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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1238 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Appl, Karl F.

Titel/Untertitel:

Geschichte der evangelischen Kirchen in Chile.

Verlag:

Neuendettelsau: Erlanger Verlag für Mission und Ökumene 2006. 226 S. 8°. Kart. EUR 12,00. ISBN 978-3-87214-616-8.

Rezensent:

Roland Spliesgart

Der Protestantismus in Lateinamerika ist ein überaus weites Forschungsfeld, das durch soziologische, ethnologische und (kirchen-) historische Einzelstudien punktuell erschlossen ist (vgl. R. Spliesgart, Historiographie des Protestantismus in Lateinamerika, in: Periplus 2006, 87–98). Zu Chile sind Arbeiten zur Pfingstbewegung (E. Willems, C. Lalive D’Epinay) sowie zur »aus der deutschen Einwanderung entstandenen lutherischen Kirche« (F. Mybes, 1993) einschlägig bekannt. Auf Spanisch sind bislang zwei Überblickswerke verfasst: De Peregrinos a Ciudadanos. Breve historia del cristianismo evangélico en Chile von J. Sepúlveda (1999) und Bosquejo de la historia de las Iglesias en Chile. Historia de Iglesias Evangélicas Chilenas (1996) von dem Pfarrer Karl F. Appl. – Bei der nun vorliegenden Arbeit desselben Vf.s handelt es sich um die übersetzte, revidierte und im Schlussteil erweiterte Fassung dieses Buches – erstaunlicherweise wird dies an keiner Stelle erwähnt. Die Arbeit ist Ergebnis der Tätigkeit des Vf.s als Dozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Comunidad Teológica Evangélica de Chile in Santiago 1990–1996. Auf der Basis von – überwiegend spanischer – Sekundärliteratur erstellt der Vf. einen knappen Überblick über die Genese der protestantischen Kirchen Chiles, wobei dem eigentlichen Thema mit einem Kapitel nur knapp die Hälfte des Gesamtumfangs gewidmet ist.
Nach einer knappen Charakterisierung des Kontinents vor 1492 (Kapitel 1) und der etwas isoliert wirkenden Darstellung möglicher Periodisierungen lateinamerikanischer Christentumsgeschichte (Ka­pitel 2) wird das spanische Kolonialprojekt aus einer dezidiert anti-eurozentrischen Sicht charakterisiert (Kapitel 3–9). Als Ergebnis der – wirtschaftlich wie missionarisch gleichermaßen motivierten – Eroberung (Conquista) hält der Vf. fest, dass die Identität der »besiegten Menschen« völlig zerstört und ihnen das Evangelium »in seiner europäisch mittelalterlichen Form ... übergestülpt« (17) worden sei. Die Ausbreitung des Protestantismus wird demgegenüber ausschließlich als Modernisierungsgeschichte dargestellt (98). Deren Bedingungen werden mit den sozioökonomischen Veränderungen im Zuge der Unabhängigkeit Chiles, dem Erstarken liberaler, antikatholischer Kräfte und der dadurch ausgelösten Krise des Kolonialkatholizismus thematisiert (Kapitel 10–12).
Die detaillreiche Darstellung der Protestantisierung Chiles er­folgt gemäß der klassischen Ausbreitungswege (Kapitel 13): (individuelle) Bibelkolportage (seit 1818), Mission durch (angelsächsische) Gesellschaften (seit 1846) und europäische (deutsche) Einwanderung (seit ca. 1850). Wurden damit – so der Vf. – lediglich fremde Formen des Protestantismus ›transplantiert‹, so kam es erst mit der Entstehung nationaler pentekostaler Kirchen (seit 1909) zu einer eigenständigen Rezeption protestantischer Frömmigkeit durch die chilenische Bevölkerung. Das Schlusskapitel 14 gibt einen Überblick über die ökumenische Bewegung in Lateinamerika und die protestantische Zusammenheit in Chile bis zur Gegenwart.
Die Leitfrage des Buches, »[o]b der Protestantismus ... das Ziel der Umwandlung der Menschen und der Gesellschaft erreichte« (101), wird durchgehend schematisch beantwortet. Während der Vf. Bibelkolporteure und Missionare vorwiegend als Agenten des angelsächsischen Protestantismus bezeichnet (100) und deutschstämmigen Einwanderern attestiert, dass sie mit ihrer »Diaspora­situation als Evangelische und Deutsche [nicht] zurechtkamen« (141)– Letzteres lediglich durch einen Verweis auf H.-J. Prien (1978) belegt –, wird eine Kontextualisierung des Protestantismus ganz im Zusammenhang der nationalen Pfingstbewegung gesehen. – Die im Blick auf eine differenzierte Betrachtung ergiebige Perspektive, bei der Ausbreitung des Protestantismus nach der jeweiligen Mischung von Fremdem und Eigenem sowie der Entstehung neuer Formen im Kontext Chiles zu fragen, wird hingegen nicht be­dacht. Welche Bedeutung hatte es etwa, wenn deutsche Einwanderer schworen, »ehrenwerte und fleissige Chilenen zu sein« (144), und die chilenische Staatsbürgerschaft annahmen?
An dieser und anderen Stellen zeigen sich methodische Schwächen der Arbeit: Wissen aus Kompendien und lokalen Arbeiten wird aneinandergereiht – erkennbar an den vielen, oft überlangen Zitaten. Dabei überwiegt der institutionengeschichtliche Fokus. Wenn der Befreiungstheologe L. Boff pauschal als Gewährsmann für die soziologische Frage, »ob die Aufklärung in Lateinamerika von der Bevölkerung ... wirklich aufgenommen wurde[n]« (77), zitiert wird, offenbart dies die mangelnde Rezeption interdisziplinärer Zugänge. Zur Erforschung des chilenischen Protestantismus wichtige Arbeiten von J.-P. Blancpain zur Immigration und E. Willems zum Pentekostalismus (1967) bleiben ebenso unberücksichtigt wie Standardliteratur zum lateinamerikanischen Protestantismus. – Auch in formaler Hinsicht ist die Liste der Monita lang: Neben Mängeln in der Rechtschreibung, dem Inhalt (vgl. 52: Latein als Indianersprache) und der Edition beeinträchtigen die durchgehende Zitation von Quellen aus der Sekundärliteratur sowie das Fehlen einer Landkarte Chiles den Nutzen der Arbeit für den wissenschaftlichen Gebrauch.
Insgesamt ist deutlich, dass das Buch in seiner Anlage für protestantische Theologiestudierende in Chile konzipiert war. Dem Le­ser in Deutschland bietet der Band – erstmals – auf überschaubarem Raum einen Überblick über die Ausbreitung protestantischer Kirchen in Chile. Dabei lassen sich exemplarisch zahlreiche Phänomene studieren, wie sie für den Protestantismus in Lateinamerika überhaupt typisch sind. Für weiterführende Forschungsarbeiten werden so zahlreiche Anstöße gegeben, einen eigenen interpretativen Beitrag leistet die Arbeit indes nicht.