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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

43–46

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Widmer, Michael

Titel/Untertitel:

Moses, God, and the Dynamics of Intercessory Prayer. A Study of Exodus 32–34 and Numbers 13–14.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XII, 403 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 8. Kart. EUR 64,00. ISBN 3-16-148423-1.

Rezensent:

Christian Frevel/Katharina Pyschny

Die vorzustellende Monographie, eine für den Druck revidierte und erweiterte Fassung einer Dissertation an der University of Durham (England), untersucht »the significance of the canonical portrayal of Moses the intercessor and God in the aftermath of characteristic modern pentateuchal criticism« (5). Dabei konzentriert sich Michael Widmer auf die mosaischen Fürbitten im Rahmen der Erzählung vom Goldenen Kalb (Ex 32–34) und der Kundschaftererzählung (Num 13–14), in denen er »Israel’s most severe offences against God in the Pentateuch« (6) sieht. Die Auswahl dieser beiden Erzählungen begründet W. in der Tiefenstruktur der Bezüge und der starken Ausprägung der innerbiblischen Verbindungslinien zwischen Ex 32–34 und der als »Kommentar« verstandenen Erzählung Num 13 f. (vgl. 7). Das Anliegen der Arbeit ist ein streng theologisches: die Klärung der Voraussetzungen und Funk­tionen der Fürbitte im Kontext einer Theologie des Gebets. Dabei ist W. stark von seinem Doktorvater Walter Moberly ge­prägt. Methodisch bedient er sich einer kanonisch-theologischen Vorgehensweise, des »canonical approach«. Unter partieller Be­rück­sichtung diachroner Textbefunde analysiert W. die Dynamik der mosaischen Fürbitten mit besonderem Schwerpunkt auf dem reichen theologischen Inhalt der mosaischen Gebete und deren theologischer Funktion im unmittelbaren und ausgedehnten nar­rativen Kontext. Im Hintergrund der Analyse steht die Er­kenntnis, dass die Hebräische Bibel Mose als das Vorbild eines Beters zeichnet, der auch für das christliche Gebet als konstitutiv anzusehen ist, insofern seine Gebete wichtige theologische Fragen aufwerfen. Für W. stellt das Gebet einen hermeneutischen Schlüssel zur Theologie dar (vgl. 6).
Nach einer kurzen Hinführung gibt W. im ersten Teil der Mo­nographie (3–87) einen Forschungsüberblick über die aktuellsten und bedeutendsten Studien zum Gebet im Alten Testament im Allgemeinen (angefangen von Karl Barth 1932–1953 bis Christopher R. Seitz 2001) und zu den mosaischen Fürbitten im Speziellen (von Walther Eichrodt 1933–1939 bis Christopher R. Seitz 2001). Leider wird dabei weitestgehend auf eine kritische Auseinandersetzung und eine eigene Positionierung verzichtet. Es folgt eine hermeneutische Reflexion, in der kurz die diachrone Dimension der Texte angesprochen, eine komplexe Entstehungsgeschichte der zu analysierenden Fürbitten erwogen und die Rollen des Mose als Fürbitter, Bundesmittler und Gesetzgeber mit Bezug auf die Studien von Wellhausen und Aurelius als exilische bzw. nachexilische Konstrukte beschrieben werden. Das theologische Interesse der Studie steht im Horizont hermeneutischer Überlegungen zur Biblischen Theologie und zu der Rolle des Alten Testaments darin. W. gibt einen kurzen Einblick in die Problematik des Begriffs »Altes Testament« und spricht sich letztendlich für die Beibehaltung dieser Terminologie aus, da »the terminology ›Old/New Testament‹ af­firms that the same covenanting God is behind the two covenant relationships« (66). In diesem Kontext definiert er »Old Testament Interpretation« als eine »confessional Christian discipline« (65).
Zum Schluss dieses Abschnitts stellt W. die enge Verbindung zwischen Fürbitte und Prophetie heraus, indem er den prophetischen Dienst, der in Mose als Prophet par excellence sein Ideal hat, als zweigeteiltes Amt darstellt: Verkündigung des Gotteswillens und Einsatz bzw. Fürbitte für das sündige Volk vor Gott. Der zweite und umfangreichste Teil der Studie (89–225) bietet eine sorgfältige synchrone Analyse der vier mosaischen Fürbitten bzw. der Gebet-Dialoge zwischen YHWH und Mose am Sinai (Ex 32–34) und ihres unmittelbaren Kontextes (1. Ex 32,11–13/Ex 32,7–14; 2. Ex 32, 31–32/Ex 32,15–34; 3. Ex 33,12–16/Ex 33,1–23; 4. Ex 34,8–9/Ex 34,5–35), nachdem die Verehrung des Goldenen Kalbs (Ex 32,1–6) in ihrer Endform und ihrer konzeptionellen Position als Archetyp der Rebellion Israels gegenüber YHWH herausgearbeitet worden ist. Die Abgrenzung der zu analysierenden Textpassagen wie auch die Abhandlung des entsprechenden Kontextes fällt jeweils unterschiedlich aus und basiert auf inhaltlichen bzw. thematischen Ar­gumenten. Da W. Num 14,11–35 als eine Art Kommentar von Ex 34,6–7 herausarbeiten möchte, kommt Ex 34,5–7 in der synchronen Analyse ein besonderer Stellenwert zu (vgl. 169–203).
In diesem Rahmen können die umfassenden Ergebnisse der Studie nur schlaglichtartig angedeutet werden: Mit Blick auf jüdische und christliche Interpretationen von Ex 32,7–10 versteht W. die Gerichtsankündigung in V. 9 f. als eine implizite Aufforderung YHWHs zur Intervention, der Mose bereitwillig folgt. In seiner Argumentation hinterfragt Mose YHWHs Intention auf drei Ebenen (1. Israels Status 2. YHWHs Reputation 3. Verheißung an die Patriarchen) und kann ihn auf diese Weise überzeugen, seinen ursprünglichen Plan mit seinem erwählten Volk weiterzuverfolgen. Obwohl das zweite mosaische Gebet laut W. durch eine gänzlich andere Stimmung als das vorhergehende gekennzeichnet ist, erarbeitet er Kontinuitäten zwischen erster und zweiter Fürbitte. Mose wird wiederum zur Intervention aufgefordert und somit in seiner Rolle und seinem Status als Fürbitter und Volksführer bestätigt (V. 33). Die Bitte des Mose, aus dem Buch gestrichen werden zu wollen, interpretiert W. nicht in Richtung eines stellvertretenden und sühnenden Handelns, sondern aus der Pragmatik der Für­bitte heraus. Gebet und Handeln des Mose verschmelzen zu einem appellativen Ganzen: »Moses acts as he prays« (333). In diesem Kontext charakterisiert W. Ex 32,7–14 als einen theologischen Kommentar zur Erzählung vom Goldenen Kalb, der in logischer Kontinuität zu Ex 32,30–34 steht. In ihrem offenen Ende zusammengenommen fordern diese beiden mosaischen Gebete weiteren Dialog und werfen zentrale theologische Fragen auf: Was wird in nächster Zukunft aus dem Volk Israel? Was passiert mit dem Bund zwischen YHWH und Israel?
Das Volk Israel bewegt sich inmitten von göttlicher Zerstörung auf der einen und göttlicher Vergebung auf der anderen Seite. Diese Situation konstituiert letztendlich das Fürbitter-Sein des Mose. Das dritte Gebet (Ex 33,12–16) verdeutlicht nach W., dass selbst der erwählte Mittler in seinem Verstehen von Gott beschränkt ist. Er befindet sich in einem Zwischenraum von Kennen und Nicht-Kennen (V. 17), von Sehen und Nicht-Sehen (V. 23). Das mosaische Gebet fordert die gänzliche Offenbarung von YHWHs Sein in der Schrift, die den mosaischen Fürbitten eine tiefere Erkenntnis der Natur Gottes und seiner Beschaffenheiten zuschreibt. Dabei betont Ex 33,18–23, dass die Erkenntnis Gottes nicht auf die sensorische und visuelle Sphäre beschränkt werden kann, sondern dass seine Präsenz auch klare moralische Dimensionen hat. Dadurch, dass die Offenbarung zunächst im Hinblick auf YHWHs Wesen und nicht auf seine Erscheinung dargestellt wird, wird die visuelle Erkenntnis der moralischen untergeordnet. Im Hinblick auf die Abfolge der Gebete versteht W. auch die Offenbarung des Gottesnamens von Ex 34,6–7 als eine Erfüllung von Ex 33, 19 ff. In diesem Kontext werden die V. 6–7 nicht als eine Formel oder ein Credo, sondern als eine Selbstoffenbarung der göttlichen Attribute und eine göttliche Re-Charakterisierung verstanden. Im vierten Gebet werden zentrale theologische Themen wieder aufgenommen und im Licht einer neuen Offenbarung aktualisiert. Mose stellt die Verstocktheit des Volkes als Basis und Ursache der Präsenz YHWHs dar. Er identifiziert sich mit dem Volk und bittet nicht um Vergebung bzw. Versöhnung, sondern um die Bewahrung und Erhaltung des Bundes.
Im dritten Teil der Studie (229–328) untersucht W. die mosaische Fürbitte in Kadesch (Num 13–14), indem er zunächst mit einigen historisch-kritischen Bemerkungen beginnt und, basierend auf Martin Noth, die Entstehungsgeschichte von Num 13–14 vorstellt (vgl. 236–253). Leider beschränkt sich in diesem Rahmen die Einarbeitung von neueren Hypothesen zur Entstehungsgeschichte von Num 13–14 (z. B. Horst Seebass, Ludwig Schmidt, Erhard Blum, Eckart Otto) – wenn überhaupt – auf die Fußnoten.
Es folgen Bemerkungen zum kanonischen Lesen von Num 13–14, in denen die Kundschaftererzählung trotz vieler Spannungen als eine mit Bedacht komponierte Erzählung dargestellt wird. Die Fürbitte des Mose (Num 14,13–19) ist zwischen der Rebellion Israels wie auch der göttlichen Gerichtsankündigung (Num 14,1–12) und einer zweiteiligen göttlichen Antwort (Num 14,20–35) mit darauf folgender göttlicher Bestrafung (Num 14,37) positioniert.
In diesem Kontext betont W. die enge literarische und konzeptionelle Verbindung zwischen der Selbstoffenbarung Gottes in Ex 34,6–7 und dem Gebet des Mose in Num 14,18–20. Diesem kommt mit seinen beabsichtigten, modifizierenden und die Offenbarung des Gottesnamens erhellenden Rückgriffen auf Ex 34,6–7 eine bedeutende Rolle zu. Indem es YHWH von der Zerstörung des Gesamtvolkes Israel abhält, erweist es sich als effektiv, auch wenn die sündige Generation außerhalb des Landes sterben muss. Die Bitte um החילס schließt somit keine ausgeführte Bestrafung des Volkes aus. Die Verfolgung der dritten und vierten Generation durch YHWH in Ex 34,7 und Num 14,18 versteht W. u. a. mit Bezug auf die Studie »Corporate Responsibility« von J. S. Kaminsky folgendermaßen: Solange die sündige Generation lebt, umfasst das Gericht alle folgenden Generationen, so dass die junge Generation an der Bestrafung der sündigen Generation teilhaben muss (Num 14,33). Stirbt die sündige Generation, werden die Kinder nicht mehr die Schuld und die Strafe ihrer Eltern teilen müssen. Die Nachkommen werden so zu potentiellen Trägern der ausstehenden göttlichen Verheißung. Eine umfangreiche Zusam­menfassung, eine Bibliographie wie auch ein Stellen-, Autoren- und Begriffsregister schließen die Monographie ab.
Die Studie bietet eine sorgfältige und hilfreiche Analyse der mosaischen Fürbitten am Sinai (Ex 32–34) und in Kadesch (Num 13–14) auf synchroner Ebene. W.s exegetische Ausarbeitung der schwierigen Texte und ihrer unmittelbaren Kontexte ist durch eine auf­fallende Sorgfalt und präzise Textwahrnehmung gekennzeichnet. Der hermeneutische Ansatz, der das Gebet als Schlüssel zur Theologie auszeichnet, fördert wichtige theologische Erkenntnisse zu Tage und leistet einen wichtigen Beitrag zur Theologie des Alten Testaments. Die Erarbeitung einer Dynamik der mosaischen Fürbitten kann ebenfalls als äußerst gelungen be­zeichnet werden. W. zeigt überzeugend auf, dass die prophetische Fürbitte und das in Ex 34,6 f. ausgedrückte Gottesbild eng miteinander zusammenhängen. Auch die übergreifende These, dass Num 13 f. und Ex 32–34 nicht nur in der mosaischen Fürbitte, sondern auch auf der Ebene des Pentateuch kompositionell und theologisch eng aufeinander bezogen sind, ist weiterführend.
Das Verhältnis von synchronen und diachronen Ausführungen in der Studie hingegen ist kritisch zu betrachten. Positiv ist zu­nächst, dass W., obwohl er sich methodisch auf den »canonical approach« stützt, sowohl für Ex 32–34 als auch für Num 13–14 diachrone Ansätze (überwiegend des älteren Vier-Quellen-Modells) referiert. Leider gelingt es ihm jedoch nicht, diese beiden Ebenen in einen auch methodisch fruchtbaren Dialog zu bringen oder sie angemessen aufeinander zu beziehen, um weitere Schlüsse daraus ziehen zu können. So kommt es zu einem methodischen Nebeneinander, ohne dass daraus ersichtlich oder nachvollziehbar wird, welchen Stellenwert die diachronen Ausführungen in der Studie einnehmen. Dies verschärft sich dadurch, dass die Diachronie meist ziemlich verkürzt und teilweise nur anhand »traditioneller« Hypothesen (z. B. Wellhausen, Noth) dargestellt wird.
Dennoch ist die Studie all denen zu empfehlen, die an einer theologischen Perspektive der mosaisch geprägten Prophetie in Verbindung mit der Selbstoffenbarung Gottes in der Gnadenformel sowie an einer Theologie des Gebets interessiert sind.