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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

63–66

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht, Leppin, Volker, u. Udo Sträter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Chris­tentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 320 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 19. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02396-7.

Rezensent:

Matthias Heesch

Der gegenwärtige Protestantismus ist in einer kritischen Lage. Einerseits ist ein Bedeutungsverlust auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens zu beobachten. Komplementär dazu koppelt man sich ab: In abgeschotteten kirchlichen Binnendiskursen werden Überlegungen zur Begründung einer mehr oder weniger zentralisierten Einheitskirche als verheißungsvoller Lösungsansatz an­gesichts der gegenwärtigen Krise angesehen. Gegen die Warnungen fast der gesamten wissenschaftlichen Theologie hat man vor wenigen Jahren eine Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre kirchenamtlich akzeptiert, die versucht, die (lutherisch-katholischen) kontroverstheologischen Debatten des 16. Jh.s mit den denkerischen Mitteln jener Zeit einem – für eine Lösung gehaltenen – Formelkompromiss zuzuführen. Solche Beobachtungen machen deutlich, dass eine zunehmende Diskrepanz besteht zwischen dem Protestantismus, der immer stärker über eine sich of­fenbar zunehmend klerikalisierende und im Selbstbezug er­schöpfende Kirche wahrgenommen (bzw. eben ignoriert) wird, und einer Bildungswelt, deren diffuser Säkularismus funktionell ersatzreligiösen Charakter gewinnt. In dieser Situation scheint die Erinnerung an Epochen angebracht, in denen die Beziehung zwischen Protestantismus und Bildungswelt konstruktiver war als derzeit: Es könnten sich weiterführende Einsichten gewinnen lassen, wenn man geschichtliche Optionen bedenkt, auch solche, die langfristig nicht oder nur sehr mittelbar gewirkt haben. Zu diesen gehört in weiten Teilen die Theologie der Aufklärung, die Gegenstand der hier zusammengefassten Beiträge ist.
In einem der gelungensten Aufsätze des lesenswerten Bandes befasst sich Chr. Voigt-Goy mit der Reformationsdeutung des Kirchenhistorikers G. J. Planck (283–297). Er macht deutlich, dass unter den für Planck maßgeblichen epistemologischen Bedingungen die Deutung der Reformation nicht mehr einfach von deren eigenen normativen Prämissen her erfolgen konnte. Planck versucht, durch die psychologisierende Aufarbeitung von Selbstzeugnissen der Reformatoren Erkenntnisse zu gewinnen (286 f. u. ö.). Das führt ihn auf die, auch vor der eigenen religiösen Deutungstradition nicht haltmachende, Individualität und Kontingenz des Geschichtli­chen, die nicht nur gegen den orthodoxen Lehrbegriff, sondern auch gegen Kants aprioristischen Rekonstruktionsversuch der protestantischen Lehrüberlieferung (289 f.) geltend gemacht wird. Die altprotestantischen Lehrbildungen und -streitigkeiten können we­der sachlich noch methodisch für die theologische Theoriebildung unter den erkenntnistheoretischen Bedingungen der Aufklärung leitend sein. Aus dieser Einsicht heraus versucht Planck, die normativ relevanten Aspekte der Reformation durch Herausarbeitung bestimmter Entwicklungen und der sie tragenden Personen zu verdeutlichen. Das gilt vor allem für Person und Werk Melan­chthons, dem Planck die größte Affinität einerseits zu den wirklichen Intentionen Luthers, aber auch zu Anliegen der späteren Aufklärung zuschreibt (293–295).
Allerdings ist Melanchthon als Vollender der lutherischen Reformation nicht akzeptiert worden (294), weswegen die Reformation im Sinne Melanchthons von Planck als Aufgabe verstanden worden ist, der sich der aufgeklärte Protes­tantismus anzunehmen habe (295). Damit wird die Reformation nun nicht mehr als objektiv-normatives Ereignis, sondern als Beginn einer Denkbewegung verstanden, die in immer neuen Bemühungen eine jeweilige Synthese aus Christentum und Gegenwart hervorzubringen sich bemüht. Pluralität und Unabgeschlossenheit sind Merkmale des in mancher Hinsicht von Planck mit auf den Weg gebrachten modern-protestantischen Lehrtypus (296).
Im anschließenden Aufsatz beschäftigt sich K. Fitschen mit dem theologischen Spätaufklärer K. G. Bretschneider (299–307). Bretschneider sieht die Pluralität, die das Christentum von Anfang an auszeichnet (303), und betont diese angesichts einer Situation, in der die Neuorthodoxie ihren Lehr- und Frömmigkeitstypus mit staatlichen Machtmitteln durchzusetzen sucht (301 f.). Er erinnert den Staat an dessen Pflicht, die von Anfang an mit dem Protestantismus verbundene Gewissensfreiheit zu garantieren. Im Hintergrund steht die Annahme einer gemeinsamen Entwicklung des religiösen Bewusstseins und des Weltbewusstseins (300). Auf der Basis konservativer Exklusivansprüche kann die damit angebahnte Synthese aber ebenso wenig gelingen wie auf der Basis übersteigerter Ansprüche anderer Art. Hier sieht Bretschneider Grenzen der Toleranz insbesondere gegenüber radikalen Exponenten einer kritischen Theologie (wie z. B. D. F. Strauß, 301) sowie gegenüber mit den Landeskirchen prinzipiell dissentierenden protestantischen Zirkeln (306). Den sich zunehmend ultramontan gebärdenden Katholizismus lehnt er ab und hofft auf einen synthesefähigen Kulturkatholizismus (304 f.).
In den Beiträgen über Planck und Bretschneider begegnet ein Typus der Aufklärungstheologie, der in gewisser Weise durchaus schon dem Neuprotestantismus zuzurechnen ist, einerseits weil die Differenzierung zwischen Theologie und Frömmigkeit vollzogen ist, andererseits weil der Epochenbruch zwischen der Aufklärung und dem 16. Jh. gesehen und reflektiert wird. Frühere Phasen der Aufklärungstheologie sehen sich eher in Kontinuität zur Reformation, so etwa der Exeget und Bibelübersetzer R. Kortum, dem J. Wolff einen Beitrag widmet (15–31). Freilich macht die zeitgenössische Diskussion um Kortums Übersetzungsversuche und Kommentare deutlich, dass die Versuche einer aufgeklärten »Verbesserung« der Reformation schon im Frühstadium zu Debatten um die Berechtigung solcher Anstrengungen und damit indirekt über die Normativität der Reformation geführt haben. Ein zentrales Motiv solcher Debatten ist die in aufgeklärten (und übrigens auch pietistischen) Kreisen geteilte Annahme einer Unvollendetheit der Reformation. Einer Reflexionsgestalt dieser These geht H.-M. Kirn in seinen Überlegungen zu P. Bayle (33–49) nach. Ohne die Grundlagen der konfessionellen Kirchentümer prinzipiell in Frage zu stellen, sieht Bayle diese tendenziell als kontingente Realisationsgestalten des Christlichen, die nach außen und innen relative Toleranz zu gewähren haben. Nur so kann ein nicht von vornherein repressiver (und in seiner Nicht-Repressivität lebensdienlicher) Typus des Christlichen gedeihen (41 f.48 f.), mit dem, nun unter aufgeklärtem Vorzeichen, die gegen die römische Kirche gerichtete polemische Seite der Reformation zur Wirkung kommt. Die Vertreter einer Synthese aus Protestantismus und Aufklärung lehnten die explizit christentumsfeindlichen Formen der Aufklärung ab, wie Chr. Bultmann und U. Dreesmann anhand von Person und Werk J. J. Spaldings deutlich machen (126–149.151–159). Spalding geht es um eine lebenszugewandte Vereinfachung des reformatorischen Lehrtypus, die die komplizierte Antithetik von Erbsünde und rein passiver Erlösung modifiziert zu einer Anthropologie, die (relatives) ethisches Wachstum und Gelingen im Gewissen reflektiert und im Bewusstsein der alle menschliche Freiheit ermöglichenden Zuwendung Gottes aufgehoben sieht (140 u. ö.). Damit will Spalding den reformatorisch gedeuteten christlichen Glauben und die aufgeklärte »natürliche Theologie«, die er als ein genuin christliches Anliegen versteht (136), in eine produktive Beziehung setzen (138–141).
Dies setzt freilich die ausdrückliche Distanzierung von der skeptizistischen Variante aufklärerischer Religionsphilosophie (136 f., Spaldings Kritik an Hume) und vom manifesten Atheismus voraus, vgl. das in P. Opitz’ Beitrag über Spalding und Lavater (103–118) mitgeteilte harte Urteil Spaldings über die Förderung des französischen Atheisten de la Mettrie durch König Friedrich II. (107).
Der zuletzt genannte Aufsatz führt auf ein weiteres Themengebiet aufgeklärt-protestantischer Reflexionsarbeit, die Beschäftigung mit dem Subjekt und seinem Erleben, dargestellt am Beispiel einer generationsübergreifenden Gelehrten-Freundschaft. Die Selbstreflexion gewinnt erst in der auf die hier bedachte Epoche folgenden Theologengeneration die Gestalt eines Bemühens um die Erarbeitung einer theologisch fundierten Subjektivitätstheorie. Sie hat aber von Anfang an zwei wichtige Funktionen: Einerseits wird die Verklammerung von Glaube, Selbst- und Welterleben zum Gegenstand theologischer Aussagen, andererseits begründet die angenommene Konvergenz von Glaube und (literarisch artikulierter) Empfindsamkeit Kulturoffenheit als Wesensmerkmal aufgeklärter protestantischer Reflexionskultur, wie unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten die Beiträge von P. Opitz, U. Dreesmann, Chr. Holm (175–184) u. a. deutlich machen.

Die vorgestellten Beiträge haben überwiegend den Charakter von auf die Geschichte bezogenen Werkstattberichten. Anders als die Reformatoren und anders als die großen Theoretiker des Protestantismus der nachkantischen Zeit haben nur wenige der Theologen des 18. Jh.s im Ergebnis Bleibendes geschaffen. Ihr Verdienst liegt darin, in immer erneuten und teilweise tastenden Bemühungen Denkwege für die Erarbeitung einer unter den Bedingungen des neuzeitlichen Wahrheitsbewusstseins erkenntnistheoretisch konsistenten Theologie aufgezeigt zu haben, was die grundlegende hermeneutische Vorgehensweise der Trennung von Glaube – persönlichem sich Getragenwissen von Gott – und Theologie – auf in­tersubjektive Verständigung und insofern auf symbolisch vermittelte Objektivität zielender wissenschaftlicher Kommunikation – einschließt.
Zwar haben manche Aufklärungstheologen versucht, beide Bereiche einander möglichst eng zuzuordnen (vgl. den Beitrag von Th. Kuhn über die literarische Kategorie der Popularität, 161–171), das setzt jedoch Differenzbewusstsein voraus. Die gegenwärtig im kirchlichen (insbesondere ökumenischen) Diskurs beliebte Gleichsetzung von »theologisch« mit der Aufbietung von Bibelzitaten und Belegen aus symbolischen Texten des 16. Jh.s wäre jedenfalls keinem der Theologen, über die unser Band berichtet, als Argumentationsstrategie geeignet erschienen (vgl. in diesem Zusam­menhang die Überlegungen von G. Schneider-Ludorff zur aufgeklärten Luther-Aneignung, 205–215). Sie kam demgegenüber vor im Rahmen der gegen Protestantismus und Aufklärung gleichermaßen gerichteten römisch-katholischen Kontroverstheologie und -predigt (über diese anhand eines exemplarischen Beispiels Chr. Spehr, 237–250).
Dass die Theologie immer neue Wege gehen muss, nicht um den Glauben zu verändern (gar zu »verbessern«), sondern um ihm im Bedingungsgefüge der Zeit ein Artikulations- und Reflexionsmedium zur Verfügung zu stellen, gehört zu ihren Grundaufgaben. Der hier besprochene, alles in allem hervorragende Aufsatzband kann daran erinnern. Man möchte ihm – in diesem Sinne – möglichst viele Leser wünschen.