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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1197–1200

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Carr, David M.

Titel/Untertitel:

Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2005. XIV, 330 S. gr.8°. Lw. £ 38,99. ISBN 978-0-19-517297-3.

Rezensent:

Stefan Schorch

Der Autor des anzuzeigenden Buches, David M. Carr, lehrt Altes Testament am New Yorker Union Theological Seminary. Er wendet sich einer Frage zu, die nicht nur für die alttestamentliche Wissenschaft von zentraler Bedeutung ist: Was waren die Spezifika von Produktion, Überlieferung, Sammlung, Revision und Gebrauch von Texten im Alten Israel und seiner Umwelt?
Der Obertitel weist bereits auf die wichtigste These hin: C. sieht die Texttradierung im antiken östlichen Mittelmeerraum und in Mesopotamien wesentlich in der Verknüpfung von Oralität und Literalität im Verlauf der Schreiberausbildung begründet. Idealziel der Schreiberkurrikula sei die auswendige Aneignung der Tradition gewesen, in welcher sich der Gebrauch des Mediums Schrift mit der Fähigkeit des mündlichen Vortrags verbunden habe. Eine altorientalische kultureigene Bezeichnung dieser spezifischen Verknüpfung scheint besonders in der Formulierung »auf das Herz bzw. auf die Tafel des Herzes schreiben« vorzuliegen (Jer 31,33; Prov 3,3; 7,3; Papyrus Anastasi).
Gerahmt von Einführung und Zusammenfassung bilden die verbleibenden elf Kapitel zwei Blöcke, wobei die Kapitel 2–6 die vorhellenistische und die Kapitel 7–12 die hellenistische Periode be­handeln. C. geht von der Beobachtung aus, dass die defektive Art und Weise der schriftlichen Aufzeichnung von Texten (scriptio continua, abkürzende Schreibungen) einen Leser voraussetzte, der den Text bereits kannte. Daher könnten die schriftlichen Textfassungen nicht die Funktion einer eigenständigen und unabhängigen Vermittlung der fraglichen Texte gehabt haben, sondern seien vielmehr der stabile Referenzrahmen eines fortdauernden Prozesses mündlichen Memorierens und Rezitierens gewesen. Entgegen der einseitigen Betonung schriftlicher oder mündlicher Tradierung sei mithin die Einheit beider festzuhalten. Deren Ziel sei es gewesen, über die Aneignung von kulturellen Schlüsseltexten das Bewusstsein von Schreibereliten zu formen und diese so zu inkulturieren.
Kapitel 2 entwickelt die Hauptthese des Buches im Hinblick auf das antike Mesopotamien. C. stellt dar, dass Schreibertätigkeit und -ausbildung als Seiten ein und desselben Vorganges des Überlieferns und Aktualisierens von Texten begriffen worden seien, in dessen Verlauf manifeste Textformen in den Medien Schrift und Erinnerung erzeugt worden seien. Literarische Produktivität erkläre sich aus der Fähigkeit der Schreiber, einzelne Bausteine der gelernten Texte zu isolieren und zu rekombinieren. Jede neue Niederschrift einer Texttradition sei daher als »Einheit für sich« zu be­trachten, genealogische Rekonstruktionsversuche der text- und literarkritischen Beziehungen zwischen den einzelnen Textzeugen könnten diesem Befund nicht gerecht werden. Kritisch anzumerken ist, dass in C.s Modell eines vorgegebenen Fundus an »Texte men« die Frage nach den Bedingungen von Originalität offen bleibt: Unter welchen Umständen konnten Texttraditionen nicht nur variiert, sondern neu gebildet werden?
In Kapitel 3 zeichnet C. die breite Rezeption der mesopotamischen Textkultur in den Nachbarkulturen nach, darunter auch die nordwestsemitischen Alphabetschriftkulturen. Kapitel 4 behandelt die Textkultur und Schreiberausbildung im Alten Ägypten. Differenzen zu den Keilschriftkulturen sieht C. vor allem in der prominenteren Stellung der ägyptischen Weisheitsliteratur. Nach C. war der ägyptische Einfluss auf die altisraelitische Textkultur größer und nachhaltiger als der mesopotamische (Gebrauch hie­ratischer Zahlzeichen, Papyrus als Schreibmaterial, Perikopengliederung, Aufnahme ägyptischer literarischer Traditionen, Konzept inspirierter Schriften).
Angesichts der ägyptischen Altertümer mag man allerdings fragen, ob C.s Fokussierung auf eine schrift-mündliche Perspektive dem ägyptischen Befund in seiner ganzen Breite gerecht wird. Eine andere Gewichtung legt sich etwa angesichts der Monumentalinschriften nahe, bei denen die Ikonizität der ägyptischen Schrift und die durch sie ermöglichte spezifische Verbindung von sprachlicher und ikonischer Lesbarkeit Tradierungs- und Rezeptionsmechanismen erfordert haben dürfte, die deutlich jenseits der Potenz einer oral vermittelten Textkultur liegen (siehe z. B. Morenz, L.: Visuelle Poesie als eine sakrale Zeichenkunst der altägyptischen hohen Kultur. SAK 32 [2004], 311–326).
Kapitel 5 wertet den Quellenbefund für die antike griechische Textkultur aus. Bei weitgehender Absenz erhaltener Schreiberübungen und Schülerkopien könne aus bildlichen Darstellungen bereits für die vorhellenistische Zeit auf die Existenz einer schriftgestützt-mündlichen Textkultur geschlossen werden. Trotz der vermeintlichen Einfachheit der griechischen Alphabetschrift sei auch diese auf einen engen Personenkreis beschränkt geblieben, der sich allerdings nicht durch die Profession des Schreibers oder die Anbindung an Tempel, sondern durch die Zugehörigkeit zur Aristokratie be­stimmt habe.
Vor dem Hintergrund der gewonnenen Einsichten rekonstruiert C. in Kapitel 6, dem bei weitem umfangreichsten Kapitel des gesamten Buches, die Textkultur des vorhellenistischen Israel. C. stellt dar, dass trotz einer niedrigen Rate Literalität im Alten Israel nicht auf die als sō-perīm und šōt.erīm bezeichneten Spezialisten beschränkt gewesen sei. Ebenso wie die benachbarten Textkulturen sei das altisraelitische Erziehungswesen einer schriftgestützten Mündlichkeit verpflichtet gewesen und habe seinen Sitz vor allem im Familienkontext gehabt, sei teilweise aber auch im Umfeld von Pries­ter- und Königtum angesiedelt gewesen.
Generell ist hier nicht zu widersprechen, doch scheinen die Ausführungen bisweilen in Details überdehnt, wenn etwa die Erzieher (’ōma-nīm) der Söhne von Ahab (2Kön 10,1.5) auf Grund von akk. ummenu als »scribal master« gedeutet werden (119). Diese Verbindung ist aus sprachlichen Gründen kaum möglich und mag bestenfalls nach einer Konjektur des MT in Frage kommen. Ein Schreib- und Lesekundiger heißt nach Jes 29,11 yōdē ca sē-pær, der S. 121 angeführte vermeintliche Beleg Ps 71,15 beruht aber wiederum auf Konjektur.
Im zweiten Teil des Buches hebt C. die ägyptische wie die jüdische Kultur des Hellenismus deutlich von ihren Vorgängern ab. Im Sinne des vor allem von dem Kulturtheoretiker Homi Bhaba entwi­ckelten Hybriditätskonzepts seien sie einerseits unter dem Aspekt der Abwehr gegen die Vereinnahmung durch die griechische Kultur, andererseits aber auch gerade als massiv von der griechischen Kultur beeinflusst zu verstehen. Dabei habe die zentrale Neuorientierung des jüdischen Erziehungswesens darin bestanden, dass dieses fortan – in Einklang mit griechisch-hellenistischen Vorstellungen – nicht mehr auf die Formung einer literalen Elite, sondern einer breiten Bildungsschicht ausgerichtet gewesen sei.
In Kapitel 8 stellt C. mit besonderem Fokus auf Ben Sira dar, dass im Judentum der hellenistischen Zeit, ähnlich wie im zeitgenössischen Ägypten und Mesopotamien, die Tradierung der einheimischen Textkultur wesentlich an Tempel und Priestertum gebunden gewesen sei. Spätestens ab dem 1. Jh. n. Chr. sei jedoch eine zunehmende Verbreitung vom Tempel losgelöster textkultureller Formen zu verzeichnen, vor allem im Kontext synagogaler Versammlungen (Kapitel 10). Kapitel 9 identifiziert die Evidenz der Qumranfunde für die Existenz einer schriftgestützten, auf das mündliche Memorieren von Texten hin angelegten Erziehung. Kapitel 11 zeigt, dass die Wurzeln der in expliziter Form zuerst bei Josephus bezeugten Spezifika jüdischer Textkultur – eine vom Tempel abgelöste, weitverbreitete Literarität und ein abgegrenztes Schriftenkorpus – bereits in die Hasmonäerzeit zurückreichen; Kapitel 12 skizziert Linien, welche die damals entstandene hybride jüdische Textkultur mit dem Rabbinischen Judentum und der Alten Kirche verbinden. Auf die »Conclusion« folgt ein Appendix, in dem C. seine Positionen forschungsgeschichtlich verortet.
Technisch scheint das Buch trotz kleinerer monenda im Allgemeinen gelungen. Zu Letzteren gehören besonders die bisweilen fehlerhaften Umschriften hebräischer Passagen sowie die Tatsache, dass der Text des Buches durch die Indizes und das Inhaltsverzeichnis nur grob erschlossen wird – der Sachindex ist äußerst schmal, ein Personenindex fehlt, und das Inhaltsverzeichnis verzeichnet nur Kapitel-, nicht aber Zwischenüberschriften.
C.s Beobachtungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen erscheinen in der Tat sehr bedeutsam. Sie demonstrieren, dass einseitige Fokussierungen auf schriftliche Überlieferungsformen, wie sie auch in der alttestamentlichen Literar- und Textkritik vorkommen, dem historischen Befund methodisch nicht gerecht werden. Angesichts der fundamentalen Bedeutung, die C. der Schrift-Mündlichkeit zumisst, wirkt es allerdings inkonsequent, dass er in seiner Definition des Begriffes »Text« diesen auf »written textu­ality« begrenzt (12) und folglich nicht mit der Engführung der herkömmlichen wissenschaftlichen Alltagssprache bricht, deren »konzeptionelle Symbiose« von »Text und Schrift« Konrad Ehlich jüngst beschrieben hat (Ehlich, K.: Textualität und Schriftlichkeit, in: Morenz, L./Schorch, S. [Hrsg.], Was ist ein Text? – Ägyptologische, altorientalistische und alttestamentliche Perspektiven, Berlin: de Gruyter, 2007 [BZAW, 362], 3–17). Stringenter erschiene, die gerade durch die vorliegende Arbeit demonstrierte Bedeutung mündlicher Komponenten im Prozess der Stiftung von Textualität auch in der Fassung des Textbegriffs zu reflektieren, als Beitrag zur Rekonstruktion der »Eigenbegrifflichkeit« (Benno Landsberger) der untersuchten Kulturen.
Die Beobachtungen und Schlussfolgerungen C.s bezüglich der defektiven Schreibweise in altgriechischen Manuskripten ließen sich leicht auf hebräische Texte ausdehnen, die zwar nach unserem gegenwärtigen Wissensstand stets mit Worttrennern oder worttrennenden Spatien geschrieben worden sind, deren weitestgehend unverzeichnete Vokalisierung in nicht wenigen Fällen aber verschiedene und zum Teil sogar völlig divergierende Deutungen erlaubt hat (Schorch, S.: The Septuagint and the Vocalization of the Hebrew Text of the Torah, in: Peters, M. K. H. [Hrsg.], XII Congress of the International Organisation for Septuagint and Cognate Stud­ies, Leiden 2004. Leiden-Boston: Brill, 2006 [SCS, 54], 41–54). Andererseits ist jedoch auch deutlich, dass die schriftliche Fassung eines Textes für den antiken Leser in den meisten Fällen auch ohne oral vermitteltes textspezifisches Supplementärwissen völlig eindeutig lesbar gewesen sein muss. Indizien zeigen zudem, dass, wo C. vor allem die soziale Formung und Steuerung von Tradierung und Rezeption durch Erziehungskurrikula betont, durchaus auch mit der Existenz autonomer Leser gerechnet werden sollte.
C. zeigt zweifelsfrei, dass die Hebräische Bibel aus einem schriftlich-mündlichen Milieu kommt. Dabei bleiben aber einige zentrale Probleme ungelöst. Insbesondere dürfte die Literar- und Textgeschichte vieler biblischer Texte mit wesentlichen Merkmalen oraler Tradierung kollidieren.
Das auswendige Memorieren von Texten im Kontext der für orale Gruppentraditionen typischen sozialen Kontrolle des Überlieferungsbestandes (Vansina) führt im Allgemeinen zu einer extrem hohen Traditionsstabilität, wie die Tradierung von Hebräischer Bibel und Mischna im Rabbinischen Judentum oder von der Samaritanischen Tora exemplarisch vor Augen führt. Nach Ausweis der alten Textzeugen war die prärabbinische Textüberlieferung demgegenüber weit weniger stabil. Buchfindungslegenden und Texte wie Jub 12 oder 2Makk 2,14 thematisieren zudem Traditionsbrüche und -neustiftungen. Erklärbar erscheint die Diversifizierung der älteren biblischen Textüberlieferung am ehesten, wenn neben der Tradierung von Texten – die auf den Tradenten als Stifter von Textualität fokussiert – der Aspekt der Rezeption stärker in den Vordergrund gerückt wird, unter welchem auch der Leser oder Hörer als Stifter von Textualität begriffen werden kann. Ausgewirkt hat sich diese Diversifizierung sowohl auf die Entstehung konkreter Textformen als auch auf den Umfang der als »Schrift« rezipierten Texte, wie etwa das Beispiel der Samaritaner beweist. Daher erscheint es kaum möglich, mit C. von einem »Standardcurriculum« (158) hebräischer Texte als Ursprung der schließlich zur Hebräischen Bibel gewordenen Schriftensammlung auszugehen.
Noch für das 2. Jh. v. Chr. beweist Ben Sira die Möglichkeit, dass einzelne Autoren die Grenzen mutmaßlicher Kurrikula übertreten konnten. Dem griechischen Prolog des Ben Sira-Übersetzers ist zu entnehmen, dass dieser das Buch extrakurrikulär studierte, und schließlich zeigt auch die im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu mit Autorität versehenen Schriftensammlungen wechselvolle Ge­schichte des Buches nicht nur, dass das Judentum der hellenistischen Zeit kaum ein einheitliches Standardkurrikulum gehabt haben dürfte, sondern auch, dass der Umfang jener Schriftensammlungen selbst in frührabbinischer Zeit noch flexibel war.
Im Hinblick auf C.s Darstellung der unter den Hasmonäern entstandenen jüdisch-hellenistischen Hybridkultur erscheint zudem zweifelhaft, ob hier von einer einzigen Kultur gesprochen werden kann. So war etwa die Kultur des hellenistischen Judentums in Ägypten kaum ohne weiteres mit der im zeitgenössischen Palästina identisch, schon wegen der im griechischsprachigen ägyptischen Judentum oft nicht oder nur rudimentär vorhandenen He­bräischkenntnisse. Aber auch in Palästina selbst bestanden spätestens seit der Trennung von Samaritanern und Juden im späten 2.Jh. v. Chr. mindestens zwei hebräischsprachige Textkulturen.
Überraschend ist schließlich, dass C. die griechische(n) Übersetzung(en) der Hebräischen Bibel als das wohl bedeutendste Zeugnis einer hellenistisch-jüdischen Hybridkultur unberücksichtigt ließ, wiewohl gerade hier interessante Aufschlüsse über das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Tradierung der biblischen Texte liegen. Wegen der defektiven Schreibweise ihrer hebräischen Vorlagen waren die Übersetzer ganz zweifellos auf supplementäre mündliche Traditionen angewiesen, und so lassen viele griechische Wiedergaben nicht nur die Rekonstruktion einiger dieser Traditionen zu, sondern führen auch zu für das Verständnis der mündlichen Traditionen zentral erscheinenden Beobachtungen (S. Schorch, The Septuagint and the Vocalisation of the Hebrew Text of the Torah, loc. cit.)
Alle diese Einwände aber können das Verdienst von C.s Buch nicht schmälern. Vielmehr nehmen sie das Gespräch auf, das C. angestoßen hat. Erstmals wird hier ein Modell entwickelt und umfassend appliziert, das mündliche und schriftliche Faktoren der Textproduktion und -tradierung in einen systematischen Zusam­menhang bringt. Diese Leistung ist kaum zu überschätzen und verdient höchsten Respekt.