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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

28–30

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Berner, Christoph

Titel/Untertitel:

Jahre, Jahrwochen und Jubiläen. Hepta­dische Geschichtskonzeptionen im Antiken Judentum.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XIII, 564 S. m. Tab. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 363. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-019054-0.

Rezensent:

Stefan Beyerle

Die umfangreiche Studie (Diss. theol. Göttingen 2005) profiliert ih­ren Neuansatz zur Untersuchung heptadischer Strukturen in antik-jüdischen Texten an der aktuellen Forschungsgeschichte. Fast allen bisherigen Beiträgen (Milik, Koch, Dimant, Maier) wirft B. lücken­hafte Quellenbehandlung und die ideologische Voraussetzung eines chronologischen Modells vor. Definitorisch be­stimmt B. eine heptadische Geschichtskonzeption als »auf der Siebenzahl aufbauende[s] Ordnungsgefüge zur Darstellung ge­schicht­licher Ereignissequenzen« [12; im Orig. kursiv]. Ziel der Arbeit ist eine theologische Konturierung der hinter dem Phänomen begegnenden Ge­schichts­dar­stel­lungen. Kapitel I schließt mit einer wenig überzeugenden Begründung für die chronologische Aufreihung der Einzelbelege, die sich besser an Problemzusammenhängen orientiert hätte.
Die Kapitel II–VI behandeln Dan 9, äthHen, Jub, die Qumrantexte (einschl. 4QpsDana–b u. 4QpsJuba–c) sowie TestLev unter jeweiliger Berücksichtigung der aktuellen Forschungslage und der Textkompositionen. Dan 9, jüngster Bestandteil in Dan 1–12* (mit Kratz) und durch das Bußgebet in V. 4b–19 bzw. V. 27 erweitert, wurde in seinem Grundbestand (V. 1–3.21–26) nach 167 v. Chr., aber noch vor 164/163 v. Chr., für seinen Kontext verfasst. Durch die enge Kontexteinbindung von Dan 9 bezieht sich Gabriels Deutung nicht nur auf die folgende Schriftauslegung (V. 24–26), sondern auch auf die voranstehende Vision (8,27b; vgl. V. 16). So bezeichnen die »70 Jahrwochen (den Frevel zu vollenden)« die Zeit der heidnischen Fremdherrschaft. Der Wechsel vollzieht sich im »Heraufbringen der ewigen Gerechtigkeit« ( םימלע קדצ, V. 24; vgl. Jes 45,8), durch Gott bewirkt. Die im Nachtrag (V. 27) betonte Zerstörung des »Verwüs­ters auf Gräuelschwingen« (םמשמ םיצוקש ףנב־לע) bezeugt schließlich die Geschichtsmächtigkeit Gottes. Insgesamt zeige sich in Dan 9 eine dem Pescher ähnliche Auslegung biblischer Traditionen, die gänzlich dem dtr Geschichtsdenken verpflichtet sei (Steck, Kratz).
Kapitel III behandelt heptadische Strukturen im äthiopischen Henochbuch, insbesondere in der Zehnwochenapokalypse und der Tiervision. B. schließt sich der Rekonstruktion der Zehnwo­chenapokalypse von D. C. Olson an und geht von folgender Text­gestalt aus dem frühen 2. Jh. v. Chr. aus: äthHen 91,1–10; 92,3–5; 93,1–10; 91,11–19, innerhalb zweier Reden Henochs im Kontext der »Epistel« (äthHen 92 ff.). Im Anschluss an eine eigene Textrekonstruktion und Übersetzung folgt die Einzelexegese, die eine kunstvolle Komposition vielfacher Querbezüge erarbeitet. Darauf aufbauend schließen sich strukturelle Beobachtungen an, die eine planvolle Ringkomposition, gespiegelt nach dem fünften Siebent, erkennen lassen und die je angrenzenden Siebente in paarweiser Anordnung konzentrisch aufgebaut sehen. Ungeklärt bleibt dabei etwa, weshalb die Komposition schon durch die Situierung des Verfassers im siebten Siebent (s. auch B.) zumindest auch die Struktur »7 + 3« aufweist. B. diskutiert ausführlich und verwirft alle Modelle einer alternativen Rekonstruktion chronologischer Strukturen (z.B. Charles, Koch, Dimant).
Analog zur kunstvollen Komposition sei hier zum Trost eine heilsgeschichtliche Idealchronologie konstruiert, die sich nicht verrechnen ließe. Die Tiervision (äthHen 85–90), datiert nach 164 v. Chr., bietet die in eine Erzählung ge­kleidete Allegorie. Ihre Gesamtdeutung orientiert sich an den reformulierten Epochen der biblischen Erzählungen. Sie thematisiert im Metaphernkomplex »Hirten – Schafe« das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Ähnlich wie schon zu Dan 9 betont B. für die Tiervision den Bezug zu den 70 Jahren aus Jer 25. Nur dass es hier nicht auf chronologische Interpretamente (»Jahrwochen«), sondern auf die Sinnstiftung der Verfasser-Gegenwart durch die als Engel zu deutenden »70 Hirten« (vgl. äthHen 89,59–90,19) ankommt, auch wenn sich die Geschichte über vier Epochen zu 70 Hirtenzeiten erstreckt. Die Unterteilung der vier Epochen in 12 + 23 +23 +12 Jahre bezieht sich wie die »70« auf Jer 25 (vgl. V. 3) und konstruiert ein ideales Zeitraster. Wie schon die Angabe zur Strafzeit der Wächter in äthHen 10,12 (70 Generation) zielen die heptadischen Ge­schichtskonzeptionen im äthiopischen Henochbuch insgesamt auf unterschiedliche Akzentuierungen eines geschichtstheologischen Ideals (Ur- und Endzeit-Schema).
In Kapitel IV folgt auf eine literar- und redaktionskritische Analyse des Jub (eschatologischer Nachtrag in Jub 1,5–26.27 f.; 23,14–31; 50,5 und 1,4.29) die Einzelexegese. B. arbeitet minutiös das Zeitmus­ter von Jub 2–50 (Hebr., Äth.) heraus, indem er die Abweichungen zur biblischen Chronologie (einschließlich MT, Sam, LXX etc.) listet und ge­wichtet. Die divergierende Bezugnahme des Jub auf die Vorlage in Gen 1–Ex 24 zeigt, dass diese nicht grundsätzlich als autoritativ an­gesprochen werden kann. Jub entwickelte also ein »individuelles Re­zeptionskriterium« (302). Insgesamt biete die Grundschicht einen im Zeitraum 159–152 v. Chr. entstandenen priesterlichen, hepta­dischen Gesamtentwurf von der Schöpfung bis zur Landnahme, der nach der Einsetzung Jonathans zum Hohenpriester im Sinne dtr Um­kehr-Paränese universalgeschichtlich reinterpretiert worden sei.
Die Behandlung der Qumrantexte in Kapitel V geht von der Deutung der Schriftrollen als Bibliothek einer gegen den Jerusalemer Tempel sich abgrenzenden Gruppierung aus. B. diskutiert CD, 4Q180 und 181, 4QpsJuba–c, 4Q228, 4QpsDana–b, 4Q247, 4QApocryphon of Jeremiah C u. 4Q390, 11QMelchizedek sowie 4Q319 u. 320. Die Tradition heptadischer Zeiteinteilungen wurde höchst unterschiedlich rezipiert. So existiert in qumranischer Tradition etwa die Interpretation der Negativepoche zwischen Exil und eigener Ge­genwart mit Hilfe von 70 Jahrwochen und 40 Wüstenjahren unausgeglichen nebeneinander. Schließlich analysiert B. das Testament Levis (Kapitel VI), eine bereits christliche Überlieferung, der keine literarische Abhängigkeit vom jüdischen ArLev (1Q21; 4Q213–214b: frühhellenistisch) nachgewiesen werden kann. In TestLev 16 zeigen sich zwar Verknüpfungen mit Dan 9 und äthHen 89,59–90,19, je­doch bleibt ein vorchristlicher Hintergrund des Kapitels spekulativ. Dagegen sei TestLev 17 von jüdischer Provenienz: Eine sieben Jubiläen umfassende Folge nachexilischer Priesterschaft zielt auf die Absetzung Onias III. und wurde nachträglich in V. 9–11 um den Verweis auf die frevelhaften Hasmonäer erweitert.
B. kommt das Verdienst zu, mit Akribie und kritischer Differenzierung ein zentrales Motiv antik-jüdischer Geschichtskonzeption und -deutung umfassend dargestellt zu haben, indem er die These einer heptadischen Universalchronologie verabschiedet. Die Studie, die mit einer knappen Auswertung und der obligatorischen Bibliographie bzw. Stellen- und Autorenregistern schließt, besitzt ihre Stärken in der Einzeldiskussion der Belege, auch wenn man dort kritische Anfragen formulieren darf: Ist etwa dem Geschichtsentwurf des Jub mit literarkritischen Operationen angemessen Rechnung getragen? Oder kann die Ideologiekritik auch dann noch überzeugen, wenn etwa zu Dan 9 oder der Hirtenvision (äthHen 89,59–90,19) selbst der Ideologie zu verdächtigende Deutungsmus­ter, wie das dtr, herhalten müssen?