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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

454 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wollbold, Andreas

Titel/Untertitel:

Kirche als Wahlheimat. Beitrag zu einer Antwort auf die Zeichen der Zeit.

Verlag:

Würzburg: Echter 1998. 461 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 32. Kart. DM 56,-. ISBN 3-429-02004-2.

Rezensent:

Paul M. Zulehner

Es ist beachtlich, wenn eine Habilitationsschrift einen nahezu umfassenden Entwurf einer Pastoraltheologie riskiert. Wollbold hat dies gewagt. Er versucht ein inzwischen schon "klassisches" Vatikanisches Aggiornamento, also, wie der Untertitel des dicken Werkes erkennbar macht, eine "Antwort auf die Zeichen der Zeit". Präziser müßte der Titel freilich lauten: "auf ein, wenn auch zentrales Zeichen der Zeit", nämlich die Sehnsucht der Heimat der Menschen im Kontext hochentwickelter, aber entnetzter und einsamer Freiheit.

Es geht also nicht nur um die Ursehnsucht des Menschen nach dem "Wurzeln" (nach Gerhard Schmidtchen, Was den Deutschen heilig ist, München 1979, eines der beiden "Lebensheiligtümer" neben dem Wachsen). Vielmehr geht es um die derzeitige Wiederentdeckung dieser Sehnsucht nach zwei europäischen Freiheitsjahrhunderten (spätestens ab der französischen Freiheitsrevolution 1789), in denen sich eine einsame unbezogene Freiheit herausgebildet hat, die zudem unter den neoliberalen Prämissen ökonomischer Globalisierung für die vereinzelt Freien immer riskanter wird. W. nimmt an, daß die Menschen heute wieder die Balance suchen zwischen jener Freiheit, hinter die sie nicht mehr zurück möchten, und dem lange vernachlässigten Wunsch nach Einnetzung, nach dem "Wurzeln", eben nach der Beheimatung. Aus der Verbindung von Freiheit und Heimat, von Wurzeln und Wachsen, wird logischer Weise der Begriff der "Wahlheimat" geboren. Es geht, um ein gänzlich anderes Sprachspiel zu verwenden, um eine Form von Gemeinschaft, die trägt und entlastet, zugleich aber die Freiheit nicht stiehlt, sondern durch ihre Entlastung erst ermöglicht. Gesucht wird von immer mehr Menschen damit auch eine intelligente Reinstitutionalisierung (im Sinn von Arnold Gehlen): nicht gegen den Freiheitsanspruch, sondern um der Freiheit willen.

Dieser Wunsch nach der Wahlfreiheit ist freilich nur eine, wenn auch die kreative Reaktion auf die unbezogenen riskanten Freiheitskonzepte der letzten Jahrzehnte. Es gibt daneben auch eher bedenkliche: Nämlich den fundamentalistischen Abschied von der Freiheit, und dies in der Gesellschaft und oftmals in übersehenem Wechselspiel auch in den religiösen Gemeinschaften. Faktisch gibt es somit drei soziokulturelle Strömungen und damit Zeichen der Zeit: den ungebrochenen postmodernen Vereinzelungstripp; die autoritäre Reaktion darauf; schließlich den kreativen Versuch nach einer Beheimatung unter Wahrung der Freiheit. Auf dieses kühne und vielleicht sogar schwierigste, möglicher Weise kulturell gar nicht so wahrscheinliche, sondern eher gefährdete Projekt konzentriert sich W.s Studie. An diese Teil-Zeichen der Zeit knüpft er an. Auf dieses allein baut er - unter Vernachlässigung der anderen Strömungen, diese eine aber als zukunftsfähigen Haupttrend wünschend- baut er seine Studie auf: auf eigene Hoffnung hin.

W.s Hoffnung könnte dadurch sogar noch genährt werden, daß die Kirchen auf diese mehr gewünschte als schon breite Entwicklung in Richtung beheimateter Freiheit setzen und so zu deren Stärkung beitragen: Ein Aspekt, der die seine forscherische Denkrichtung ("wie kirchliches Handeln der gegebenen Situation entsprechen kann" - 17) von der Gesellschaft zur Kirche hin noch einmal umkehren würde; dann müßte nicht nur die Kirche von den Zeich en der Zeit lernen, sondern sie könnte auch- von einer Vision des Menschen und seiner bezogenen Freiheit ausgehend - die Gesellschaft lehren und zu deren gedeihlichen Entwicklung beitragen. Dann wäre zu fragen, wie kirchliches Handeln die vorfindbare Situation verändern kann! Die Arbeitsweise wäre dann nicht nur reaktiv, sondern offensiv.

W.s Kernthese lautet nun: "Kirche könnte eine solche Wahlheimat werden. Denn in ihr erscheint ein Voraus Gottes, das ein solches Sinn- und Beziehungsgefüge aufzubauen vermag, daß Menschen darin als Erlöste leben können." (16) Dieses Kernanliegen verfolgt der Autor mit pastoraltheologischer Gründlichkeit. Der Schlüsselbegriff "Heimat" wird - gegen die Zurückhaltung der rezenten praktisch-theologischen Diskussion gegenüber diesem Begriff als Gegenwort zur Befreiung als Exodus aus Seßhaftigkeiten - im Dialog mit Sozialwissenschaften (69-122; 146-175), Literatur (123-145), sodann im Umkreis der biblischen Tradition (174-190) sowie der in der neutestamentlichen Koinonia-Vision (212-219) gründenden Vatikanischen Communio-Ekklesiologie (191-270) analysiert.

Die starken bibeltheologischen wie systematisch-theologischen Passagen nehmen einen erfreulich breiten Raum ein. Die mystagogische Durchdringung der menschlichen Beheimatungssehnsucht mit der Verheißung der Beheimatung des Menschen im dreifaltigen Gott, wovon im kirchlichen Leben Spuren erfahrbar werden sollten, ist sein zentrales Anliegen. Dies macht die Studie nicht einfach zu einem oberflächlichen pastoralpraktischen Buch, sondern zu einer pastoraltheologischen Grundlagenstudie. Eine oft wiederkehrende Formel ist das "Voraus Gottes und Darin des Menschen", welches dieses Ineinander von Sehnsucht und Verheißung, zwischen Schöpfungs- und Heilsgeschichte verdichtet einfängt.

W. bleibt aber nicht auf der Ebene der Grundlagenforschung, so wohltuend es ist, unter theologisch vielfach seichten, mehr pastoral als theologischen Studien eine solche wirklich theologische Studie zu finden. Wie kann - so bewegt es ihn im dritten Teil seiner Studie - kirchliches Leben so inszeniert werden, daß von seiner Vision von einer Kirche als Wahlheimat auch im kirchlichen Alltagsleben etwas wirklich wird. "Sich wählbar machen" ist hierfür eine wichtige Formel (317 ff.). Das setzt voraus, daß die heute so vielfältigen lebensweltlichen Alltagserfahrungen der Zeitgenossen (sind diese aber wirklich so pluralistisch-vielfältig? Dreht sich das Leben der meisten nicht auch heute um Lieben und Arbeiten und in die Enge des Gemenges von Hoffnung und Angst getrieben, was das Ganze soll?) im kirchlichen Leben vorkommen. Geht das, so fragt er zu Recht, in den hochritualisierten Gemeindegottesdiensten, gelingt dies in der Spache der heutigen Verkündigung? W. beweist bei der Verfolgung solcher Fragen Konsequenz und Weite in einem. Auf der einen Seite läßt er nicht ab von der Forderung, daß im Gottesdienst dem Lebensweltlichen Raum zu geben ist und dieses in seinen Tiefen mystagogisch zu erschließen ist - was aber in dieser anspruchsvollen Form nur in "Zielgruppen" gelingen könne: und doch wirbt er auch für den niederschwelligen Gemeindegottesdienst und für die glaubensmäßig nur schwach untermauerte Spendung von Sakramenten auf Hoffnung hin. Er läßt sich in der Verfolgung seines Zieles eben nicht darauf ein, die geforderte Wählbarkeit kirchlichen Lebens wegen der theologischen Qualitätssicherung wieder zu verraten und neuen "Autoritarismen" zu huldigen, wie er sie beispielsweise in der Gemeindekatechese ortet (397).

Es wäre hilfreich, könnte W. seine in breiten und tiefschürfenden Analysen den schwer überlasteten Menschen - den Hauptamtlichen und noch mehr den Ehrenamtlichen, denen er eine wichtige Rolle beimißt - in der Alltagspastoral in kurzer Form und eingängiger Sprache zukommen lassen. Wer sich mit dichten Zusammenfassungen, die zugleich noch weiterführen, leicht zurechtfindet, liest mit (Zeit-)Gewinn den "Offenen Schluß" (388-401).

Wie gut abgestützt in der rezenten Fachdiskussion die Studie von W. ist, zeigen das ausführliche 45seitige Literaturverzeichnis sowie das imposante Personenregister (448-456) am Ende der Monographie, die durch ein kleines Glossar (457-461) zu wichtigen Begriffen im vorgelegten Denkgebäude abgerundet ist.