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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1252–1254

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lachmann, Rainer, Adam, Gottfried, u. Martin Rothgangel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethische Schlüsselprobleme. Lebensweltlich – theologisch – didaktisch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 384 S. 8° = Theologie für Lehrerinnen und Lehrer, 4. Kart. EUR 26,90. ISBN 978-3-525-61423-5.

Rezensent:

Thomas Schlag

In der viel gefragten Reihe der Theologie für Lehrerinnen und Lehrer ist nun ein vierter Band erschienen. Nach den »Theologischen Schlüsselproblemen«, den »Elementaren Bibeltexten« und den »Kir­chengeschichtlichen Grundthemen« (vgl. dazu ThLZ 130 [2005]) reagieren die Herausgeber erneut auf die aktuelle religionspädagogische Diskussionslage, nun also auf das jüngst wieder zunehmende Interesse an ethischen Fragen auf den Feldern religiöser Bildung.
Dem Vorwort zufolge (7 ff.) besteht die Hauptintention des Bandes darin, Lehrkräften in der »brandakuten Unterrichtspraxis« eine »elementar problemzentrierte ethische ›Kurzinformation und -reflexion‹« anzubieten. Im Vorwort wie in den drei einleitenden Beiträgen (R. Lachmann, Ethische Urteilsbildung: Elemente, Kriterien, Perspektiven, 13–22; G. Adam, Ethisches Lernen: Methoden und Formen, 23–37; M. Rothgangel, Schlüsselprobleme: Begründung und Auswahl, 38–46) wird das Vorhaben in sachlicher Bezug­nahme auf W. Klafkis Konzept zum Erwerb allgemeiner Bildung ausgewiesen. Ethische epochale Schlüsselprobleme sollen als Kern eines kritisch-konstruktiven Bildungskanons (vgl. 7.40) identifiziert und »Schlüsselqualifikationen« durch ein christliches Wertkonzept (vgl. 14) theologisch qualifiziert werden. So wenig unin­teressant wie folgenlos ist der Hinweis, dass man sich an einen Grundgedanken von G. Lämmermanns Elementarisierungskonzept anschließt, dabei aber dessen ideologiekritischen Zugang um der eigenen induktiv ansetzenden Religionsdidaktik und größerer Wahrnehmungsfreiheit willen durch den Begriff des Lebensweltlichen ersetzt.
Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen werden auf der Grundlage einer Schlüsselproblem-Liste Klafkis elf ihrerseits teilweise nochmals untergliederte Schlüsselprobleme auf ihre le­bensweltlichen, theologischen und ethischen Aspekte hin be­leuchtet und jeweils unter Einbezug des jeweiligen Themenbestandes in aktuellen Lehrplänen für den didaktischen »Umgang« (8) bedacht.
Was auf den ersten Blick in seiner Grundstruktur sehr einheitlich erscheint, entpuppt sich bei näherer Analyse als he­terogen. G. Adam geht im Blick auf Fragen der »Umwelt« (49–65) von einer grundsätzlichen Wachheit und enormen Sensibilität Jugendlicher für diesen Fragenkomplex aus. Unter der Prämisse »das Gebot der Nächstenliebe mitweltlich« zu interpretieren (55), sollen Fragen »ökologischer, um- und mitweltlicher Bildung« thematisiert werden, indem »deutlich der Schöpfungshorizont und die daraus resultierende ethische Verantwortung« (64) zur Geltung gebracht werden. Von einer dialektischen Sicht auf ein Schlüsselproblem sind M. Rothgangels Ausführungen zu »Gewalt/Aggression« als Teilthema von »Frieden/Gewalt« (66–86) geprägt. Dabei betont er die prinzipielle »Fragmentarität und Unvollkommenheit des Menschen« sowie den thematischen Span nungsreichtum biblischer Überlieferung und plädiert dafür, die »Grenzen pädagogischer Bemühungen realistisch zu bedenken« (80). Wenn man der Analyse Reinhold Mokroschs (87–104) trauen mag, manifestiert sich jugendliche Problemwahrnehmung beim Thema »Frieden/Krieg« als vielfach selbstwidersprüchlich. Seine Ausgangsthese, dass Schüler angesichts des Kriegsleides in der Welt »auf Hilfe (im RU) angewiesen« (89) sind, mündet in die Forderung an die Religionskräfte, ihre Schüler auf der Grundlage des christlichen Glaubens bzw. in der Perspektive der Bergpredigt »für eine Fernsten- und Universalethik aufzuschließen« und sie aufzufordern, »gegebenenfalls Unrecht zu erleiden« (101). Hier wie in manchen anderen Beiträgen erscheinen die Zuschreibungen der Einstellungen Jugendlicher eher holzschnittartig und die Jugendlichen selbst dabei seltsam sprachlos, ganz zu schweigen von einigen eher klischeehaften »Originalzitaten« (vgl. 89). Dass man bei Vorbildern immer noch vor allem an Gandhi, King und die Bewegung »Ge­waltfrei leben lernen« denkt, ist möglicherweise nicht der eindrück­lichste Beleg für die Innovationskraft gegenwärtiger Religionspäda­gogik. – Innerhalb des Bandes fallen allerdings eine Reihe von Beiträgen ins Auge, die über die gesetzten Gliederungsstandards hinaus intensiver nach dem Verhältnis von theologischer und ethischer Begründung fragen.
Heinrich Bedford-Strohm stellt seine empirische Beschreibung des Problemkomplexes »Bevölkerungswachstum/Welternährung« (104–124) ausdrücklich in einen theologisch-ethischen Reflexionshorizont und differenziert – was gerade bei diesem Thema als sachgemäß erscheint – zwischen intuitiven Plausibilitäten und theologisch-ethischen Orientierungs- bzw. Urteilsmaßstäben, etwa der Goldenen Regel als einem »Interpretationsmittel des Doppelgebots der Liebe« (111). Das Thema »Gerechtigkeit/Ungleichheit« wird durch Annebelle Pithan auf die Dimension »Geschlechtergerechtigkeit« (125–144) hin plausibel dargestellt, von Bernd Schröder auf Fragen der »Ökonomische[n] Verteilungsgerechtigkeit: Geld und Eigentum« (145–163) hin eindrücklich beleuchtet und durch den zu früh verstorbenen Martin Bröking-Bortfeldt, dem der Band gewidmet ist, auf »Politische Gerechtigkeit: Macht und Herrschaftsformen« (164–182) hin fokussiert. Friedrich Johannsen sieht in seinem Beitrag zur »Globalisierung« (183–197) insbesondere in alternativen NGOs wie Attac, aber auch im Projekt Weltethos didaktische Möglichkeiten, eine »andere«, solidarische und nachhaltige Globalisierung zu veranschaulichen. Manfred L. Pirners Überlegungen zu den »neuen elektronischen Medien« (198–215) nehmen im Vergleich die faktische Lebenswelt Jugendlicher deutlich in Augenschein. Wolfram Weiße knüpft in seinem Beitrag zu »Interkulturalität/Interreligiosität« (216–232) an Klafkis Plädoyer für eine Bildung in weltbürgerlicher Absicht an und markiert inhaltliche Standards für den notwendigen interreligiösen Dialog.
Einen eigenen Abschnitt stellen Ausführungen zu »Ich-Du-Beziehungen« dar: von Raimund Hoenen zu »Freundschaft/Liebe/ Sexualität« (233–249), von Christian Grethlein zu »Ehe/Familie/ Gleichgeschlechtliche Beziehungen« (250–266) und von Ulrich Schwab zum »Verhältnis der Generationen« (267–285). Grethlein und Schwab gelingt es überzeugend, die Vielfalt jugendlicher Einstellungen und die Pluralisierung gegenwärtiger Lebensformen und Lebenslagen (vgl. 254.270) zu integrieren.
Schwab bezieht als praktisch einziger der Autoren auch aktuelle säkulare Jugend-Literatur mit ein. Warum nur er? Indem Grethlein die biblischen Traditionen selbst als pluriform zur Anschaulichkeit bringt, wird sein anerkennendes Plädoyer für eine »Neubewertung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften« (261) theologisch plausibel grundiert. R. Lachmann und Reinhard Wun­derlich widmen sich unter der Überschrift »Freizeit/Arbeit« den Themen »Arbeit/Ar­beits­losigkeit« (286–301) und »Freizeit: Zeitverwendung/Zeitverschwendung« (302–322). Wunderlich siedelt »Frei-Zeit« in wohltuender Weise mitten im »säkularen Konvergenzraum« (302) an und fragt zu Recht kritisch an, ob denn Kinder und Jugendliche möglicherweise als die wahren Zeitpioniere und Zeitsouveräne viel sinnvoller und selbstständiger mit ihrer Zeit umzugehen vermögen »als unsere eigenen eingeschliffenen Zeit-Ordnungen ihnen zugestehen wollen?« (319).
Reiner Anselm und wiederum H. Bedford-Strohm schließen als ausgewiesene Vertreter theologischer Ethik den Band mit Beiträgen zu »Gesundheit/Krankheit/Behinderung« (323–342) und »Bio­ethik: Technisierung und Menschenwürde« (343–363) ab. Für die Unterrichtspraxis nachdenkenswert ist Anselms Hinweis darauf, dass der übliche Zugang zu Zuschreibungen von Krankheit und Behinderung »über die Gedanken von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde häufig abstrakt [bleibt]«, weil die normativen Forderungen nicht ausreichend lebensweltlich zu vermitteln sind. Bedford-Strohm benennt gegenwärtige bioethische Grundansätze und zeigt prägnant ethisch-theologische Grundbestimmungen zu Fragen des Lebensbeginns und Lebensendes auf, um damit für alle Urteilsbildung »zwar keine direkt ableitbaren Antworten«, gleichwohl eine »gehaltvolle Basis« (358) bereitzustellen.
Angesichts der Fülle aktueller ethisch konnotierter Problemlagen ist den Herausgebern und Autoren eine sinnvolle Schwerpunktbildung gelungen, die für die Arbeit der Lehrkräfte im Re­ligionsunterricht (sowie hoffentlich auch für Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrer Bildungsarbeit!) inspirierend und orientierend zu­gleich sein dürfte. Allerdings befriedigt manche lebensweltliche Analyse ebenso wenig wie die faktische Rezeption gegenwärtiger theologischer Ethik (so werden etwa die Entwürfe von T. Rendtorff, E. Herms, D. Lange oder J. Fischer kaum oder gar nicht explizit erwähnt). Zudem erscheint die Beschreibungsbasis der Vielfalt jugendlicher Lebensformen und deren ethisch bedeutsamer Wahrnehmungshorizonte – mit den erwähnten Ausnahmen – als ausgesprochen dünn. Ein prinzipielles Problem dürfte im Ausgangspunkt des gewählten problemorientierten Zugangs überhaupt liegen. Warum man sich ausgerechnet an Klafki anschließt, wird nicht argumentativ abgearbeitet. Es wäre deutlicher zu unterscheiden ge­wesen zwischen dem, was die Autoren resp. die kundigen Erwachsenen als Problem und was die Kinder und Jugendlichen selbst explizit als problematische Aspekte ihrer Lebensvollzüge ansehen.
Für die zukünftige religionspädagogische Beschäftigung mit ethischen Themen in Schule und Gemeinde sollte in jedem Fall Bedford-Strohms Hinweis beachtet werden: »Ethische Urteilsbildung in Verantwortung für das Leben vollzieht sich ... immer im Spannungsfeld zwischen den Hoffnungen und Sehnsüchten der Menschen und klaren ethischen Orientierungen, die zu einem gelingenden Umgang mit diesen Hoffnungen und Sehnsüchten helfen« (359 f.). Für diese spannungsreiche Aufgabe regt der vorliegende Band cum grano salis in vielfacher Weise an.