Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1007–1009

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Agus, Aharon R. E.

Titel/Untertitel:

Hermeneutic Biography in Rabbinic Midrash. The Body of this Death and Life.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. VIII, 262 S. gr. 8° = Studia Judaica, 16. Lw. DM 168,­. ISBN 3-11-015067-0.

Rezensent:

Michael Tilly

Die biographischen Erzählungen als haggadische Gattung der rabbinischen Traditionsliteratur lassen sich nur mit großen Vorbehalten als Berichte über Leben und Lehren historischer Rabbinen verstehen, sind sie doch zum einen zumeist recht spät entstanden und zum anderen erkennbarer Ausdruck der paränetischen wie propagandistischen Bestrebungen rabbinischer Kreise. Erschwert wird ihre Verwertung als historische Quelle durch die Abhängigkeit ihres Motivinventars von der hellenistischen Gelehrtenbiographie.

A. unternimmt in der vorliegenden Monographie den Versuch, die Bedeutung dieser biographischen Erzählungen für die jüdische theologische Forschung neu zu bestimmen. Das in der Einleitung (1-3) gesteckte Ziel besteht in einer gemeinsamen Analyse einzelner haggadischer Bestandteile der rabbinischen Überlieferung, wobei er den Bogen von den biblischen Traditionen bis zu den späten Amoraim spannt. Unter der Annahme der Existenz verschiedener "patterns" (2), denen die von ihm untersuchten Texte in Mischna, Tosefta, Midraschim, dem jerusalemischen und dem babylonischen Talmud zuzurechnen seien, beabsichtigt A., die Gattung "hermeneutical biography" (3) als "life-story whose logic of factuality and unity is grounded in the interpretation of a (Rabbinic) personality; and whose theological-religious legitimacy is perceived in the hermeneutics of traditional material" (3) zu bestimmen. Hiervon ausgehend sollen wiederum die Einzeltexte in ihrer jeweiligen Funktion und Intention erhellt werden.

A. versteht das Ergebnis seiner Untersuchung als "montage made up of montages" (2), was sich bereits in deren Aufbau ausdrückt: Den beiden Hauptteilen "I: R. Eleazar ben R. Simeon ben Yohai and his Wife, or: The Body of this Death" (19-80) und "II: The Ladder of R. Phinehas ben Yair, or: The Body of Life" (81-201) gehen zwei Prologe ("I: The Crisis of Will" [4-11]; "II: The Fear of Nothingness" [12-18]) voran. Zwei Epiloge ("I: The Temptation Unto Nothingness" [202-231]; "II: When I Want, You do not Want" [232]) sowie Register der verwendeten Quellen (233), der biblischen und rabbinischen Stellen (234-240), der Rabbinen (241 f.) und Schlagworte (243-262) schließen das Buch ab. Ein Verzeichnis verwendeter Sekundärliteratur fehlt.

Anknüpfend an eine Auslegung von Ex 33,20 in b Ber 7a weist A. im 1. Prolog auf die Existenz zweier in entgegengesetzte Richtungen zielender "vectors" (11) in der Beziehung des Menschen zu Gott hin: "the sense of having received the Torah" und "the will-to-world" (11), deren Erfahrung das Heilsverlangen des religiösen Individuums bestimme. Grundlage dieser Interpretation ist für A. die Notwendigkeit, die "historically determined literary nature" der Texte ernst zu nehmen (7). Im 2. Prolog entwickelt A. anhand von b Suk 53a/b und j Sanh 29a, 52 ff. sein Verständnis der Ambivalenz jeder Erfahrung von Heil und Unheil: "the central motive of the confrontation with total undoing is the very same moment of confrontation with God ­ in the coming-near to him" (18).

Der 1. Hauptteil beginnt mit dem Versuch, anhand der als "phenomenological hermeneutics" (28) verstandenen Deutungen von Ps 104 im amoräischen Schrifttum (21-28) die Entfaltung einer "biography that is thus itself an interpretation of Scripture" (28) nachzuzeichnen. Die haggadischen Überlieferungen über R. Eleazar ben Simeon, d. h. auch die Legenden und Anekdoten, die sich um ihn rankten, seien Teile "of the unfolding hermeneutics of his ’biography’" (30). Deren wesentlicher Bestandteil sei "R. Eleazar’s huge physicality" (30) als Ausdruck seines "being at home in the world" (33). Da nicht das Bewußtsein der Gruppenzugehörigkeit, wie bei der Gemeinschaft von Qumran, "the historical neighborhood in which the Rabbis in Palestine lived" [36]), sondern die Erkenntnis der Existenz des Frommen in der unauflöslichen Spannung zwischen "Gott" und "Welt" dessen Leben bestimme, sei für R. Eleazar ben Simeon ebenso auch die "awareness that this being of power-within-the-world meant power as the world dictated it" (64) maßgebend, was ihn zu der Erkenntnis führe, "un-becoming as a release from the tyranny of becoming" zu begreifen. A. schließt hieraus: "The essence of the religious person is his self-perception as undeserving" (78 Anm. 52).

Im 2. Hauptteil wird zunächst ein (positives) Erklärungsmodell des Exils in der rabbinischen Überlieferung entfaltet ("the actual living of the righteous ’in the land’ ­ a dispossession ­ becomes itself paradigmatic rather than a memory or expectation of a glorious past or future of material success in the land" [88]), um davon eine Verständnistradition des Sündenfalls als ­ gleichsam übergeschichtliches ­ "turning-around in the vector of the persent [sic!], a discovering of oneself and God as being together in-exile-in-the-world" (91) abzuleiten. Die "hermeneutical biography" R. Pinchas ben Jairs als "memory of person that interprets, recreates and therefore creates anew just as a literary text is created" (98), deutet A. vor dem Hintergrund des jenem zugeschriebenen "Kettenspruchs" (M Sot IX 15) bzw. dessen Formen in der amoräischen Literatur (b AZ 20b; j Schek 47c, 40-45. 58 ff.).

Die hierin überlieferte ungewöhnliche Verknüpfung persönlicher Frömmigkeit und nationaler Erlösungshoffnung sei Ausdruck seiner "theology-anthropology" (115), die aus der "crystalization of the Rabbi’s personality in tradition" (144) hervorgehe. A. unterscheidet zwischen den "events of the ritualistic-cultic dimension" (Eifer, Reinheit, Absonderung; 118) und der in der Totenauferstehung als "experience of radical re-becoming" (142) gipfelnden Stufenfolge (Frömmigkeit, Demut, Sündenfurcht, Heiligkeit) als Ausdruck einer "theology of pure, that is totally undeserved grace" (136).

Sowohl Auswahl als auch Ergänzung der biblischen Erzählungen um den Propheten Elija in der sich um R. Pinchas ben Jair rankenden haggadischen Überlieferung seien im Rahmen einer "theological anthropo-ecology" (169) bzw. als "a living-out of meaning" (182) zu verstehen: "The religious man himself dissolves out of his I-ness into a caring for unarmed otherness" (178). Diese Erkenntnis ermögliche die gemeinsame Existenz "of the self, man, and the non-self, the Other ... in a new allowing of the being of the world and man" (197). Der 2. Hauptteil endet mit der Warnung, die historische Verwertbarkeit der rabbinischen Texte nicht vorschnell in Zweifel zu ziehen, denn: "they were taken seriously ­ otherwise they would not have been told thusly" (201).

Während im 1. Epilog der Versuch unternommen wird, eine "Rabbinic Theology of Chaos" (211-229) zu entwerfen ("the becoming of the world out of the substance of tohu-va-bohu is grasped as a threateningness to the very existence of the world as man experiences it"; 228), stiftet A. im 2. Epilog Verwirrung mit dem Versuch, das Verhältnis zwischen menschlichem und göttlichem Willen auf der Grundlage von b Ber 7a zu umreißen.

A.s Entwurf eines umfassenden theologischen Systems auf der Grundlage der biographischen Erzählungen in der haggadischen Überlieferung leidet neben der mangelhaften Korrektur (Druckfehler häufen sich besonders bei weniger geläufigen Wörtern) besonders unter seinem Charakter als "montage made up of montages". Intention, Methodik und Durchführung sind nur mit Mühe nachvollziehbar. A. verläßt über weite Strecken seiner Untersuchung den methodischen Konsens historisch-theologischen Arbeitens. So ist beispielsweise die Bezeichnung der Gemeinschaft von Qumran als "historical neighborhood" der Rabbinen ein deutlicher Ausdruck der Entscheidung A.s, eine diachrone Auswertung der Quellen hintanzustellen. Ebenso unterschlägt die Annahme eines feststehenden Repertoires religiöser Chiffren und Metaphern in den biographischen Erzählungen jegliche Sinnverschiebungen im Motivinventar der rabbinischen Überlieferung. A. kann keine historische Situation plausibel machen, in der solche "historischen" Interpretationen der Realität und der eigenen Existenz entstanden sind, zumal gerade die Kategorie des "Selbstverständnisses" dem antiken Denken fremd ist.

Die systematisch-theologische Intention A.s erfordert eigentlich die Auseinandersetzung mit der einschlägigen aktuellen Literatur, zumindest aber die Angabe der stillschweigend zugrundegelegten (und identifizierbaren) philosophischen und theologischen Entwürfe (z. B. Rosenzweig, Lévinas).

Der Wert des Buches liegt in der Darbietung eines interessanten und diskussionswürdigen Beitrags zur theologischen Anthropologie im Rahmen gegenwärtiger jüdischer Frömmigkeit und Theologie. Als historische Untersuchung ist es hingegen kaum brauchbar.