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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

991–993

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Hahn, Ferdinand]

Titel/Untertitel:

Die Verwurzelung des Christentums im Judentum. Exegetische Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch. Zum 70. Geburtstag hrsg. von Cilliers Breytenbach unter Mitwirkung von Sönke v. Stemm.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1996. X, 205 S. 8°. Kart. DM 68,­. ISBN 3-7887-1577-4.

Rezensent:

Ingo Broer

Einer Anregung Shalom Ben Chorins folgend legt C. Breytenbach, Schüler, Freund und Kollege Hahns, hier aus Anlaß von Hahns 70. Geburtstag dessen auf das christlich-jüdische Gespräch bezogenen Aufsätze gesammelt vor. Die Aufsätze stammen, soweit sie schon publiziert waren ­ dies gilt für 10 der insgesamt 14 Aufsätze ­, aus den Jahren 1976 bis 1993.

Obwohl alle Beiträge, wenn auch auf unterschiedliche Weise, mit dem Oberthema zusammenhängen, gilt dies für die ersten drei Aufsätze in ganz besonderer Weise, so daß vor allem sie hier eingehender dargestellt werden sollen.

Hahn betont die Notwendigkeit der Frage nach dem christlichen Selbstverständnis, die er als Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Christentum begreift. Von daher fragt er in dem ersten Aufsatz "Die Verwurzelung des Christentums im Judentum" nach dem Zusammenhang, in dem zweiten Aufsatz "Warum die Christen nicht Juden geblieben sind" nach der Differenz zwischen dem Judentum und dem sich ausbildenden Christentum, um in dem dritten mit "Die Bedeutung der alttestamentlich-jüdischen Traditionen für die christliche Theologie" überschriebenen Aufsatz die Relevanz des alttestamentlich-jüdischen Glaubensgutes im Horizont der vorangegangenen Überlegungen zu reflektieren.

Der erste Aufsatz will einem Neuanfang im Verhältnis von Judentum und Christentum dienen und stellt die Frage nach dem christlichen Selbstverständnis als Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Judentum. Diese läßt sich u. a. so explizieren: Ist der geschichtliche Zusammenhang dieser beiden Größen sachlich notwendig oder nur geschichtlich zufällig? Die verbindenden Elemente zwischen sich ausbildendem Christentum und Judentum werden relativ ausführlich dargestellt. Die kritische Haltung Jesu zum Judentum wird vorsichtiger gesehen als in früheren Beiträgen des Vf.s und nur noch davon gesprochen, daß Jesus "die Tora selbst angetastet" hat, "ohne sie als Willensäußerung Gottes in Frage zu stellen" (7), gleichzeitig wird in "Jesu Person und Handeln ... fortan bei aller Gemeinsamkeit ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal" gesehen (8). Der Ablösungsprozeß ging von beiden Seiten aus, wobei das Christentum an Tendenzen im Diasporajudentum anknüpfen konnte.

Das starke Eingebundensein des Urchristentums in das Judentum kann nach H. weder zufällig noch bedeutungslos sein, die Frage nach dem sachlichen Verhältnis wird mit Hilfe von Röm 9-11 zu lösen versucht. Die verschiedentlich geäußerte These, Paulus rechne hier mit einem jüdischen Sonderweg zum Heil lehnt H. u. a. mit Hinweis auf Röm 11,12.20. 23 ab, ebenso die Frage nach allzu konkreten Vorstellungen in dieser Hinsicht (vgl. dazu allerdings 95 ff.). Jedenfalls besteht die Verheißung für das Judentum weiterhin, und über die gemeinsame Wurzel besteht für das Christentum "eine lebendige und verantwortliche Beziehung zum Judentum" (17). Solche Beziehung verlangt, im Lichte der unterschiedlichen Auslegungstraditionen Zugänge zum AT zu finden, die die Gemeinsamkeiten erkennen lassen und ausschöpfen, und die Verwurzelung Jesu im Judentum deutlicher als bisher zu erkennen und festzuhalten.

Der zweite Aufsatz stellt die geschichtliche Entwicklung des Ablösungsprozesses vom Judentum dar, erhebt die Frage nach den Voraussetzungen dafür beim historischen Jesus und nach den inneren Hauptgründen für diese Entwicklung im 1. Jahrhundert. ­ Was den historischen Jesus angeht, so versucht H. hier, das Judesein Jesu mit seiner prinzipiellen Einbindung in das Judentum einerseits und eine gewisse Differenz Jesu zum Judentum andererseits miteinander zu verbinden, z. B. indem er bei Jesus gelegentliche Kritik am Wortlaut, aber keine prinzipielle Preisgabe der Tora findet. Jesu Tod hat in seiner Beanspruchung der Sündenvergebung und in der Übertretung des Sabbats ihren Grund ­ aber eine Vorprogrammierung der Loslösung vom Judentum ist darin nicht zu finden, so daß H. jetzt in starkem Kontrast zu früheren Ausführungen feststellen kann: "Jesu Botschaft und Wirken beruhte auf dem Tenach und war bei aller Eigenständigkeit durch und durch jüdisch" (22). Die inneren Gründe für die Ablösung sind in der nicht mehr ausschließlichen Zukünftigkeit des Heils, in der Beiseiteschiebung der Tora für das Heil, in der Messianisierung Jesu und im Rückgriff auf hellenistische Denkvoraussetzungen zu finden. ­ Wird in der Interpretation der Heilsbedeutung Jesu der Unterschied zum Judentum unübersehbar, so müssen Unterschiede nicht notwendig Gegensätze sein, "vor allem dann nicht, wenn die Gemeinsamkeit im Grundsätzlichen erhalten geblieben ist. Und diese Gemeinsamkeit betrifft den Glauben an den einen Gott als Schöpfer und Erlöser, und sie betrifft die Hoffnung auf eine zukünftige Heilsvollendung ..." (33).

Der dritte Aufsatz verfolgt die Bedeutung der alttestamentlich-jüdischen Denkformen durch alle Schichten der neutestamentlichen Tradition und weist nach, daß in den heidenchristlich geprägten Gemeinden der Einfluß dieses Denkens zwar zurück, aber die einmal gelegte Grundlage nicht verloren ging und daß die große Mehrheit der Schriften des Neuen Testaments maßgeblich von diesem Denken beeinflußt ist. Im Gottesglauben, in der Heils- und Zukunftserwartung besteht eine fundamentale Gemeinsamkeit zwischen Judentum und Christentum, deren sich das Christentum wieder bewußt werden muß.

Diese Gemeinsamkeit wird auch in dem vierten bislang unveröffentlichten Beitrag "Theologie nach Auschwitz" hervorgehoben und zugleich betont, daß die Frage nach der Gemeinsamkeit durch die Shoa unausweichlich geworden ist. Dementsprechend wird der jüdischen Gemeinschaft die bleibende Existenz als Gottesvolk nicht mehr streitig gemacht. Auch hier wird wiederum neben der äußeren Verbindung der Urgemeinde zum Judentum auch die innere akzentuiert. Die Exegese einiger antijüdischer Aussagen des NT ergibt zudem, daß diese als zeitbedingte Polemik und keineswegs als generelle Verurteilung des Judentums zu verstehen sind.

In dem Aufsatz "Das Bekenntnis zu dem einen Gott im Neuen Testament" wird die Selbstverständlichkeit des Monotheismus in Juden- und Judenchristentum betont, beide reflektieren insbesondere das Schöpfertum Gottes und sein eschatologisches Wirken. Das Christentum verbindet mit letzterem die Aussage von der Auferweckung Jesu und die von dem Beginn der neuen Schöpfung. Die Verchristlichung des monotheistischen Bekenntnisses ist des weiteren auch an der Vorstellung von Gott als Vater, die auf Jesus zurückgeht und für jüdische Ohren anstößig war, erkennbar sowie an dessen starker christologischer Durchdringung.

In "Die Stellung des Apostels Paulus zum Judentum und zur Tora" erläutert H. nach einer kurzen Rekonstruktion der vita Pauli, in der Paulus als der palästinisch-jüdischen Tradition verpflichtet bezeichnet wird, und einer Einführung in das paulinische Rechtfertigungsdenken das paulinische Gesetzesverständnis und die bleibende Verheißung. Die negativen Äußerungen über das Gesetz beziehen sich auf den sündigen Menschen, der sich selbst die Rechtfertigung verschaffen will, statt sie sich von Gott (im Glauben) schenken zu lassen. Das Bemühen, der Sündenmacht auf dem Wege der Gesetzesobservanz zu entkommen, ist aber aussichtslos. Zwischen dem Christusgeschehen und der Tora gibt es keinen Gegensatz, vielmehr kann die Forderung der Tora allein von den Gerechtfertigten erfüllt werden, wenn auch ihre wahre Erfüllung nicht in penibler Observanz besteht. Die Juden sind nach Paulus aufgrund der Ablehnung des Evangeliums keineswegs von der Heilsverheißung ausgeschlossen, sondern auf einen eigenen Weg mit dem Ziel der Heilsteilhabe gestellt. Die Heiden haben das Heil nicht unabhängig von Israel empfangen, aber es gibt nunmehr "zwei getrennte Wege des einen Gottesvolkes" (94). "Ganz Israel" in Röm 11,26 meint eine Mehrheit im Sinne der Repräsentation, allerdings gilt: "die äußere Zugehörigkeit wird dabei nicht entscheiden" (97). Da Heil bei Paulus gleichbedeutend mit Rechtfertigung ist, wird Israel am Ende der Zeiten Gerechtigkeit durch den Glauben erhalten, "allerdings nicht aufgrund des verkündigten Evangeliums, sondern angesichts des sich offenbarenden Christus" (96).

Da es sich um Aufsätze zu verschiedenen Gelegenheiten handelt, die z. T. den gleichen Gegenstand von unterschiedlichen Perspektiven aus beleuchten, waren zahlreiche Überschneidungen (z. B. zu Röm 9-11, zur Frage des Sonderweges für Israel, zum Achtzehngebet, zu Jesu Verhältnis zum Gesetz, zum das Juden- und Christentum Verbindenden) wohl nicht zu vermeiden. Das überaus deutliche Bemühen des Vf.s, das Gemeinsame von Judentum und Christentum herauszustellen und das Judesein Jesu zu betonen, dabei das Trennende aber nicht zu vergessen, ist eindrucksvoll.

Das Gleiche gilt für die Gedankenführung, die Heranziehung von Parallelen und die Berücksichtigung der Sekundärliteratur. Wer frühere Aufsätze des Autors kennt, weiß, welchen Weg der Autor bis hierhin zurückgelegt hat. Erfreulich ist besonders die von christlichen Exegeten keineswegs unbestrittene Gemeinsamkeit im Gottesglauben. Bedauerlich ist, daß den Arbeiten, zumal den älteren, nicht ein kurzer Anhang über die heutige Sicht des Autors angehängt wurde.

Sowohl zur Frage der Sündenvergebung durch den historischen Jesus und zu dessen Abbaverständnis als auch zum Problem des Gesetzesverständnisses, an denen H. eine gewisse Absetzbewegung vom Judentum beim historischen Jesus festmacht, liegen neuere Arbeiten z. B. von K. H. Müller und D. Zeller vor, die eine Sprengung des vom Judentum hierzu vorgegebenen Rahmens immerhin fraglich erscheinen lassen und so die Sicht des Vf.s zumindest in Frage stellen. Hierauf kurz einzugehen und eventuelle Gründe für die Beibehaltung der vorgetragenen Sicht zu nennen, wäre in jedem Fall interessant gewesen und hätte dem Band eine größere Aktualität verliehen. Daß in Aufsätzen nicht alle Probleme behandelt werden können, versteht sich von selbst.

H.s Ausführungen regen zu einer ganzen Reihe von Fragen an, denen nachzudenken sich lohnt, was nicht der geringste Erfolg eines Buches ist. So wird man z. B. angesichts der Ausführungen H.s fragen müssen: Darf man 1Thess 2,14-16 einfach nach Röm 9-11 auslegen? Braucht der Christ das Gesetz wirklich noch angesichts der Prärogative der Liebe? Wird es der von Paulus behaupteten Unwiderrufbarkeit der Verheißungen Gottes gerecht, wenn wir mit einer Rettung Israels durch den Glauben angesichts des Parusie-Christus rechnen?