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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1214–1216

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Schäufele, Wolf-Friedrich

Titel/Untertitel:

»Defecit Ecclesia«. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters.

Verlag:

Mainz: Zabern 2006. IX, 408 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 213. Lw. EUR 51,00. ISBN 978-3-8053-3647-5.

Rezensent:

Volker Leppin

Wer angesichts des bescheidenen Untertitels dieser Mainzer Habilitationsschrift einen Beitrag zur Geschichte der mittelalterlichen Kirchengeschichtsschreibung erwartet, wird in angenehmer Weise enttäuscht: Die Rede von der »Anschauung« ist sehr bewusst gewählt, denn es geht um die Verwendung von Geschichte und Geschichtsdeutung in jeweils aktuellen Konflikten. So hätte ein vollmundigerer Autor als Sch. als Untertitel auch wählen können: »Die Verfallsidee in der mittelalterlichen Kirchenkritik«.
Natürlich, Sch. macht es deutlich, wird diese Frage nicht umfassend behandelt, sondern in einzelnen Studien werden Stollen gegraben, deren Bedeutung aber unmittelbar deutlich ist: Nach einem Überblick über die Wurzeln der Verfallsidee in paganer Antike und Bibel, der auch deutlich macht, dass dieser Gedanke im Christentum nicht nur in devianten Strömungen beheimatet war, behandelt Sch. die Armutsbewegung, die Katharer, die Waldenser und Joachim von Fiore mit seinen Wirkungen im franziskanischen Joachitismus.
Eine so weit angelegte Arbeit muss Wege finden sich zu konzentrieren. Das eine Mittel hierzu ist exemplarisches Arbeiten, das andere ist noch charakteristischer für Sch.: Diese Studie bietet auf einem Feld, das traditionell weit der Sozial- und Mentalitätsgeschichtsschreibung geöffnet ist, ein Stück klassischer Geistesgeschichte. Sch. schreibt nicht über religiöse »Bewegungen« im Sinne Herbert Grundmanns, sondern analysiert feinsinnig theoretische Konzeptionen – vorwiegend anhand von Traktaten, die großenteils ihren Ort in ebendiesen Bewegungen haben, aber auch anhand von Inquisitorenhandbüchern; im Blick auf letztere wäre allerdings eine deutlichere Reflexion darüber, wie man es vermeiden kann, sie durch eine solche Behandlung theoretisch zu überfordern, wünschenswert gewesen.
Wichtigstes Interpretationsinstrument Sch.s ist eine idealtypische Unterscheidung dreier Formen eines christlichen historischen Legitimationsgestus im Sinne der Ursprungsentsprechung: ein successio-Typus der Bindung an das kirchliche Amt, ein in der Lebensführung zu erweisender imitatio-Typus und ein erst mit der Reformation aufkommender, daher für die vorliegende Arbeit lediglich im Hintergrund relevanter Lehrtypus (54). Mit diesem Instrumentarium interpretiert Sch. nachvollziehbar das Aufkommen der vita-apostolica-Bewegung als Wiederaufleben des gesamtkirchlichen Anspruchs des zuvor auf das Mönchtum eingegrenzten imitatio-Typus in Entgegensetzung zum seit der Antike dominant gewordenen successio-Typus. Diese großräumige These bildet den Hintergrund für eine sehr kleinteilige Fallstudie zur Deutung der Konstantinischen Schenkung bei Bernhard von Clairvaux (ca. 1090–1153) einerseits, Arnold von Brescia andererseits (ca. 1100–1155). Sch. skizziert beide biographisch als Antipoden vor einem gemeinsamen, der Armutsbewegung zugewandten Hintergrund (81), lässt sich allerdings nicht dazu hinreißen, auch ihre Haltung zur Konstantinischen Schenkung antipodal darzustellen: Der historischen Infragestellung bei Arnold steht bei Bernhard lediglich eine Stellungnahme in »Kürze und Vagheit« gegenüber (84). In diesem Zusammenhang überrascht die breit dargestellte Ge­schichte der Auseinandersetzung um die Donatio Constantini. Doch deren Funktion geht weit über das Kapitel zur Armutsbewegung hinaus, denn die Konstantinische Schenkung bildet ein Leitthema in Sch.s Darstellung.
Das zeigt sich schon in dem folgenden Kapitel über die Katharer, an dem deutlich wird, wie hilfreich Sch.s Ansatz für eingefahrene Forschungsdebatten sein kann. Ihr Verständnis eigener Kontinuität zum Ursprung der Kirche rückt die Katharer näher an die Armutsbewegung als an die von Sch. zurück bis zu Markion verfolgten dualistischen Konzeptionen. Was sie aber im Rahmen der Typologie Sch.s von der Armutsbewegung unterscheidet, ist die Orientierung am successio-Typus historischer Legitimation. Gerade der hieraus resultierende Anspruch eigener successio apostolica bildet dann nach Sch. den Ausgangspunkt für eine katharische Verfallstheorie im Blick auf die Großkirche, die konkret Gestalt als »ekklesiologische(r) Dualismus« gewinnt (162). Die historische Konkretion hierfür aber gewinnen sie eben aus der Kritik an der Donatio Constantini.
Die Gegenüberstellung der eigenen Kirche zu der Großkirche als ecclesia malignantium verbindet die Katharer mit den im Folgenden behandelten Waldensern. Allerdings bringt sich Sch. hier durch die Anlage seiner Arbeit in eine komplexe Schwierigkeit: Die idealtypische Unterscheidung funktioniert hier nicht ganz klar, da sich die Waldenser nicht nur als imitatores apostolorum bezeichnen, sondern auch der Begriff der successores apostolorum fällt (211). Blickt man allerdings auf die durchweg aus der Außenperspektive herangezogenen Belege für die successores-Bezeichnung (Anm. 85), ist zu fragen, ob Sch. hier nicht zu rasch aus der häresiologischen Kriteriologie, die ihre Infragestellung selbstverständlich an der successio-Thematik festmachen muss, eine Selbstbeschreibung macht und sich damit unnötigerweise Probleme in seiner eigenen Typologie einhandelt. Unbenommen bleibt hiervon, dass Sch. überzeugend darlegt, dass es bei den Waldensern in einer späteren Stufe Rückprojektionen einer Kontinuität gab, deren Originalität als »wohl spektakulärste kritische Fortschreibung der Silversterlegende« (237) aber gerade durch die Einordnung in die eigene Typologie eher eingeebnet als profiliert zu werden droht.
Sch.s geschichtstheologische Fragestellung legt es nahe, dass er mit dem von Kurt-Victor Selge und Julia Eva Wannenmacher (deren 2005 erschienene Arbeit Sch. offenbar auch für die Drucklegung nicht mehr einbeziehen konnte) geformten neuen Bild Joachims von Fiore, das diesen nicht mehr primär als Chiliasten versteht, wenig anfangen kann. Allerdings wäre hierfür eine ausführlichere Begründung als die bloße Feststellung der Differenz (249) wünschenswert gewesen. Implizit wird erkennbar, dass Sch. Joachim vor allem im Blick auf seine Rezeption durch die franziskanischen Spiritualen wahrnimmt, die in der Tat den Chiliasmus in den Vordergrund stellte. In deren Analyse macht Sch. die frappante Beobachtung, dass auf Grund einer Deutung Silvesters als den, der im Sinne von Offb 20 den Satan fesselt (291), selbst noch bei einem radikalen Armutstheoretiker wie Petrus Johannis Olivi nicht die Kritik am Reichtum im Sinne der früheren Armutsbewegung das Bild Konstantins prägt, sondern dieser positive Züge als christlicher Friedensherrscher trägt (300 f.).
Diese Wendung zeigt den hohen Nutzen, den eine theologisch subtile Lektüre von Texten hat, die sonst allzu leicht in Schemata von Häresie und Orthodoxie oder Kirche und Bewegung zerrieben werden. Sch. hat einen gewichtigen und eigenständigen Beitrag zum Verständnis der mittelalterlichen Theologie- und Kirchengeschichte vorgelegt.