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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

70–72

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Teigeler, Otto

Titel/Untertitel:

Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 726 S. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 51. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-3-525-55837-9.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Die Begegnung mit der Geschichte der Äußeren Mission im Lu­thertum führt auf ein überschaubares Feld von Aktionen und Handlungsschauplätzen. Besonders durch den Pietismus Bewegte entwarfen Pläne und arbeiteten an ihrer Umsetzung, wie es sich etwa in der Blütezeit der hallischen und herrnhutischen Aufbrüche beobachten lässt. (Vgl. vor allem die Arbeiten Eduard Winters und Dmitrij Tschizˇevskijs – stellvertretend für Ersteren seien Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1955, und für Letzteren die Aufsätze Die russischen Drucke der Hallenser Pietisten, in: Kyrios. Vierteljahresschrift für Kirchen- und Geistesgeschichte Osteuropas 3 [1938], 56–74, sowie Zu den Beziehungen des A. H. Francke-Kreises zu den Ostslaven, in: Kyrios 4 [1939/40], 286–310, angeführt.) So fügt sich das Thema der Arbeit Otto Teigelers als wertvoller Baustein in die gegebene Forschungslandschaft ein.
Nach Vorwort, Abkürzungen und ausführlicher Einleitung wird der Leser im ersten Teil unter der Überschrift Erste Schritte mit der Reise des Syndicus David Nitschmann nach St. Petersburg im Jahre 1735 (93–158) in das Thema eingeführt. Es folgen Die Intervention Zinzendorfs (bis 166), Die Rolle Arvid Gradins in Zinzendorfs missionsstrategischem Konzept (bis 198), Der gescheiterte Missionsversuch 1742–1747 (bis 203) und Äußere Impulse (bis 218).
Im zweiten Teil unter der Überschrift Der Bedingungsrahmen im Aktionshorizont werden der kirchenhistorische (bis 232), der staatspolitische, der ethnohistorische (242–249), der kirchenpolitische, der kirchenparteiliche (260–274) und der missionsstrategische Rahmen gezeichnet (bis 284).
Das Projekt Sarepta, die Siedlung an der Unteren Wolga, ist Thema des dritten Teils, wobei u. a. auf Die Einwanderungspolitik Ka­tharinas II (bis 308), Beratungen und Verhandlungen zur Beilegung des Zielkonflikts (bis 368), Strukturen und Ordnungen in Sarepta (bis 399), Die Kalmücken (bis 458) und auf den Neubeginn 1824 sowie das Ende 1892 (bis 498) eingegangen wird.
Nach nahezu jedem Unterkapitel fasst ein Zwischenergebnis We­sentliches noch einmal übersichtlich zusammen. Eine Zwi­schen­bilanz bereitet auf den zweiten und dritten Teil vor. Das Resümee (499–518) möchte den Ertrag der gesamten Studie in Kurzform wiedergeben. Der umfängliche Anhang (521–726) unterlegt die Arbeit mit zahlreichen informativen Quellen (bis 694), dem unverzichtbaren Quellen- und Literaturverzeichnis, das von ausgiebigen, auch russischsprachige Ressourcen einbeziehenden Literaturstudien zeugt (bis 719), sowie einem nützlichen Personenregister.
T. legt eine handwerklich saubere, minutiös die archivalischen und gedruckten Quellen auswertende (vor allem Alexander Glitsch: Geschichte der Brüdergemeine Sarepta im östlichen Russland während ihres hundertjährigen Bestehens. Nach archivalischen Quellen bearbeitet, Sarepta 1865; Herwig Hafa: Die Brüdergemeine Sarepta: Ein Beitrag zur Geschichte des Wolgadeutschtums, Breslau 1936, und Christlieb Suter: Geschichte des Etablissements der Evangelischen Brüder zu Sarepta in dem [damals] Astrachanischen Gouvernement [1765–1775], bearb. u. hrsg. v. Otto Teigeler, Herrnhut 2003 = Beih. UF; 8) und umsichtige Arbeit vor. Vor dem Auge des Lesers entsteht ein klar umrissenes Bild der Siedlung Sarepta an der Wolga von der Gründung 1765 bis zur Auflösung im Jahre 1892. »Sarepta war Herrnhut an der Wolga.« (399)
Aber auch die Erschwernisse und Schattenseiten des langfristig geplanten und vorbereiteten Großprojekts kommen zur Sprache. So brachte eine gewisse unfreiwillige Konkurrenz zu den bereits über jahrzehntelange vielseitige Erfahrungen verfügenden hallischen Pietisten viele verpasste Chancen mit sich. Kaum überhör­bare Kritik übt T. an in den älteren historiographischen Arbeiten fortgeschriebenen Legenden und an tendenziöser Geschichtsschreibung. Die auf Grund heilsgeschichtlicher Prämissen vorgenommene Konstruktion einer Missions(erfolgs)geschichte, wie sie besonders bei Alexander Glitsch, aber auch bei Herwig Hafa zu beobachten ist, hinterfragt T. stringent argumentierend, um sie schließlich abzuweisen. Mission an Kalmücken, einem buddhistisch-lamaistischen nomadisierenden Volk westmongolischer Herkunft stand nie im Zentrum der Aktivitäten der Herrnhuter in Russland. Auch aus mangelhafter Vorbereitung resultierende Unkenntnis landeskundlichen Grundwissens und russischer Sprache sowie vermeidbare Fehler im Umgang mit der Administration kritisiert T. All diese Beobachtungen verhelfen zu einer realitätsnahen Wahrnehmung des Geschehenen und stellen die Glaubenskraft, den Mut und den Pioniergeist der Aussiedler in keiner Weise in Frage, sondern heben sie vielmehr durch Einbeziehung der konkreten Umstände hervor. Solch eine ausführliche und genaue Beschreibung von historischen und strategischen Gegebenheiten im zweiten Teil Der Bedingungsrahmen im Aktionshorizont beeinträchtigt jedoch den gegebe­nen Erzählfluss zwischen dem ersten und dem dritten Teil.
Für eine mögliche und wohl wahrscheinliche Neuauflage wäre auch zu bedenken, ob sich der durchgängig verwendeten Terminus »Raskol’nik(i)« – wörtlich »Schismatiker« (u. a. 150 f.236 u. ö.) –, der sich mit dem Selbstverständnis der Altorthodoxen nicht in Einklang bringen lässt, durch einen geeigneteren Begriff ersetzen ließe. Zudem scheint es angeraten, die lediglich mit ihrem zur Weihe beigelegten Namen genannten Hierarchen – was bei der Zuordnung leicht zu Verwechslungen führen kann – auch mit Familiennamen zu erwähnen (e. g. Demetrius – Erzbischof von Novgorod ›Dmitrij Se cˇenov, ab 1757 Erzbischof von Velikij Novgorod, krönte Katharina II., gestorben 1768‹, Archimandrit Filaret ›Filaret Drozdov, 1782–1867, 1817 Vikarbischof von St. Petersburg mit Titel von Reval und Metropolit von Moskau ab 1821‹, Gabriel – Erzbischof von St. Petersburg ›Gabriel Petrov, 1730–1801, ab 1770 Erzbischof von St. Petersburg‹).
Zur Beschreibung der zeitweilig dramatischen Entwicklungen und Kämpfe um die Bibelübersetzung, den »Bibelstreit«, im dritten Teil, die schließlich zur Beendigung der Arbeit der Bibelgesellschaft führten (Vgl. 3. Das Missionsverbot von 1822, bes. 3.5. Die Folgen, 445 f.), wäre u. a. ein Bezug auf das erste Kapitel von Ludolf Müllers immer noch gewinnbringend zu studierendem Werk: Russischer Geist und evangelisches Christentum. Die Kritik des Protes­tantismus in der russischen religiösen Philosophie und Dichtung im 19. und 20. Jahrhundert, Witten (Ruhr) 1951, Das Zeitalter Alexanders I., 9–27, und auf das vorbildhafte Wirken Erzpriester Gerasims (Pavskijs) und Archimandrit Makariis (Glucharevs), wie es etwa durch I[larion] A. Čistovič: Исторія перевода библии на русскій языкъ, 2. Aufl. Sankt-Peterburg 1899, besonders 133–207 und 207–240 beschrieben wird, zusätzlich erhellend.
Unterdurchschnittlich wenige, doch gelegentlich den Sinn verdunkelnde Druckfehler (e. g. 470: Leibeigenschaft 1761 statt 1861 aufgehoben etc.) wären zu korrigieren.

Insgesamt aber liegen der Arbeit solide Kenntnisse der russischen Geschichte, Kultur und Sprache – ein frühes Slavistik-Studium T.s kommt ihr sehr zugute – zu Grunde. So wird der Leser informativ und unterhaltsam in die Bedeutung von Orten, Konstellationen und Verhältnissen eingeführt. Argumentierend, abwägend und behutsam Schlüsse ziehend lädt T. zum Entwickeln einer eigenen Sicht ein. Angenehm besonnen und umsichtig erfolgt auch die Schilderung administrativer und kirchenpolitischer, dem west­europäischen Leser nicht in jedem Fall unmittelbar einsichtiger Reaktionen und Verhaltensweisen auf russischer Seite.
T. ist es in seinem Werk gelungen, einen wesentlichen Teil russlanddeutscher Geschichte, der zugleich ein maßgeblicher Teil der Missionsgeschichte des Luthertums pietistischer Prägung darstellt und dessen wahrgenommene Weltverantwortung aufleuchten lässt, neu zu schreiben. Dank umfangreichen Quellenstudiums im Archiv der Brüderunität Herrnhut und an anderen Orten sowie minutiösen Vergleichs mit älteren historiographischen Entwürfen ist eine gut lesbare und spannende Studie entstanden, die sowohl künftiger Geschichtsschreibung des Pietismus als auch missionsgeschichtlichen Forschungen reiches Material und Orientierung bietet. Für das Geschenk dieses inhaltsreichen, wohlgestalteten Lehrbuchs ist T. zu danken, und dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.