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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1194–1197

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Baumann, Gerlinde

Titel/Untertitel:

Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. 224 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-534-17933-6.

Rezensent:

Walter Dietrich

Die Vfn. – Privatdozentin und Gemeindepfarrerin in Marburg– ist bereits mehrfach mit wissenschaftlichen Arbeiten hervorgetreten, die an die Thematik der Gewalt in der Bibel grenzen (s. die Liste im Literaturverzeichnis, 196). Jetzt bündelt sie ihre Einsichten, rundet sie ab und führt sie weiter, so dass sich ein exegetisch-theologisches Grund-Buch zum Problem gewalthafter Gottesbilder in der Hebräischen Bibel ergibt. Es weist neben einer kurzen Einführung (9–14) und einer knappen Auswertung (155–159) drei Hauptteile auf: eine hermeneutische Grundlegung (15–36), einen ausführlichen Forschungsbericht (37–83) und eine Interpretation von fünf ausgewählten Texten (84–154). Die Entscheidung, die Anmerkungen nicht jeweils unten auf die Seiten, sondern gesammelt an den Schluss zu setzen (161–193), wird kaum die Vfn. allein zu verantworten haben; gleichwohl erlaube ich mir, sie für kaum sachdienlich und wenig lesefreundlich zu halten. Ein Literaturverzeichnis (18 Seiten), ein Glossar, ein Abbildungsverzeichnis, ein Namen- und Sach- sowie ein Bibelstellenregister schließen die Arbeit ab.
Aus der Einführung sei nur ein, freilich programmatischer, Satz zitiert: »Dieses Buch möchte ich als Beitrag dazu verstanden wissen, Texte mit Gottesbildern der Gewalt einerseits kritisch anzufragen, sie andererseits aber als Potential zu begreifen« (13). Die in Frage stehenden Texte und Vorstellungen sollen also weder verbissen verteidigt noch verschämt verschwiegen, sondern nach Möglichkeit positiv in eine biblische Theologie integriert werden.
Die im ersten Hauptteil gebotenen »Koordinaten einer Hermeneutik für alttestamentliche Bilder von Gott als Gewalttäter« wirken durchaus klärend, wenn auch mitunter etwas grobmaschig: Die Bibel ist »von Menschen verfaßt«, nicht von »Gott selbst« (15); also ist »nach den Motiven für das Bilden von Gottesbildern der Gewalt« zu fragen (17); vermutlich liegen sie in dem Bedürfnis, »eigene Gewalterfahrungen zu deuten« (17). Die Pluralität von Gottesbildern im Alten Testament ist verursacht »durch die unterschiedlichen Zeitumstände« während dessen langer Entstehungszeit (18 – worauf ein Kürzestabriss der Geschichte Israels auf zwei Seiten folgt!). Sehr knapp auch wird auf die »altorientalischen Wurzeln alt­testamentlicher Gottesbilder«, d. h. auf die Folgen der Umsetzung polytheistischer Vorstellungen in ein monotheistisches System (20–24), und noch knapper auf den Charakter des Alten Testaments als Kompositionsliteratur eingegangen (24 f.). Es folgen einige sprachliche Festlegungen: Gewalt wird relativ weit definiert als »eine gegen ein Lebewesen oder eine Sache gerichtete Handlung, die Schaden zufügt oder Lebensmöglichkeiten mindert« (26). Von da aus wird, in Aufnahme von Vorarbeiten anderer, das einschlä­gige hebräische Vokabular aufgeschlüsselt (28–33). Ein wenig ver­loren wirken eine kurze Auseinandersetzung mit René Girards »kulturanthropologischem Gewaltkonzept« (27 f.) sowie einige Überlegungen zur Fiktionalität vieler alttestamentlicher Gewaltdarstellungen (33–36).
Sehr gründlich und umfassend ist der zweite Hauptteil gearbeitet: »Göttliche Gewalt im Spiegel der alttestamentlichen Wissenschaft«. Es können hier lediglich die gliedernden Zwischenüberschriften und die jeweils zugeordneten Autoren genannt werden, deren Werke die Vfn. sorgfältig vorstellt und umsichtig bewertet. Unter der Rubrik »ältere Forschung« erscheinen Paul Volz und Gerhard von Rad. Als Vertreter der 70er und 80er Jahre und unter den Stichworten »Friedensfrage – Befreiungstheologie – legitime Ge­walt« werden Horst Dietrich Preuß, Norbert Lohfink, Jürgen Ebach und Ed Noort vorgestellt. Die Forschungsbeiträge seit den 90er Jahren teilt Vfn. in zwei Kategorien ein: einerseits Arbeiten über »alt testamentliche und dogmatische Perspektiven«, wozu unter den Stichworten »Gott und das Böse – die Theodizeefrage – Gottes dunk­le Seiten – der göttliche Zorn« Werner H. Schmidt, Walter Groß/Karl-Josef Kuschel, Walter Dietrich/Christian Link und Ralf Miggelbrink gerechnet werden; andererseits Studien mit »Thematischen Schwerpunktsetzungen«, wo unter den Stichworten »Gottes Rache – die Feinde – der Krieg – sexuelle Gewalt – Gewalt gegen Kinder« Arbeiten von Jürgen Ebach, Erich Zenger, Eckart Otto, Gerlinde Baumann und Andreas Michel figurieren. Es folgen »Gesamtüberblicke für ein breiteres Publikum« von Manfred Görg, Thomas Römer, Susanne Krahe, Klaus-Stefan Krieger, Walter Dietrich/ Wolf­gang Lienemann sowie Walter Dietrich/Moisés Mayordomo und schließlich »Weitere Ansätze« von Walter Brueggemann, Ilse Müllner und Ottmar Fuchs.
Die ungemein wert- und verdienstvolle kritische Aufarbeitung der jüngeren Forschungsgeschichte mündet in eine »Systematisierung der vorgestellten Ansätze« und die Entfaltung einer eigenen Perspektive. Insgesamt lassen sich 12 Einstellungen unterscheiden: die »Strategie des Übergehens« oder die des »Ausscheidens« der fraglichen Texte, die Bemühung um deren »Legitimation«, die Behauptung ihrer »Überwindung« durch das Neue Testament, die Annahme einer innerbiblischen »Evolution« in Richtung auf einen Rück­gang der Gewaltbilder, die Erklärung der Gewalt durch die Kategorie des »Opfers«, die Wertung der Gewalttexte als »Spiegel« der gewaltförmigen Realität oder aber als Ausdruck des »Erinnerns« an real erfahrene Gewalt, die »historische Erklärung« der betreffenden Texte, ihre Infragestellung durch »ethische Kritik«, die Hervorhebung der in Gewaltbildern sichtbar werdenden »Andersartigkeit Gottes« und schließlich die Suche nach »Gegenstimmen« zu den Gewalttexten in der Bibel. Die Vfn. hält nicht alle diese Ansätze für verfehlt – etwa die historische Erklärung oder das Aufsuchen von Gegentexten wird sie später selbst üben –, doch möchte sie die be­treffenden Texte vor allem als Versuche zur Verarbeitung erlebter Gewalt verstehen lehren.
Der dritte große Hauptteil bietet Interpretationen zu fünf exemplarischen Texten bzw. Textbereichen, die nach der »mutmaßlichen Entstehungschronologie« angeordnet sind und jeweils in einem Fünfschritt angegangen werden: a) Textproblematik und historische Einordnung, b) religionsgeschichtlicher Hintergrund, c) alttestamentliche Anknüpfungen, d) literarischer Kontext, e) Auslegung. Bei a) und b) werden oft auch bildliche Dar­stellungen beigezogen und auf e) entfallen jeweils nur zwei, drei Seiten. Hier die behandelten Texte und ein paar der erzielten Einsichten:
1. »Gott als Kriegsherr gegen andere Völker«, mit dem Beispieltext Jos 10,11 (wo die Vfn. übrigens – in doch wohl übertriebenem Eifer für eine ›gerechte Sprache‹ – übersetzt: »Es starben mehr durch die Hagelsteine, als die IsraelitInnen mit dem Schwert er­schlugen«, 86).
Als »religionsgeschichtlichen Hintergrund« habe man hier altorientalische, speziell assyrische Kriegsbräuche bzw. -gräuel zu sehen (dargestellt in Wort und Bild, 88–91). Bei »den Passagen göttlicher und israelitischer Gewalttätigkeit im Deuteronomium und im Josuabuch« handelt es sich folglich um »anti-assyrische Propaganda« (92: wohl ein Anachronismus, da Jos 10,11 als vor-, jene Passagen in Dtn und Jos aber als nach-assyrisch einzuschätzen sind). Die jüngere, deuteronomistische »Bann«-Ideologie ist streng auf die einstige Landnahme fokussiert und bietet keine Handlungsanleitung für Gegenwart und Zukunft. Nachexilische »Gegentexte« wie Jes 2,2–5; Ps 46,10; 76,4 verlagern den Akzent von einem »kriegs-mächtig[en]« Gott zum »Überwinder des Krieges« (98). Auch wenn prinzipiell »Gewalt als Mittel gegen die Gewalt nicht tauglich ist«, macht das Alte Testament oft genug deutlich, dass sich »manche Formen von Gewalt ... nicht mit gewaltlosen Mitteln überwinden« lassen (99 – wie ist mit dem Widerspruch umzugehen?).
2. »Gott als Gewalttäter gegen mythische Wesen«, entfaltet an Ps 74,13 f. und abgehoben gegen den Chaos-Kampf in ugaritischen und babylonischen Texten. Jhwhs Kampf gegen die Chaosmächte dient dem Erhalt der Welt. Diese Art göttlicher Gewalttätigkeit ist im Alten Testament rein positiv konnotiert, weshalb hier »eine Suche nach Gegentexten fehl am Platze« wäre (109). »In heutiger Auslegung können Texte wie Ps 74 zum Anlaß genommen werden, über mögliche Differenzierungen von Gewalt nachzudenken. Ist nicht befreiende Gewalt denkbar?« (110)
3. »Gott als sexueller Gewalttäter gegen metaphorische Frauengestalten«. Hier geht es um die bekannten prophetischen Texte (einschließlich derjenigen gegen Ninive bzw. Babylon), exemplarisch aber um Ez 23. Die schockierenden Bilder entstammen weniger dem Eheleben als dem Kriegserleben damaliger Frauen. Wieder sollen die Assyrer, diesmal mit ihrer gewalterfüllten »Gender-Metaphorik«, den Anstoß gegeben haben.
Etwas gewaltsam wird eine bildliche Darstellung aus der Zeit Salmanassars III. dahin gedeutet, dass Frauen »vermutlich unter Zwang ihre Gewandsäume anheben« mussten (119 f.). Einem Text wie Ez 23 gegenüber bleibt kaum etwas anderes als »eine kritische Dekonstruktion der Geschlechterrollen« (124, mit einem 38 Zeilen langen Selbstzitat aus einer früheren Arbeit der Vfn.). »Ein ›Lesen mit dem Text‹, um das sich der vorliegende Band bemüht, scheint hier ausgeschlossen« – es sei denn, dass »die Texte als Erinnerung an das Gewaltschicksal gelesen werden, das hinter der prophetischen Ehemetaphorik steht: die Vergewaltigung von Frauen in Kriegen« (125). Heute könnten sie zudem kritisch gegen »sexuelle Gewalt in Lebensgemeinschaften« verwendet werden (126).
4. »Gott als gewalttätiger Richter der ganzen Welt«. Hier dient Nah 1,2–8 als Exempel – einer derjenigen Texte, die mit ihrer universa­lis­tischen Perspektive dazu dienten, in der Perserzeit »einige stark aus der Israelperspektive verfaßte Traditionen und Schriften zu er­weitern« (128).
Der Nahumpsalm nimmt Bezug auf die im Alten Testament häufig aufgerufene »Gnadenformel«, widerspricht freilich gerade deren älteren Ausformungen wie Ex 34,6 f. und Mi 7,18–20. »Während Micha von Gnade und Vergebung spricht, hebt Nahum Strafe und Zorn hervor. ... In den zwei Büchern wird von ein und demselben Gott gesprochen. Dieser besitzt zwei Seiten« (136). Keinesfalls ist Nah 1 »als Aufforderung zu eigener ›rächender‹ Ge­walttätigkeit zu verstehen. ... Gott übt Vergeltung, nicht die Menschen« (137 f.).
5. »Gott als Gewalttäter gegen einen ausgewählten Einzelnen: Hiob«. Relativ breite einleitungswissenschaftliche Ausführungen (138–145) fördern zutage, dass es im Hiobbuch vor allem um die ›Gewalt‹ der »ökonomischen Bedingungen« in der Perserzeit geht (144). Die Gottesreden antworten auf diese Problematik, indem sie sich positiv auf die Tora Israels, auf die Exodustradition und auf die Vorstellungen von Gott als ›Herrn der Tiere‹ oder als Bändiger des Chaos beziehen (in enger Anlehnung an Othmar Keel).
»Was die Frage nach dem Grund der Ungerechtigkeit in der Welt angeht, die als Gewalttätigkeit Gottes gedeutet wird, präsentiert das Hiobbuch ... keine Lösung. Was es hingegen ... anbietet, ist eine Antwort. ... Nicht als Ausweg aus, aber als Umgangsweise mit der Situation ungerechtfertigten Leidens wird der Weg der Anklage Gottes vor Augen geführt. Gott ist zwar der einzige, aber doch ein unvollkommener Erhalter der Weltordnung« (152 f.). Will der Dichter nicht eher sagen: Gott ist, wenn auch dem Menschen nicht jederzeit nachvollziehbar, der Erhalter der Weltordnung? Würde er dem Rat der Vfn. zustimmen, »die Idee der Allmacht Gottes« schlicht »zu verabschieden« (153)?
Das Buch schließt mit einer knappen »Auswertung«, in der sich so markante Sätze finden wie diese: »Gottes Gewalt wird ... nicht pauschal negativ gewertet«. »Die erlittene Gewalt bekommt mit Gott einen Täter.« »Es sollte das Vorrecht der Opfer von Gewalt und der Ohnmächtigen sein, sich einen gewalttätig einschreitenden Gott zu wünschen.« »Keiner der Texte fordert zur Nachahmung der Ge­walttat auf« (156 f.). Und am Ende steht eine wichtige Erkenntnis: Das Zulassen von Gewaltbildern vermag die Beziehung zu Gott zu bereichern: um das Element der – erlaubten! – Konfrontation mit ihm, um die Ehrfurcht vor seiner Souveränität, um das Rechnen mit seiner Veränderbarkeit, um den Blick nicht nur auf das Selbst und das Individuum, sondern auf die großen, gesellschaftlichen Zusammenhänge (158).
Man sieht: Dies ist ein anregendes und weiterführendes (wenn auch nicht über alle Rückfragen erhabenes) Buch zu einer ebenso schwierigen wie wichtigen Thematik. Es ist ihm zu wünschen, dass es die ihm gebührende Aufmerksamkeit nicht nur in exegetischen und theologischen Fachkreisen findet, sondern bei einem breiteren Publikum, das mit der Bibel zuweilen Mühe hat, von ihr aber doch etwas erwartet.