR reichte die Toleranz so weit, dass die Leitung des Friedensseminars sogar Vertreter von Parteien und Organisationen der lokalen Nationalen Front zu einer Sonderveranstaltung und Theologen der staatstreuen Christlichen Friedenskonferenz zum Seminar einlud.
Die Themen der Seminartreffen wandelten sich mit der Lage der Opposition in der DDR. In den ersten zehn Jahren dominierten friedenstheoretische Themen, verbunden mit Informationen über die »rechtliche Stellung des Bürgers in der DDR« und die Debatte über das Verständnis der Menschenrechte in Ost und West. Das Friedensseminar war vor allem in dieser ersten Phase auch ein Beratungsforum für Kriegsdienstverweigerer, Bausoldaten und andere Aussteiger. Nach dem Höhepunkt der Friedensdiskussion in ganz Deutschland, beginnend mit dem Jahr 1983, kamen auch Umwelt-Themen in den Blick, die Idee des umfassenden »Konzils des Friedens« und die Informationspolitik der DDR wurden diskutiert. Zugleich wurde das Publikum bürgerlicher. In den Zeiten des größten Erfolgs, Anfang der 1980er Jahre, erschienen regelmäßig um 500 Teilnehmer zu den Treffen in der Dorfkirche.
K. beleuchtet die Geschichte des Seminars aus der Perspektive der Akteure, ihrer schriftlichen Hinterlassenschaften und mündlichen Erinnerungen, aber auch aus den institutionellen Blickwinkeln der verunsicherten staatlichen Stellen und des Staatssicherheitsdienstes in Karl-Marx-Stadt und Berlin auf der einen sowie der landeskirchlichen Gremien in Dresden auf der anderen Seite. Der sächsischen Landeskirche, insbesondere ihrem Landesbischof Hempel, attestiert K. uneingeschränkte Solidarität mit dem Seminar-Initiator und späteren Landessynodalen Weigel, auch in Zeiten der Anfechtung: Im Mai 1980 wurde Weigel auf Grund einer Stasi-Intrige wegen »staatsfeindlicher Hetze« inhaftiert. In Gesprächen mit staatlichen Stellen stellte sich das Landeskirchenamt klar hinter Weigel und trug so zu dessen Freilassung im August 1980 bei.
Die Darstellung der Verhaftung, ihrer Vorgeschichte und Folgen, liest sich wie ein Krimi, in dem Stasi-Offizier Heinz Engelhardt und Rechtsanwalt Wolfgang Schnur Verliererrollen spielen. K. bleibt – trotz seiner historisch gegebenen Parteilichkeit – sachlich. Er entgeht der Versuchung, die historische Bearbeitung des Themas mit persönlichen Abrechnungen gegen frühere Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit zu verbinden. Unter den regelmäßigen Besuchern des Friedensseminars wären einige »IMs« zu enttarnen. K. beschränkt sich auf die Nennung der Decknamen.
Überhaupt verdient der Umgang K.s mit den Quellen besondere Beachtung. Er greift ausführlich auf Akten des MfS zurück, ohne diese aber zur primären Grundlage der Darstellung zu erheben. So schafft es der Historiker K. wie wenige vor ihm, die Stasi-Überlieferung in ihrer Relativität einzubinden. Darüber hinaus bestechen die Genauigkeit der Darstellung und die offenkundige Scheu vor jedem schnellen Urteil. K.s Buch ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass eine seriöse DDR-Zeitgeschichtsschreibung schon heute möglich ist.