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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

21–22

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ladeur, Karl-Heinz, u. Ino Augsberg

Titel/Untertitel:

Toleranz – Religion – Recht. Die Herausforderung des »neutralen« Staates durch neue Formen von Religiosität in der postmodernen Gesellschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. IX, 151 S. gr.8°. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-149072-9.

Rezensent:

Norbert Janz

Die deutsche Rechtsordnung und das Gemeinwesen insgesamt stehen angesichts einer Wieder- bzw. erstmaligen Einkehr des Religiösen vor gravierenden Umwälzungen. Vielfältige Entwicklungen und Mechanismen zwingen zu einem grundsätzlichen Überdenken hergebrachter Denkmuster und führen letztlich zu einer Neuausrichtung des Religiösen im Staate. Exemplarischer Ausdruck für eine nur mehr limitierte Geltung des modus vivendi sind die mannigfachen Auseinandersetzungen, die der Islam auf seinem Weg von einer »Hinterhofreligion« in das Zentrum bundesrepublikanischer Auseinandersetzungen hervorbringt. Die Anzahl der Muslime, die von wenigen Hundert in den 50er Jahren auf nunmehr bald vier Millionen Gläubige angewachsen ist, legt hiervon beeindru­ckend Zeugnis ab. Damit einher geht seit langem eine tiefgreifende Säkularisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft; erst in jüngster Zeit sind hier auch gegenläufige Entwicklungen – eben eine Wiederkehr des Religiösen – zu gewärtigen. Dies alles vollzieht sich unter dem unveränderten Rechtsregime der Glaubensfreiheit des Art. 4 GG.
Die anzuzeigende, erfreulich schmale Schrift, verfasst von einem renommierten Hamburger Rechtstheoretiker und Staatsrechtslehrer sowie seinem Assistenten, versucht einen Fingerzeig auf eine Neujustierung der Begriffstrias »Staat – Religion – Recht« zu geben. In drei Abschnitten nähern sich die Antworten den veränderten Inhalten dieser Termini an und stellen sie zueinander in eine neuartige Beziehung.
Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet das Wieder­aufleben der Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit um die Stellung der Religion, obgleich sich die Religion als eine gesellschaftsstrukturprägende Kraft auf dem Rückzug befindet. Diese paneuropäische Tendenz sei nicht nur auf den Islam beschränkt (wie z. B. das Wirken der Evangelikalen beweise), quantitativ wie qualitativ zeige sie sich hier aber in besonderer Deutlichkeit. Verschärft werde die Situation durch eine eigene religiöse Profilbildung, die durchweg mittels einer Radikalisierung erfolge. Gegenüber derartigen Herausforderungen könne der Staat nicht passiv bleiben. Seine religiöse Neutralität und Toleranz fungierten nur als wohlfeile Formeln, die zur Lösung des Problems wenig beitrügen.
Ladeur/Augsberg analysieren in einem ersten Kapitel die Idee der Toleranz mitsamt ihrer christlichen Wurzeln. Toleranz müsse als historisch gewachsenes Prinzip verstanden werden. Das »Paradox der Toleranz« bedeute: »Toleranz muss geübt werden gerade in bezug auf das ihr gegenüber andere, fremde: also das Intolerante; eben das aber kann und darf sie dem eigenen Selbstverständnis nach wiederum nicht.« Die Toleranz müsse als Konfliktlösungsprogramm bei primär religiösen Auseinandersetzungen (re-)aktiviert werden.
Im zweiten Teil werden neue Erscheinungsformen des Religiösen in der postmodernen Gesellschaft analysiert. Religion müsse mehr als ein kollektives Phänomen wahrgenommen werden. Dezidiert wird die großzügige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Inhalt der Glaubensfreiheit kritisiert. Dessen individueller Ansatz einschließlich der einzelfallweisen Abwägung wird insgesamt abgelehnt. Der Islam sei kaum modernisierungsfähig, jedenfalls sei seine Anpassungsfähigkeit an mitteleuropäische Rechtssysteme sehr begrenzt; eine Vermutung zu Gunsten islamischer Toleranz bestehe nicht. Letztlich plädieren die Autoren auch unter Berücksichtigung des englischen und französischen Status quo für eine Art Kulturstaatlichkeitsklausel im Sinne eines Grundkonsenses über das Verhältnis von Religion und Staat.
Im dritten Kapitel führen Ladeur/Augsberg aus, wie der Staat ein »diversity management« an Stelle formaler Gleichbehandlung aller Religionen betreiben müsse. Eine Vielzahl von juristischen Streitfällen wird aufgeführt, anhand derer die insoweit »verschärfte« Toleranz auf ihre Tauglichkeit hin geprüft wird. Mittels einer über-individuellen Betrachtung müssten kennzeichnende Konfliktsituationen typisierend erfasst und mit passenden Reaktionsmustern versehen werden.
Insgesamt stellt das Werk ein kraftvolles, nicht immer leicht zu rezipierendes Plädoyer für einen kollektiv-ausgerichteten, »verschärften« Toleranzbegriff dar, der unter bestimmten Umständen eine Anpassung kulturfremder Religionen an die hiesige individuell ausgerichtete (Grund-)Rechtsordnung einfordert. Damit überschreiten die Autoren – das ist zu betonen – die bundesverfassungsgerichtlich markierten Pfade einer Auslegung der Glaubensfreiheit mit der Folge, dass jedenfalls in der Rechtsprechung das Echo auf die gemachten Vorschläge gering ausfallen wird.