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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1244 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Evers, Ralf, u. Ulfrid Kleinert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wenn keiner den ersten Stein wirft – mit Schuld und Vergebung leben. Anstöße und Analysen aus Recht, Psychologie und Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 160 S. 8° = Akzente der Ent­wick­ung sozialer Arbeit in Gesellschaft und Kirche, 10. Kart. EUR 18,80. ISBN 3-374-02330-4.

Rezensent:

Matthias Ahrens

Einmal Knast – immer Knast: Auch Ulfrid Kleinert kann sich nicht vom Gefängnis lösen. Nicht, dass er schon jemals zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden wäre; nein: Der ehemalige Rektor der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden befasst sich seit mehr als 30 Jahren mit Fragen des Gefängnisses, genauer: mit Problemen von Strafgefangenen aus unterschiedlichen Perspektiven. Und er stiftet andere an mitzutun, z. B. seine Studierenden: Dreimal sprachen sie im Rahmen eines Seminars im Dezember 2004 mit Gefangenen der Justizvollzugsanstalt Dresden über Schuld, Sühne und Vergebung. Reflektiert wurde dieses Projekt auf Grund von Impulsen aus den betroffenen Disziplinen Recht, Psychologie und Theologie. Reflektierte Praxis also und angewandte Reflexion – so soll es sein. In diesem Band sind die Elemente des Projekts dokumentiert.
Den Anfang machen die Impulse aus den drei Disziplinen: Der Jurist Wolfgang Deichsel leitet seinen Beitrag mit einem Blick auf das Verständnis von Schuld in der alltäglichen Kommunikation und in der Literatur ein. Davon ausgehend erläutert er den aus guten Gründen stark formalisierten Schuldbegriff in Rechtswissenschaft und gerichtlicher Praxis. Das bewahrt vor allem den juris­tischen Laien davor, das fachliche Gespräch über Schuld zu überladen und damit uferlos werden zu lassen. Zum Thema Sühne weist Deichsel über die Gefängnisstrafe hinaus auf Diversion, am­bulante Maßnahmen, Täter-Opfer-Ausgleich, Sozialtherapie und konstruktive Schuldkonfrontation hin.
Über das juristische Verständnis von Schuld hinaus schildert die Psychologin Angelika Franz die Entstehung von Schuld(gefühlen) mit Begriffen von Sigmund Freud. Besonders wichtig ist ihr die Unterscheidung von realer und imaginärer Schuld. Im Kleinen – dem familiären Rahmen – wie im Großen – dem Umgang mit Naziverbrechen – problematisiert sie die Muster von Strafe und Gehorsam.
Ulfrid Kleinert stellt »Schuld als anthropologische [neben] Sünde als theologische Grundkategorie«, wobei der Begriff Sünde allein für Gläubige in abrahamitischer Tradition gilt. Am Beispiel einer Auseinandersetzung um die Vergebung von Schuld der Nazis gegenüber jüdischen Opfern schildert er dann, wie schwierig Vergebung zu erreichen ist. Deshalb geht es darum, so Kleinert, »konkrete Schuld« auf sich zu nehmen und die Vergebung der Sünden als »freies Geschenk« von Gott zu erbitten.
Rache oder Opfer bezeichnet Ralf Evers im zweiten theologischen Beitrag als archaische Möglichkeiten, die »Reziprozität der unmittelbaren Vergeltung« deutlich zu machen. Da aber die »Gleichheit der Teilnehmer«, die diesen Mechanismen zu Grunde liegt, meist nicht gegeben ist, spricht er sich schließlich für Versöhnung aus als »die Form von Vergeltung, die nicht auf dem Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit, sondern auf dem Prinzip von Stellvertretung beruht«.
Das Gespräch, dessen Wiedergabe den Band beschließt, haben die beteiligten Autorinnen und Autoren als lebendig, konstruktiv und zusammenführend in Erinnerung. Die Herausgeber weisen in der Einleitung allerdings selbst darauf hin, dass diese Lebendigkeit »in der Wiedergabe nicht immer erkennbar« ist. Stärker überarbeitet und gestrafft hätte dieser Abschnitt seine Aufgabe, die verschiedenen Perspektiven zusammenzuführen, wohl leichter er­füllt.
Der »Bericht Schuld, Strafe und Vergebung – Gespräche im Ge­fängnis«, in dem das eigentliche Studienprojekt geschildert wird, ist zwischen den Impulsen und dem abschließenden Gespräch unangemessen platziert, mehr noch: Zwischen den thematischen Schwergewichten fällt er kaum auf. Nur bei sehr genauem Hinsehen wird deutlich, dass dieses Seminarprojekt den Hintergrund für alle anderen Beiträge abgibt, dass die Beiträge mehr als eine allgemein akademische Beschäftigung mit Begriffen, dass sie vielmehr die Reflexion einer seelsorgerischen Praxis darstellen.