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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

53–55

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tolmie, D. Francois

Titel/Untertitel:

Persuading the Galatians. A Text-Centred Rhetorical Analysis of a Pauline Letter.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XII, 287 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 190. Kart. EUR 54,00. ISBN 3-16-148455-X.

Rezensent:

Dieter Sänger

Unter den exegetischen Beiträgen der jüngeren Vergangenheit, von denen entscheidende Impulse für das Verständnis des Gal ausgegangen sind, nimmt die 1975 erschienene rhetorische Analyse durch H. D. Betz zweifellos einen vorderen Platz ein. Zusammen mit dem wenige Jahre später veröffentlichten großen Kommentar, der das Innovationspotential dieses Ansatzes eindrucksvoll dokumentiert, markiert sie eine Zäsur in der neueren Paulusforschung. Seitdem hat das Thema »Paulus und die antike Rhetorik« Konjunktur. Die anhaltende Resonanz spricht für sich. Obwohl inzwischen nicht nur die gesamte paulinische Korrespondenz, sondern auch ein Großteil der übrigen neutestamentlichen Briefliteratur einer rhetorischen Analyse unterzogen worden ist, steht nach wie vor der Gal im Mittelpunkt des Interesses.
Das bestätigt die hier anzuzeigende Studie einmal mehr. Bei ihr handelt es sich um die überarbeitete Fassung von Tolmies PhD-Thesis, die 2004 der Universität Bloemfontein (Südafrika) vorgelegen hat. Der Untertitel steckt die Koordinaten ab, innerhalb derer sie sich bewegt, und formuliert in Abbreviatur ihr zentrales Anliegen. Über Anlass, Hintergrund und Zielsetzung informiert das erste der drei Kapitel (»Introduction« [1–30]). Zunächst bilanziert T. in Form eines gerafften Überblicks Verlauf und Ertrag der von Betz angestoßenen Debatte – dass sie eine bis in die Alte Kirche zurück­reichende Vorgeschichte hat, durch Ph. Melanchthon neu belebt wurde und auch danach noch weiterging, erfährt man nur anmerkungsweise –, wobei er sich auf exemplarische Vertreter des »rhetorical approach« beschränkt. Ihre positionellen Differenzen sind für ihn Ausdruck eines tiefer greifenden Problems, das methodenbedingt ist und im Wesentlichen eine Ursache hat. Durch die Applikation rhetorischer Kategorien auf den Gal gewinnen, so die Kritik, außertextliche Vorgaben unter der Hand den Charakter eines hermeneutischen Regulativs und fungieren als Kriterium für die Be­stimmung seiner Gattungszugehörigkeit, literarischen Dispo­si­tion und argumentativen Struktur. Ein solches Verfahren läuft Gefahr, den Gal in das Prokrustesbett eines bereits vorgängig fi­xierten Referenzrahmens einzuspannen, mit der Folge, dass seine Texte nurmehr dazu dienen »to justify the choice of that specific model« (24). Aus diesem Grund sieht T. alle bisherigen Versuche, den Brief entweder als Ganzes oder zumindest einzelne als gattungstypisch identifizierte Partien einem der drei aristotelischen genera dicendi zuzuordnen, in einer präjudizierenden Vorurteilsstruktur befangen.
Neben den zuvor genannten Einwänden werden noch vier weitere geltend gemacht. a) Belastbare Indizien, dass Paulus über allgemeine Kenntnisse hinaus mit der Theoriebildung antiker Rhetorik vertraut war, lassen sich nicht beibringen (24 f.); zudem hat es die »ancient rhetorical theory« nie gegeben (26). b) Das Regelwerk der griechisch-römischen Rhetorik zielt auf die Produktion, nicht auf die Evaluation von Reden (13.26). c) Gegenüber der stillschweigend vorausgesetzten Gleichsetzung von oratio und epistula ist Skepsis angebracht (19.27). d) Der doppelbödige Begriff »Rhetorik« wird häufig unspezifisch ge­braucht und ohne die nötige Trennschärfe auf von Haus aus unterschiedliche Sachverhalte angewandt (antike Texttheorie einerseits, moderne Argumentations- und Kommunikationstheorien andererseits).
In betonter Abgrenzung zu den eingangs vorgestellten Entwürfen skizziert T. anschließend die methodischen Leitlinien seines Interpretationsansatzes. Um zu vermeiden, dass nicht weiter problematisierte Fremdanleihen bei den konventionellen Redegattungen die Frage nach der rhetorischen Eigenart und intendierten Wirkfunktion des Gal von vornherein in eine bestimmte Richtung drängen, muss es Aufgabe der Analyse sein »to reconstruct Paul’s rhetoric strategy from the text itself, using the letter itself as the start­ing-point« (27). Äußerst knapp werden Briefadresse und -situation abgehandelt. Das Zirkularschreiben richtet sich an Gemeinden im provinzgalatischen Süden. Paulus reagiert mit ihm auf den Versuch nomistisch orientierter judenchristlicher Missionare, sein Evangelium in ihrem Sinne zu korrigieren (27 f.).
Im umfangreichen zweiten Kapitel (»Rhetorical Analysis« [31–232]) realisiert T. sein Programm. Insgesamt wird der Gal in 18 Un­terabschnitte (»sections« bzw. »phases«) eingeteilt (1,1–5.6–10.11–24; 2,1–10.11–21; 3,1–5.6–14.15–18.19–25.26–29; 4,1–7.8–11.12–20; 4,21–5,1; 5,2–6.7–12; 5,13–6,10; 6,11–18). Gliederungsprinzip ist der Wechsel von der einen zur anderen rhetorischen Strategie, die in den jeweiligen Passagen als dominant erscheint. Auf der makrostrukturellen Ebene konvergieren damit wiederum verschiedene Argumentationstypen und -weisen, der Rezeptionssteuerung dienende Techniken des persuasiven Diskurses (Appelle, Direktiven, Formen von Selbst- und Fremdaffektion) sowie eine Vielzahl sprachlich-stilistischer Mittel aus dem Fundus des zeitgenössischen rhetorischen Arsenals (z. B. Substitutions- und Gedankenfiguren, Schluss- und Beweisverfahren). Im Ensemble werden sie transparent für das in die einzelnen Briefteile eingeschriebene und ihr spezifisches Profil bestimmende strategische Konzept. Textpragmatisch geben sie zu erkennen, woraufhin Paulus die wirkungsästhetischen Potentiale der ihm zur Verfügung stehenden rhetorischen Möglichkeiten zu aktivieren versucht: Er will die Galater davon überzeugen, dass »the opponent’s message is a different gospel which is not similar to the real gospel« (41). T. nennt diese allen »phases« unterliegende und sie verbindende Absicht »the overall organisation of the argument as a whole« (233, vgl. 29) oder auch »basic strategy« (235).
Unter dieser Leitprämisse wird der Gal von 1,1 bis 6,18 nach allen Regeln der rhetorischen Kunst daraufhin befragt, welche Strategie Paulus in den betreffenden Abschnitten entwickelt und welcher Überzeugungsmittel er sich bedient, um sein Anliegen im Sinne des angestrebten Beweisziels zu kommunizieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen entspricht die Textsegmentierung dem (relativen) Mehrheitskonsens. Über Einzelheiten lässt sich natürlich streiten. Ob man 5,1 noch 4,21–31 zuschlagen und hinter 5,6 eine Zäsur setzen soll (175 f.177 f.), erscheint wegen der indikativischen Formulierungen in 5,1a.13a.25a, die einander koordiniert sind und sich jeweils auf 4,31 zurückbeziehen, eher unwahrscheinlich. Auch empfiehlt es sich m. E. nicht, 5,1–10(11–12) von 5,13–6,10 scharf zu trennen. Denn in 5,1 leiten das folgernde οὖν sowie der Imperativ στήκετε die aus den Darlegungen von 4,21–31 sich ergebenden Konsequenzen ein und führen sie nun ethisch gewendet weiter. Vielleicht ist es deshalb sachgemäßer, 5,1–10(11–12) als einen paränetisch grundierten Transitus zu bezeichnen, der schon auf 5,13–6,10 vorbereitet.
Wichtiger ist etwas anderes. Unklar bleibt, worin der eigentliche Erkenntnisfortschritt der mit erheblichem philologischen Aufwand betriebenen rhetorischen Analyse besteht. Ich nenne nur drei Beispiele. Wenn T. als Fazit seiner Untersuchung von 1,1–5 feststellt, die »dominant rhetoric strategy« lasse sich als »adapting the salutation in order to emphasise the divine original of his (sc. Paul’s) apostleship« (37) beschreiben, rennt er offene Türen ein. Gleiches gilt für 3,1–5, wo er » a very effective series of accusatory rhetorical questions in order to remind the audience of events they experienced« ausmacht (101). Dass in 3,26–29 ein »argument based on experience« vorliegt, mit dem Paulus die Galater an ihre Taufe erinnert und sie dazu auffordert, den inneren Konnex von Taufe, Glaube und Gottessohnschaft wahrzunehmen (142–144 [alle Kursivierungen im Orig.]), ist ebenfalls nicht neu. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen. Überflüssig ist die Studie dennoch nicht. Ihren Wert hat sie vor allem darin, auch ohne Rück­griff auf die klassischen Redegattungen (forensisch, symbuleutisch, epideiktisch) gezeigt zu haben, dass Paulus sowohl mit den gängigen rhetorischen termini technici als auch mit den Grundregeln ihrer Applikation vertraut war. Insofern bestätigt sie einmal mehr: Trotz der eingangs formulierten Vorbehalte spricht prinzipiell nichts dagegen, Formen brieflicher Kommunikation in die rhetorische Fragestellung mit einzubeziehen.
Im dritten Kapitel (»Conclusion« [233–247]) fasst T. den Ertrag seiner Analyse knapp zusammen. Das für ihn entscheidende Ergebnis lautet: Der Gal ist durch und durch rhetorisch gestaltet, ohne freilich einem vorgegebenen Aufbauschema zu folgen und es zu reproduzieren. Aber gerade die Tatsache, dass Paulus – offenbar be­wusst – darauf verzichtet, seine Argumentationsstrategie an dem Strukturmodell eines der genera dicendi zu orientieren, erweist »the rhetorical genius of this apostle« (247). Selbst wer Paulus entsprechende Kompetenz zugesteht, wird an diesem Punkt doch etwas zurückhaltender urteilen. Die spannende Frage, ob seine Intervention bei den Adressaten Wirkung zeigte, kann auch T. nicht beantworten. So oder so, wir wüssten es gern. Hilfreich ist der beigefügte »Appendix« (249–255), in dem die im Gal verwendeten rhetorischen Stilmittel und Techniken ihrer jeweiligen Reihenfolge nach geordnet aufgelistet werden. Ein Stellen-, ein Autoren- und ein Sachregister erschließen den Band.