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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1201 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kessler, Rainer

Titel/Untertitel:

Sozialgeschichte des alten Israel. Eine Einführung.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. 223 S. gr.8°. Geb. EUR 34,90. ISBN 978-3-534-15917-8.

Rezensent:

Ernst Axel Knauf

Das erfreulich knappe Buch, das auch als Einführung in die Ge­schichte Israels dienen kann, bietet nach der Einleitung eine »Einführung in die Methoden der Sozialgeschichte Israels« (Umwelt, Archäologie und Epigraphik, biblische Texte und ihre historische Interpretation, Ethnologie und Soziologie, 27–48), gefolgt von einer »Einführung in die Epochen der Sozialgeschichte Israels« (Werden Israels, vom frühen zum entwickelten Staat, Ausbildung einer antiken Klassengesellschaft, Exilierungen, perserzeitliche Provinzialgesellschaft, jüdisches Ethnos in hellenistischer Zeit, 49–192).
Das Werk ist sachlich und in der (historischen) Methodenre­flexion im Wesentlichen auf der Höhe des gegenwärtigen Forschungsstandes und kann auch von Lesern und Leserinnen mit Gewinn benutzt werden, die den politischen und/oder religiösen Überzeugungen K.s ferner stehen. Als Lehrbuch, besonders für Studierende im Bachelor-Studium, ist es gut geeignet. Für K. (wie für den Rezensenten) bildet die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte den Rahmen und die Basis für alle anderen »Geschichten« Israels. Ob man den Evolutionsstand der Königtümer Israel und Juda im 10. und frühen 9. Jh. v. Chr. mit K. als »frühen Staat« oder, wie es der Rezensent immer noch täte, als »complex chiefdom« bezeichnet, ist letztendlich gleichgültig, solange nur gesehen wird, dass die »Staatlichkeit« in Israel nicht über Nacht und dann gleich vollständig eintrat, sondern vom 10. bis zum 7. Jh. konstant zunahm.
Der ganz verschiedene Charakter der Überlieferungen im jeweiligen Kern der Prophetenbücher spricht stark dafür, dass es sich nicht ausschließlich um schriftgelehrte Kompilationen aus der Zeit des Zweiten Tempels handelt, sondern dass zum Teil vorexilische Überlieferungskerne vorliegen (39 – freilich spricht das Argument nicht notwendigerweise für individuelle Prophetengestalten, sondern nur für – frühe– Tradentengruppen mit je eigenen Profilen und Interessen). Gedalja wird die vierjährige Herrschaft zugestanden, die er wahrscheinlich ausübte. Die Frage, ob die Ju­den von Elephantine vor oder nach Gedalja den Kult von Betel nach Ägypten brachten, wird im ersteren Sinne entschieden, wie auch bei K. der Erste Tempel in vielen Zusammenhängen eine Rolle spielte, die wohl erst dem Zweiten zukam. In der Perserzeit wird deutlich, dass »Israel« da­mals aus Juda und Samaria bestand. Beim Bau des Zweiten Tempels bleibt K. bei den herkömmlichen Daten (515–520) und hat sich von Einwänden D. Edelmans leider nicht dazu provozieren lassen, darüber Rechenschaft zu geben, was Jerusalem, bevor es unter Nehemia wieder eine Stadt wurde, denn vorher gewesen sein könnte.
Problematischer ist die Einführung des Konzepts der Klassengesellschaft seit dem 8. Jh., blieb Israel doch für die nächsten 500 Jahre und noch darüber hinaus primär gentil organisiert; andererseits gab es in der früheisenzeitlichen Stammesgesellschaft, die auch noch im 9. (und 8. ?) Jh. auf dem flachen Land bestand, die »Klassen« der grundbesitzenden Stammesbrüder, der landlosen, aber persönlich freien »Klienten« (gerim) und der Sklaven. Ob der »Klassenbegriff« auf vorindustrielle Gesellschaften überhaupt angewandt werden kann, ist prinzipiell fraglich. Im Gegensatz zur »antiken Klassengesellschaft« in Athen und Rom gab es im alten Israel keinen nennenswerten sekundären (Manufakturen, Bergbau) und tertiären Sektor (Finanzwirtschaft).
Methodisch fällt auf, dass diese Sozialgeschichte ohne eine einzige Tabelle, Karte oder Abbildung auskommt. Quantitative Ansätze werden nicht verfolgt. Hinlängliches Datenmaterial stünde durch Archäologie und Epigraphik durchaus zur Verfügung. Die »Zufälligkeit« archäologischer Funde ist für K. ein Grund des Miss­trauens. Für probabilistisch arbeitende Forscher sind Zufallsstichproben (so man davon ausgehen kann, dass eine vorliegt) die Basis für mathematische Modellierungen mit der Möglichkeit, das Konfidenzniveau oder den Standardfehler zu berechnen.
Dass nicht alles, was die Archäologie Israels heute schon weiß, gleich in einer Einführung in dessen Geschichte zu finden sein muss, versteht sich von selbst. Der »Canaanite revival« (Itamar Singer, Israel Finkelstein) des 11./10. Jh.s (an dem auch Aramäer beteiligt waren) gab die ökonomische Basis ab für die Entwicklung von null israelischen Streitwagen um 950 zu 2000 (oder etwas weniger) um 850, ist aber wohl ein zu neuer Gedanke, um schon weithin rezipiert zu sein. Dass die Kolonisation des Berglandes im (12. und) 11. Jh. noch relativ bescheiden blieb und erst im 8. Jh. ihren Höhepunkt erreichte, ist schon länger etabliert, bleibt hier aber noch unberücksichtigt. Der samaritanische Tempel auf dem Garizim wurde spätestens in der 1. Hälfte des 5. Jh.s gegründet (K. geht noch von Flavius Josephus aus, der ihn mit dem Alexanderzug verbindet). Gewiss war im 5. und 4. Jh. das Verhältnis von Judäern und Samariern auf der Basis der gemeinsamen Thora im Wesentlichen kooperativ; Jerusalem dürfte als Heiligtum von den Nordisraeliten jedoch niemals akzeptiert worden sein. Die Judäer konnten im 5. Jh. mit einem eigenen samaritanischen Tempel offenbar leben, am Ende des 2. Jh.s jedoch nicht mehr. Es ist vielleicht an der Zeit, über Alter (bzw. Verständnis) des »Kultzentralisationsgebotes« in Dtn 12 an die Bücher zu gehen.