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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

60–62

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gregory, Andrew F., and Christopher M. Tuckett [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Reception of the New Testament in the Apostolic Fa­thers.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2005. XIII, 375 S. gr.8° = The New Testament and the Apostolic Fathers, 1. Lw. £ 55,00. ISBN 978-0-19-926782-8.

Rezensent:

Wilhelm Pratscher

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Gregory, Andrew F., and Christopher M. Tuckett [Eds.]: Trajectories Through the New Testament and the Apostolic Fathers. Oxford: Oxford University Press 2005. XVII, 506 S. gr.8° = The New Testament and the Apostolic Fathers, 2. Lw. £ 65,00. ISBN 978-0-19-926783-5.


1905 veröffentlichte »A Committee of the Oxford Society of Historical Theology« einen forschungsgeschichtlich sehr wichtigen Band über »The New Testament in the Apostolic Fathers« (im Folgenden: NTAF). Aus Anlass des 100 Jahr-Jubiläums folgt nun, ebenfalls aus Oxford, aber unter breiterer internationaler Beteiligung, ein zweifaches Nachfolgewerk, in dem es nicht nur um die Rezeption von Schriften geht, die später das Neue Testament bildeten, sondern auch um das Aufzeigen von Entwicklungslinien. Es geht darum, »to update, to develop, and to widen the scope of the issues« (Reception, V). In der in beiden Bänden abgedruckten textgleichen Einleitung (Introduction and Overview, jeweils 1–5) informieren die Herausgeber über grundlegende Aspekte und Änderungen gegenüber NTAF. Ich nenne nur einige: die Erweitung der herangezogenen Texte der Apostolischen Väter um das MartPol (wenigstens in: Trajectories), die intensive methodologische Reflexion, z. B. in der Aufnahme der neuen textkritischen Erkenntnisse über das Neue Testament und der Wirkungsgeschichte. Zu Recht wird dabei auf den großen Nutzen der Apostolischen Väter für Bewahrung und Interpretation des Neuen Testaments und für die Erforschung der Geschichte des Christentums im 2. Jh. verwiesen (4 f.).
In Teil I des Reception-Bandes geht es um »The Text of the New Testament and the Apostolic Fathers« (7–58). Dabei kommt B. D. Ehrman (»Textual Traditions Compared: The New Testament and the Apostolic Fathers«, 9–27) zu dem nicht ungewöhnlichen Ergebnis, die entscheidenden Faktoren bei der Weitergabe von Texten des Neuen Testments hätten auch bei der der nichtkanonischen Literatur eine ähnliche Rolle gespielt. W. L. Petersen (»Textual Traditions Examined: What the Text of the Apostolic Fathers tells us about the Text of the New Testament in the Second Century«, 29–46) fragt nach der Relevanz des Textes der Apostolischen Väter für die Textgestalt der neutestamentlichen Schriften im 2. Jh. Er betont die Offenheit der Textgestalt und das partielle Erkennen der Textgeschichte des Neuen Testaments. J. K. Elliott fragt nach dem Nutzen der Apostolischen Väter für die Textedition von GNT und Nestle/Aland (»Absent Witnesses? The Critical Apparatus to the Greek New Testament and the Apostolic Fathers«, 47–58). Sehr hilfreich und anregend ist die Liste von Stellen (55–57), an denen die Textgestalt der Zitate in den Apostolischen Vätern für den kritischen Apparat der Edition des Neuen Testaments berücksichtigt werden könnte. Dass dabei viele Fragen offen bleiben, liegt auf der Hand, da neutestamentliche Texte nicht ohne Weiteres direkt zitiert werden.
In Teil II (»The Textual Transmission and Reception of the Writ­ings that later formed the New Testament in the Apostolic Writ­ings«, 59–329) äußern sich die beiden Herausgeber zunächst ausführlich über methodologische Fragen (»Reflections on Method: What constitutes the Use of the Writings that later formed the New Testament in the Apostolic Fathers«, 61–82). Es geht um die Unterscheidung von Zitat (signifikanter Grad an Übereinstimmung mit Vorlage), Anspielung (geringer Grad) und Paraphrase (freie Wiedergabe). Sicheres Kennzeichen für ein Zitat sei eine Einleitungsformel (66), aber deren Absenz bedeute nicht, dass gegebenenfalls kein Zitat vorläge (vgl. nur 2Clem 2,1). Ein weiteres wichtiges Kriterium, von großem Gewicht bei Texten aus den Synoptikern, sei der Bezug auf redaktionelle Textpartien. Wie schwierig eine exakte Zuschreibung aber ist, explizieren sie sehr schön daran, dass z. B. Mt 24 Red und Did 16 auch auf eine gemeinsame Quelle zurückgeführt werden können. Es ist somit große Vorsicht im Urteil angebracht, was auch im Abschnitt der Herausgeber über 2Clem deutlich wird.
In der Auswahl der Apostolischen Väter, die im Folgenden im Band »Reception« analysiert werden, folgen die Herausgeber NTAF (Did, 1Clem, Ipn, PolPhil, Barn, 2Clem und Herm), das MartPol wird im Band »Trajectories« angesiedelt. Alle diese Dokumente werden im Folgenden detailliert und in aller gebotenen Umsicht untersucht. So betont C. M. Tuckett in seinem Beitrag über die Didache (83–127) den häufig sehr ähnlichen Wortlaut mit Mt oder Lk, setzt aber sofort dazu, dass der Befund nicht notwendigerweise nur als direkte Abhängigkeit interpretiert werden müsse (127). Die sehr sorgfältigen, umsichtigen Urteile finden sich auch sonst. So hat nach A. F. Gregory im Beitrag über 1Clem (129–157) Clemens nur 1Kor mit Sicherheit benutzt, sehr wahrscheinlich auch Röm und Hebr. Zu diesem durch interne Evidenz erreichten Ergebnis trete die durch externe Evidenz anzunehmende Kenntnis von Mk, eventuell auch einer Sammlung von Paulusbriefen. P. Foster kommt in seinem Beitrag über Ign (159–186) zum Ergebnis einer sicheren Kenntnis von 1Kor und bringt starke Argumente für Eph sowie 1/2Thess und Mt. Der geringe Grad an Zitationsgenauigkeit wird überzeugend mit den beschränkten Möglichkeiten auf dem Weg nach Rom begründet. Zu deutlich anderen Ergebnissen als NTAF kommt M. W. Holmes in der Untersuchung von PolPhil (187–227).
Während Eph und 1Joh im Sicherheitsgrad hinaufgestuft werden, gilt für Röm, Gal, Phil und mehr noch für Joh etc. das Ge­genteil. Auch hier wieder der methodologisch wichtige Hinweis, Nichtzitierung sei nicht identisch mit Un­kenntnis (227). Die Un­gesichertheit vieler Einzelergebnisse entspricht dem voll und ganz. Ähnliches betont auch J. Carleton-Paget, der Barn untersuchte (229–249; vgl. bes. 231 f.). Die Vorsicht im Urteil von A. F. Gregory und C. M. Tuckett kommt auch in deren Analyse von 2Clem (251–292) zum Tragen. Auch sie weichen in unterschiedlicher Weise von NTAF ab, indem sie bei Mt und Lk eine (relativ) größere, beim Hebr eine geringere Sicherheit im Urteil annehmen. Schließlich sieht J. Verheyden im Beitrag über Herm (293–329) eine Kenntnis von Mt und Paulus als plausibel an – ein deutliches und doch vorsichtiges Urteil.
Im zweiten Band geht es um Trajectories, Entwicklungslinien von neutestamentlichen Texten zu solchen der Apostolischen Väter. Nicht ganz überzeugend ist dabei die Kapiteleinteilung. Die Einheitlichkeit der Darstellung bei gleichzeitiger Betonung der Vielfalt der Themen wäre m. E. bei einer durchgehenden thematischen Orientierung besser gewährleistet.
In Kapitel I behandelt A. Lindemann den Einfluss des Paulus auf 1Clem und Ign (9–24). Der auffällige Befund: Keine der Schriften habe ein Interesse an intensiverer Benutzung der paulinischen Literatur bzw. Theologie, gleichwohl sei Paulus in diesem Traditionsbereich keineswegs vergessen worden.
In Kapitel II behandelt H. Koester die Evangelienüberlieferung im 2. Jh. (27–44). Dabei erweise sich die Differenzierung kanonisch-apokryph als nicht zielführend, ebenso sei die Bedeutung der mündlichen Tradition hoch anzusehen. A. J. Bellinzoni untersucht die Stellung des Lk bei den Apostolischen Vä­tern (45–68). Auch er verweist zu Recht darauf, dass lukanisches Material (wenn überhaupt) weniger in der Form des Lukasevangeliums als in der von postlukanischen Harmonisierungen vorliege (67).
In Kapitel III geht es um die Christologie. T. G. Weinandy zeigt instruktiv die Rolle des Ignatius für die weitere christologische Entwicklung, aber auch die Unmöglichkeit, die verwendete Tradition zu bestimmen (71–84). F. Young unt­ersucht Weisheitstraditionen. Er wehrt sich überzeugend gegen eine vorschnelle Rück­projizierung späterer Positionen, es stellt sich jedoch die Frage, ob er die neutestamentlichen Traditionen nicht zu minimalistisch interpretiert.
Kapitel IV beschäftigt sich mit den im 2. Jh. besonders wichtigen Themen Kirche, Amt und Sakramente. J. Muddiman vertritt die These einer direkten Benutzung von Eph bei 2Clem und Herm, was m. E. angesichts der Weitläufigkeit des Leib Christi-Motivs eher unsicher ist (107–121). D. F. Wright ist wohltuend zurück­haltend gegenüber der vorschnellen Annahme, die Kindertaufe sei in der betreffenden Zeit gängige Praxis gewesen (123–133). C. Clausen widmet sich dem Thema Eucharistie. Hinter Did 9 f. und Joh 6 u. ö. sieht er eine gemeinsame liturgische Tradition (135–163). A. Stewart-Sykes fragt nach dem Verhältnis von charismatischer und amtlicher Führung. Er wendet sich vom synagogalen Hintergrund her m. E. zutreffend gegen die traditionelle Spätansetzung der Entstehung von Amtsstrukturen (165–189).
Kapitel V enthält Arbeiten zur Didache. J. S. Kloppenborg untersucht das Verhältnis von Did 1–6 und Mt bzw. Jak. Dass Did 6,2 f. die Tora meine, überzeugt nicht (193–221). J. Draper geht es um soziale Fragen in Bezug auf Did 13 (Unterstützung von Propheten, Lehrern und Armen, 223–243), C. N. Jefford sucht, die gemeinsamen situativen Elemente für die Entstehung von Mt und Did in Antiochien auszumachen (245–264).
In Kapitel VI geht es um Beiträge zu Ignatius. C. E. Hill erörtert die Evangelientradition (267–285), D. M. Reis die Nachahmung (287–305), H. O. Maier politische und rhetorische Aspekte des Gegensatzpaares Zwietracht-Eintracht (307–324), A. Brent schließlich die Transformation neutestamentlicher Traditionen im Kontext der Mysterienkulte bei Ign und Pol (325–349) – allesamt Themen, die einer näheren Untersuchung wert sind.
In Kapitel VII geht es um den Polykarpbrief. P. Oakes thematisiert Gemeindeleitung und Leiden in den Philipperbriefen von Polykarp und Paulus. Überzeugend sind die Anführungen zu PolPhil 14 mit den Deutung von »in prae­senti« als »face to face« (353–373). Um die Gegner in PolPhil und 1Joh geht es P. A. Hartog. Er möchte Ersteren nicht zur Rekonstruktion der Gegner in Letzterem heranziehen (375–391).
Kapitel VIII behandelt schließlich das Martyrium des Polykarp. Während B. Dehandschutter die freie Rezeption der neutestamentlichen Texte herausstreicht (395–405), versteht M. W. Holmes MartPol als »contemporizing read­ing« der Passionsgeschichte Jesu (407–432).

Insgesamt liegt eine sehr respektable Leistung vor, nicht nur in Einzelaspekten, sondern als Gesamtwerk, das das neuere, vertiefte Interesse an der Gestaltwerdung der Kirche im 2. Jh. aufgreift (vgl. nur im deutschsprachigen Raum die Kommentarwerke KAV und KfA) und entscheidend weiter fördert, nicht zuletzt durch die umfassende Bibliographie und die detaillierten Register zu Stellen, Themen und Autoren. Die Anknüpfung an NTAF und deren Weiterführung in methodologischer und einzelwissenschaftlicher Hinsicht ist sehr zu begrüßen. Dabei fällt die aufs Ganze gesehen nachvollziehbare Vorsicht im Urteil auf, die manchmal fast zu groß erscheint. Den Herausgebern ist schließlich zu danken für die große organisatorische Arbeit, die sie in das überaus wichtige Projekt investiert haben.