Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

46–48

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Derrenbacker, Jr., R. A.

Titel/Untertitel:

Ancient Compositional Practices and the Synoptic Problem.

Verlag:

Leuven-Paris-Dudley: Peeters; Leuven: Leuven University Press 2005. XXVIII, 290 S. m. Abb. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 186. Kart. EUR 80,00. ISBN 90-429-1637-0 (Peeters); 90-587-501-7 (Leuven University Press).

Rezensent:

Michael Labahn

Die synoptische Frage, obgleich immer wieder durch die eine oder andere Theorie als beantwortet betrachtet, bleibt ein »Stachel im Fleisch« neutestamentlicher Exegese. So wird die zumeist als konsensfähig angesehene Zwei-Quellen-Theorie durch Modifikationen und Kon­kretionen beständig aktualisiert, aber ebenso regelmäßig durch Gegenmodelle problematisiert. Auf diese Weise bleibt die Suche nach neuen Indizien und Argumenten drängend. In diese Ausgangslage hinein meldet sich R. A. Derrenbacker mit seiner leicht überarbeiteten PhD Dissertation (University of St. Michael, Toronto, 2001) zu Wort. Seine Perspektive ist die der Kompositionstechnik antiker Werke und der Integration längerer Quellen in ihren plot.
Einer kurzen Einleitung zur forschungsgeschichtlichen Di­men­sion seiner These folgen zwei Hauptteile. Zunächst stellt D. antike Kompositionstechniken dar, um die Ergebnisse auf drei zentrale synoptische Theorien anzuwenden. D. unterstreicht zu Recht den hypothetischen Charakter der Ar­beit am synoptischen Problem, bei der vergessen werde, dass Lö­sungsmodelle »simply heuristic devices that make sence of the data« sind (1). Die Diskussion erfolge bisweilen auf Grund anachronistischer Denkmodelle und lasse methodische Selbstvergewisserung vermissen. Demgegenüber ist die antike Literaturproduktion hinsichtlich ihrer physischen Voraussetzungen ebenso wie antike Kompositionsmethoden (mit z. B. Longstaff und Downing als Vorgänger für diesen Zugriff) zu bedenken und die methodische Einsicht zu beachten, dass die Theorien Beschreibungen anhand von Textbeobachtungen sind, aber keine Aussagen darüber, »what actually happened« (6).
Der erste Hauptteil beginnt mit einer Einleitung in die Schreibkulturen der griechisch-römischen Antike (der Plural ist bewusst gesetzt: 21), in das Schreiben, das Bücherwesen und die Leserschaft. D. kritisiert die Vorstellung vom Wirken der Synoptiker als ›Schreibtischtäter‹ als anachronistisch (19). Behandelt werden As­pekte der Literalität, der Kosten des Schreibmaterials, der Schreibtechnik wie der sozialen Verortung der Schreibkulturen, der Buchproduktion und des Gedächtnisses. Mit Vernon K. Robbins verankert D. das literarische Wirken der Synoptiker in der »›rhetorical‹ culture« die er mit Robbins als »is aware of written documents, uses written and oral language interactively, and composes both orally and scribally in a rhetorical manner« definiert (27).
Im Blick auf die »Logienquelle« Q zeigen sich die Verbindungslinien zwischen den beiden Hauptteilen besonders deutlich. D. vermutet: »is it likely that Matthew’s source Q is in some form of a codex, which has the advantage of random access, since, as most contemporary Q scholars argue, Luke better preserves Q’s order than Matthew?« (37) Auf Grund des zufälligen Charakters der Q-Rezeption durch Matthäus (»random«) wird D. dies bestätigt finden: Q stellt sich als Kodex von 20 Seiten dar (253), aber auch eine nicht-visuelle Verwendung von Q, also Rezeption aus dem Gedächtnis, ist nach D. wahrscheinlich (254). Fragen mag man sich allerdings, ob solche Überlegungen nicht physisch wieder eine Anleihe bei einem »Schreibtisch«-Modell machen bzw. als heuristisches Gedankenmodell machen müssen; zudem sind Produktivität und Kreativität der Rezipienten zu bedenken und anzuerkennen, zumal sich die Änderung von Quellen als antikes Kompositionsmerkmal feststellen lässt (s. u.).
Der nächste Abschnitt widmet sich der antiken Quellenrezeption, die wörtlich oder frei, mit oder ohne Erwähnung der Quelle und ihrer Verfasser erfolgen kann. Untersucht werden die Quellenrezeption bei Arrian, der wie bei den synoptischen Parallelen aus­drück­lich zwei schriftliche Quellen in seinem Werk »Alexanders Zug nach Asien« zusammenfügt, Dionysios von Halikarnassos, Cassius Dio, 2Makk und Philostrats »Leben des Apollonius von Tyana« (hier wäre auch auf die Arbeiten von Koskenniemi zu verweisen). Die verlorenen Erinnerungen des Damis nimmt D. als Analogie für Q: »In fact, Philostratus confirms the existence of a lost source of sayings and deeds of a teacher (assuming, of course, that Philostratus is not creating a fictitious source in his preface)« (74); allerdings hilft es wenig, eine umstrittene Quelle als Indiz für eine andere, rekonstruierte zu beanspruchen.
Folgende Ergebnisse werden festgehalten: 1. Bevorzugung von Augenzeugen als Quelle, 2. häufige Verwendung mündlicher Tradition neben schriftlichen Quellen, 3. Auswahl der plausibleren Quelle bei Abweichung zwischen zwei Quellentexten, 4. Verwendung von ὑπομνήματα, 5. facettenreiche Aufnahme des Quellenmaterials zwischen Kürzung, Ergänzung und Änderung, 6. Darbietung von Quellenauszügen und 7. Einflechtung von Redepassagen in vorhandenes Material (75 f.).
Illustrativ, bisweilen durch die Quellensituation etwas hypothetisch, sucht D. die Technik der Adaption nachweisbarer Quellen zu analysieren. Folgende Textkomplexe werden bearbeitet: Über Indien (Parallelberichte bei Arrian, Diodorus Siculus und Strabo), Diodorus Siculus mit POxy 1610, Josephus (Jos Ant 7,53–89 par 2Sam 5,1–6,23//1Chron 11,1–16,43; Jos Ant 8,251–265 par 1Kön 14,25–31//2Chron 12,1–16; Jos Ant 8,212–420 par 1Kön 11,43–22,40//2Chron 9,31b–18,34). D. summiert: 1. die dargestellten Autoren folgen in der Regel jeweils nur einer Quelle, 2. wenn die Verfasser der Akoluthie einer Quelle folgen, verwenden sie üblicherweise auch deren Wortlaut, und 3. eine radikale Neuordnung des Quellenmaterials findet bei den dargestellten Autoren nicht statt (116 f.).
Im zweiten Hauptteil werden auf Grund der analytisch er­mittelten Basis die drei verbreitetsten Erklärungsmodelle für das synoptische Problem, die Neo-Griesbach-/Two-Gospel-Hypothese, die Farrer-Goulder-Hypothese und die Zwei-Quellen-Hypothese, kritisch be­leuchtet. Zunächst stellt D. die Modelle in ihrem jeweils gegenwär­tigen Forschungsstand und mit besonderer Rücksicht auf kompo­sitionelle Argumentationen luzide dar und analysiert anhand gut ge­wählter, je unterschiedlicher Textbeispiele die Kompositionstheorien, um sie mit den von ihm erarbeiteten Kompositionskriterien auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Es wäre zu fragen, ob die Theorien nicht wenigstens auch an einem gemeinsamen neutestamentlichen Textbereich geprüft werden sollten, damit ihr Erklärungspotential einem direkten Vergleich ausgesetzt wird.
So sehr die klaren kritischen und sachlich adäquaten Bemerkungen zur Neo-Griesbach- und zur Farrer-Goulder-Hypothese überzeugen, so wäre der Abgleich mit den von D. erarbeiteten Kriterien noch etwas textzentrierter und detaillierter zu führen gewesen, da in diesem Bereich neue Beobachtungen und Argumente zu erwarten wären. Dort, wo das Genuine der Arbeit von D. liegt, bleibt sie meiner Meinung nach leider bisweilen etwas blass, aber keineswegs unbedeutend; z. B. mit der Aussage, dass das als Buchrolle vorliegende Matthäusevangelium physisch dem postulierten Kompositionsmodell der Neo-Griesbach-Hypothese widerspricht (150). Eine wichtige Einsicht ist, dass das Modell der Zusammenfassung von Matthäus und Lukas (»conflation«), bei der sich Markus halbversweise des einen oder des anderen Quellentextes bedient haben soll, keine Parallele in antiken Kompositionstechniken hat (157). Die materielle Seite bekommt auch in Auseinandersetzung mit der Farrer-Goulder-Hypothese Gewicht; das Schreibtischmodell wird (bei Goulder allerdings ausdrücklich als angemessen behauptet) zum Gegenargument gegen die Theorie (202).
Hinsichtlich der Zwei-Quellen-Theorie stellt D. fest: »Luke follows a procedure much like that of Josephus: following one source at a time; allowing the source’s sequence to generally determine the sequence of his material; not adopting the wording of one source while following the sequence of the other« (213), so dass im Rahmen dieses Erklärungsmodells »Luke’s method of working with Mark and Q is relatively simple and straight forward, consistent with the known practices of writers in the Greco-Roman world« (215).
D. bringt zudem die Funktion des Gedächtnisses in die Diskussion um die Kompositionstechnik ein; der Umgang von Matthäus mit Markus und Q lasse sich als »repeated ›scannings‹« (234) im Kontext oraler Gedächtniskultur verstehen, wie D. auch für die Markus-Q-Überlappungen die Rolle des Gedächtnisses zur Klärung heranzieht. Leider bleibt dieser m. E. berechtigte Hinweis zu allgemein und füllt mehr eine Erklärungslücke im Rahmen der Hypothese, als dass er konkrete Vorgänge und Details verdeutlicht; dies bezeichnet ein Desiderat, das über die Studien von D. hinausgeht und die Gedächtnispsychologie für die Probleme von früh­christlichen Textbeziehungen fruchtbar macht. Andererseits muss konstatiert werden, dass der größere Raum nicht-visueller Reproduktion wie die Rezeption aus dem Gedächtnis zu neuen Anfragen an die Theorie führen wird.
Indem D. auf Probleme und Lücken gegenwärtiger Theoriebildungen zur synoptischen Frage hingewiesen hat und sich ihnen in Materialpräsentation und Sachdiskussion widmet, ist ihm ein gewichtiger Grundsatzbeitrag gelungen. Im Einzelnen mögen Fragen bleiben, wie viel Sicherheit mit den manchmal etwas generellen Hinweisen auf die antike Literaturproduktion und mit den bisweilen nur indirekt erschließbaren antiken Quellennutzungen in der Hypothesenbildung um das literarische Verhältnis der synoptischen Evangelien zu gewinnen ist. Die Detailarbeit an der Synopse will und kann die Studie von D. nicht ersetzen, aber sie kann diese Analyse vor sachfremden, an der antiken Literaturproduktion vorbeigehenden Argumentationsfiguren schützen. Beachtenswert ist schließlich, dass D. durch seine Beobachtungen zur antiken Literaturproduktion und Kompositionstechnik die Zwei-Quellen-Hypothese bestätigt.