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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

48–51

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gäckle, Volker

Titel/Untertitel:

Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom. Zur Herkunft und Funktion der Antithese in 1Kor 8,1–11,1 und Röm 14,1–15,13.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XVIII, 636 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2 Reihe, 200. Kart. EUR 79,00. ISBN 3-16-148678-1.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Horn

Die Dissertation erschien im Jahr 2004 als 200. Band in der 2. Reihe der WUNT – ein willkommener Anlass, den Herausgebern vorab für diese Wissenschaftlichen Untersuchungen zu danken und sie zugleich zu diesem Jubiläumsband von Herzen zu be­glück­wün­schen.
Der einleitende Forschungsüberblick, der minutiös den Zeit­raum von Ferdinand Christian Baur (1831) bis zu der neuesten Untersuchung zum Thema von John Fotopoulos (2003) überblickt, schließt mit der ernüchternden Feststellung, es gebe »nur vereinzelte Versuche, die Herkunft und den Bedeutungshintergrund dieser Gruppenattribute zu beantworten« (32). Also setzt diese Studie mit einer ausführlichen Untersuchung der Begriffe Schwäche/ schwach sein in der antiken Literatur ein. Das Attribut die Starken begegnet in 1Kor 8,1–11,1 gar nicht. Die TLG-Recherche für die ge­samte griechischsprachige antike Literatur zu ἀσθενὴς συνεί­δη-σις hat nicht einen einzigen Beleg für dieses Syntagma außerhalb von 1Kor 8,7–12 ergeben. Dieser Befund und etliche weitere Beobachtungen sprechen nach G. »für einen Ursprung des Gruppenattributs in 1Kor 8,1–11,1 im Kreise der Starken in Korinth« (50). Paulus habe dieses als Gruppenspezifikum verstandene Attribut aus dem Sprachgebrauch der Korinther übernommen. Es sei hier »von den Starken im pejorativen Sinn auf jene angewendet (worden), die korinthische Werte wie γνῶσις und ἐξουσία vermissen ließen …« (50). Die Untersuchung des Sprachgebrauchs, speziell des Begriffsgebrauchs zu ἀσθενής, zeigt deutlich, dass der korinthische Sprachgebrauch keinesfalls von einem jüdisch-hellenistischen Hintergrund, sondern eindeutig von einem hellenistisch-römischen abzuleiten sei (81). G. unterscheidet in diesem nun einerseits einen sozialen Begriffsgebrauch und andererseits einen kognitiv-rationalen, edukativen oder psychisch-emotionalen Gebrauch. An keiner Stelle jedoch sei wirtschaftlich-soziale Schwäche und kognitiv-rationale bzw. psychische Schwäche verknüpft (107). Die Bewertung durch die Starken als schwach beziehe sich nicht auf eine soziale Stellung, sondern basiere auf kognitiv-rationalen, edukativen und psychisch-emotionalen Kategorien, die für den Umgang mit Götzenopferfleisch eine entscheidende Rolle spielten (108). G. vermutet, dass dieser Sprachgebrauch in Korinth mit einem populärstoischen Deutungsrahmen, speziell mit der stoischen Affektenlehre und der sich daraus entwickelnden Seelenheilkunde verknüpft war (vgl. hierzu auch den ausführlichen Exkurs 2 zur sto­ischen Lehre von der Seelenkrankheit). Mit dem Motiv der Ge­wöhnung/ συνήθεια (1Kor 8,7) greife Paulus seinerseits gleichfalls auf die Affektenlehre zurück. Es folgt aus dieser Begriffsuntersuchung die Vermutung, »dass die Starken hinter den Skrupeln der Schwachen ein defizitäres Urteils- und Erkenntnisvermögen diagnostizierten, das seinerseits auf mangelndem Wissen beruhte und eine psychisch-emotionale Schwäche zur Folge hatte« (108). Im Forschungsbericht vermerkte G., dass Stanley K. Stowers im Jahr 1990 erstmals einen möglichen populär-philosophischen Hintergrund der Antithese stark-schwach erwogen habe, was 1995 Choon-Ho You-Martin in einer ungedruckten Heidelberger Dissertation aufgenommen habe. Wenn G. die Forschungsgeschichte korrekt aufgenommen und dargestellt hat, dann liegt sein eigener Forschungsbeitrag darin, erstmals in wirklich umfassender Weise auf den stoischen Hintergrund der Unterscheidung von Starken und Schwachen eingegangen zu sein und ihn in überzeugender Weise für die Interpretation des 1. Korintherbriefs und in einem weiteren Sinn auch für die Interpretation des Römerbriefs fruchtbar ge­macht zu haben.
Das bisherige Referat bezog sich auf die ersten ca. 100 Seiten der Dissertation, deren Forschungsertrag bereits beachtlich ist. Die folgenden etwa 400 Seiten behandeln nacheinander den Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Korinth und sodann in Rom. Es schließt sich im Folgenden ein Kapitel zur theologischen Interpretation von Schwachheit in der paulinischen Theologie an. Die exegetische Arbeit in diesen Teilen ist minutiös, stets auf der Höhe der Forschung, höchst differenziert und im Urteil ausgewogen. Manchmal gibt es Wiederholungen und manches hätte vielleicht auch knapper dargestellt werden können. So setzt etwa die Untersuchung der römischen Situation mit einer ausführlichen Darstellung des Profils der stadtrömischen Gemeinde ein (292–318), und es schließen sich wiederum breite Bemerkungen zum Abfassungszweck des Römerbriefs an (318–336). Man gewinnt den Eindruck, dass G. seinen textlichen Ausgangspunkt (1Kor 8,1–11,1; Röm 14,1–15,13) und sein begriffsgeschichtliches Ergebnis (s. o.) nun im Folgenden auf eine breite Basis stellen und es für die Gesamtinterpretation der beiden Briefe und der paulinischen Theologie fruchtbar machen möchte, was ihm auch durchaus gelingt. Halten wir in diesem Zusammenhang auch noch fest, dass diese Arbeit mit einem Literaturverzeichnis und einem differenzierten Register abgeschlossen wird, welche insgesamt 118 Seiten umfassen (519–636)!
G. erarbeitet das theologische Profil der Starken in Korinth mittels der sog. Schlagworte: ›es gibt nur einen Gott‹, ›wir haben Erkenntnis‹, ›alles ist uns/mir erlaubt‹. Er findet Hinweise für eine Identität der Starken mit der Apollosgruppe, ohne eine direkte Verwicklung des Apollos in die Konflikte annehmen zu wollen. Die These allerdings, die Starken hätten versucht, die Schwachen mit Hilfe einer psychagogischen Therapie durch rationale Schulung, Reflexion und praktische Übungen zur Überwindung innerer Schranken anzuleiten (191.216 u. ö.), scheint mir doch von der sto­ischen Seelenheilkunde an die korinthische Situation herangetragen zu sein. Für den oftmals behaupteten jüdisch-/judenchristlichen Hintergrund der Schwachen findet G. »keine Anhaltspunkte« (217). Dies sei »völlig ausgeschlossen« (206). Vielmehr spreche die in 1Kor 8,7 erwähnte Gewöhnung der Schwachen an Götzen und Götzenopferfleisch eindeutig für einen heidenchristlichen Hintergrund. Diese Eindeutigkeit des Urteils ist nach meiner Sicht textimmanent nachvollziehbar, wäre aber mit den von G. in Exkurs 10 erwähnten liberalen jüdischen Praktiken in Götzendienst- und Speisehalacha im Rahmen der paganen Alltagskultur dann doch wieder zu problematisieren. Die Reaktion des Apostels auf den Konflikt in Korinth respektiert die inhärenten Normen und weiß darum, dass sie nicht durch eine psychagogische Therapie oder durch die Freiheitsbotschaft des Evangeliums auf Seiten der Schwachen aufgehoben werden können. Die freilich von Paulus mit den Starken vertretene Haltung der objektiven Unbedenklichkeit des Genusses von Götzenopferfleisch markiert eine theologische Position, die bis ins 3. Jh. eine singuläre Einstellung innerhalb der sog. rechtgläubigen Kirche bleiben sollte (290).
Auch wenn Paulus in Röm 14,1–15,13 erneut von (Starken und) Schwachen sprechen wird, so appliziert er diese Begriffe in eine von Korinth grundsätzlich zu unterscheidende Situation. Fleisch- und Weinabstinenz sowie Kalenderobservanz erklären sich teilweise von jüdischen Reinheitsvorschriften her, und sie deuten auf ein Problem innerhalb des stadtrömischen Diasporajudenchristentums. Zudem wird im Römerbrief im Gegensatz zum 1. Korintherbrief die gesamte Götzenopfer(fleisch)-Thematik nicht angesprochen (361 f.). Die judenchristlichen Gruppen der Schwachen waren seit dem Claudius-Edikt ihrer Führungsschicht beraubt, und die Möglichkeiten des Erwerbs koscher geschlachteten Fleisches wa­ren seit dem Edikt äußerst begrenzt. In dem sich nach Aufhebung des Edikts in Rom anbahnenden Konflikt, dessen Ausgangspunkt G. im Gemeindegottesdienst einer oder mehrerer Hausgemeinden verortet (383), führt Paulus im Römerbrief die Begrifflichkeit von Starken und Schwachen ein, wohl wissend, dass dieses Begriffspaar nun auf eine völlig andere Situation angewandt wird, dass aber das mit ihm einhergehende theologische Konzept auch in diesem Konflikt Anwendung finden kann. G. wendet sich gegen die von der Mehrheit der Forschung vertretenen Sicht, indem er an­nimmt, die Gruppenattribute seien nicht von einem Teil der römischen Ge­meinde eingeführt, sondern von Paulus auf die römische Situation appliziert worden (445). Paulus verfolge hierbei das Ziel, einen festgefahrenen Konflikt auf eine andere Ebene zu verlagern und beiden Gruppen eine neue Form der Selbst- und Fremdwahrnehmung zu eröffnen (514). Der theologische Zugang des Apostels zu den Kon flikten gründet, was G. in seinem Werk durchgehend deutlich macht, in einer Verwurzelung in der Kreuzestheologie und in der theologisch bearbeiteten Kategorie der ›Schwachheit‹ im 2. Korintherbrief. »Durch die theologische Rehabilitierung der Schwachheit in einer antiken Kultur der pejorativen Qualifizierung derselben und der gleichzeitigen theologischen Bestätigung der Stärke eröffnet Paulus den streitenden Gemeindegliedern aller Zeiten eine neue Wahrnehmung füreinander.« (518)