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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1242–1244

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Adam, Júlio Cézar

Titel/Untertitel:

Romaria da Terra – Brasiliens Landkämpfer auf der Suche nach Lebensräumen. Eine empirisch-liturgiewissenschaftliche Untersuchung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 310 S. m. Abb. gr.8° = Praktische Theologie heute, 72. Kart. EUR 29,00. ISBN 3-17-018811-9.

Rezensent:

Sabine Plonz

Dieses Buch des lutherischen Theologen Júlio Cézar Adam entstand als Dissertation im Fach Praktische Theologie und wurde von den Hamburger Professoren Peter Cornehl und Hans-Martin Gutmann begutachtet. Es ist eine interdisziplinär und multiperspektivisch angelegte Arbeit. Gegenstand der Untersuchung ist die Beschreibung, Kommentierung und Analyse der »Romaria da Terra« im brasilianischen Bundesstaat Paraná. An dieser seit 1978 regelmäßig stattfindenden »Wallfahrt für das Land«, Demonstration und liturgischen Feier beteiligen sich jeweils zwischen 5000 und 7000 Menschen. An einem ausgewählten Ort ihres Kampfes um bestellbares Land und gegen ihre gewaltsame Vertreibung, der Erinnerung an das 500 Jahre alte Unrecht der brasilianischen Agrar-Un-Ordnung und an den ebenso lange währenden Widerstand indigener, schwarzer und europäischer Volksgruppen versammelt sich unter der Ägide der katholischen Landpastoral eine politisch sensibilisierte Menge, um »eine Liturgie zu kreieren, die wie ein Spiegel ihrer selbst wirkt« (275). Es werden Geschichten er­zählt, Erfahrungen und wichtige Gegenstände des Landlebens dargestellt, Klagen und Proteste vorgetragen, eine längere Prozession durchgeführt und schließlich ein Fest mit gemeinsamen Mahl begangen. Der Lebens- und Subjektbezug macht die Romaria zu einer »Erfahrung von Gesamtheit« (275). Das Wechselspiel von Alltag und Feier, Religion und Politik, Wirklichkeit und Symbol verändert die Menschen und strahlt auf ihr entbehrungsreiches Leben aus. Um das Verständnis dieses Prozesses geht es A.
A. geht einerseits sehr strukturiert vor, andererseits schaut man durch die fünf Kapitel seines Werkes wie durch ein Kaleidoskop auf immer dieselbe Veranstaltung. Eine Lese-Erfahrung ist, dass die so unvermeidlichen Wiederholungen kurz vor dem Abgleiten in Redundanz weitere Farben des Charakters der Romaria aufleuchten lassen. Die Darstellungsweise ist somit Spiegel der Untersuchungsmethode. Sie lässt sich als eintauchendes Beobachten eines theologiegeschichtlich erst zu konstruierenden Ereignisses begreifen. Dadurch entspricht sie auch dem rituell-symbolischen Forschungsgegenstand, der selbst auf vertiefendes und wiederholendes Durcharbeiten angelegt und angewiesen ist.
Im ersten Kapitel erläutert A. den historischen und sozioökonomischen Kontext der Wallfahrt. Im längsten, zweiten Kapitel wird die Romaria des Jahres 2000, die das Thema »Schulden« (der Landbevölkerung und der Handelsnation Brasilien) hatte, minutiös ge­schildert, von der Orts- und Themenfindung bis zu den beim Abschlussfest getanzten Sambas. Dabei verweist A. kontinuierlich auf implizite und explizite theologische Aspekte. Im dritten Teil lässt er Akteure mit ihren Biographien, sozialen und religiösen Vorstellungen zu Wort kommen und arbeitet die Bedeutung der Romaria für die von ihm interviewte Frau und zwei Männer heraus.
Hier zeigt sich, dass eine Besonderheit der Romaria ihre kollektive Erarbeitung in einem Team von Laien der Landpastoral und ihre Verbindung zur politischen Landlosenbewegung ist. Katholische Bischöfe (und protestantische Theologen) wirken eher am Rande mit, auch wenn ihre solidarische Präsenz bei der Veranstaltung »vom Volk« erwartet wird. Spätestens hier schaut sich die deutsche Leserin suchend nach ähnlichen Lebens- und Glaubenszeugnissen aus dem Milieu der Besitzlosen, Kinderreichen und Ungebildeten ihres eigenen Landes um und fragt sich nach deren Würdigung durch die hiesige wissenschaftliche Theologie und kirchliche Reformkonzepte.
Das vierte Kapitel widmet sich im engeren Sinn der ritual- und liturgiewissenschaftlichen Analyse. Sie macht die Wirkmächtigkeit der Wallfahrt an den Kategorien »Lebensraum« und »Orte an der Grenze« fest. Das fünfte Kapitel zieht Bilanz, indem das innovatorische liturgische Potential der Romaria herausgestellt wird. Es mündet in einem Plädoyer für eine sowohl wörtlich genommene als auch theologisch reflektierte »Liturgie mit den Füßen« als Ausdruck sozialpolitischen Widerstands. Das befreiungstheologische Urmodell des Exodus ist impliziter Leitfaden der Abhandlung, die hier um eine Theologie der symbolischen Landnahme durch die Empfänger der göttlichen Verheißung, das besitzlose Volk, ergänzt wird.
A. hat ein exemplarisches Stück kontextueller Theologie ge­schrie­ben. Er lenkt den Blick auf ein liturgisches Phänomen mit ökumenischer Bedeutung, das gleichsam aus der brasilianischen Erde geboren wird. Die Romaria entstand in der Zeit von Militärdiktatur und Befreiungstheologie im reich gesegneten, fünftgrößten Land der Welt, das zugleich die größte Ungleichheit an Landbesitz aufweist. Sie ist geprägt von der Verwurzelung der bäuerlichen, land-losen und stadt-flüchtenden Massen in dieser Erde mit einer populären Schöpfungsspiritualität. Sie verknüpft das kulturelle und religiöse Erbe der verschiedenen Völker des Landes, integriert es in die vorwiegend katholische Identität und bezieht es auf biblische Traditionen wie Exodus, Widerstand, Prophetie und auf die Person Jesu, den »Menschen mit zerfurchtem Antlitz«, wie er in der nicaraguanischen Bauernmesse genannt wird.
A. hat das Buch als Stipendiat der EKD in der Missionsakademie an der Universität Hamburg verfasst. Ihm gelingt, was längst nicht allen Doktorarbeiten aus der Ökumene vergönnt ist: eine wissenschaftliche Untersuchung, die ein Thema aus seinem Kontext aufarbeitet und dabei von Anfang bis Ende für die Leserschaft in Deutschland spannend bleibt. Voraussetzung für die Doktorarbeit wie für ihre Lektüre mit Gewinn sind Interesse und Sympathie. Damit sind zwei Kategorien angesprochen, die keineswegs banal sind. Sie stehen in Spannung zu einem Wissenschaftskonzept, das sich durch neutrales Des-Interesse oder »Objektivität« zu legitimieren sucht und eine mitleidende und mithoffende Beteiligung an historischen Ereignissen aus dem Erkenntnisprozess ausklammert.
A. hingegen schöpft aus seinem Interesse und seiner Sympathie für die verarmte Landbevölkerung in Brasilien das, was das Profil seines Buches ausmacht: Kreativität in der Wahrnehmung, Kritikfähigkeit gegenüber den Handelnden und konstruktives Vordenken für seine in Richtungskämpfen und liturgischen Erneue­rungsversuchen steckende brasilianisch-lutherische Kirche. Dass er sich dabei ebenso »südlicher Globalisierungskritik« wie »westlicher Ritualtheorien« bedient, liturgiewissenschaftliche Studien aus Brasilien und Deutschland verarbeitet und die »Romaria da Terra« auf liturgisches Handeln in der DDR-Friedensbewegung oder auf die Agape-Feiern der Kirchentage zu beziehen vermag, macht das Buch zu einem Brückenschlag zwischen einem regionalen Thema und globalen ökumenischen Fragestellungen.