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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

977–990

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Jürgen Becker

Titel/Untertitel:

Der Völkerapostel Paulus im Spiegel seiner neuesten Interpreten

Die Auswahl der zu besprechenden Literatur ist zufällig. Eine Begründung für den kurzen Zeitraum, aus der die Literatur kommt, oder für die Selektion selbst wird darum auch gar nicht erst versucht. Da Forschungstrends und -schwerpunkte nur für einen längeren Zeitraum aufgewiesen werden könnten,(1) ist es das Ziel des Referates, allein über Veröffentlichungen, die zur Rezension vorliegen, aktuell zu unterrichten.

1. Nachdem es nun seit Jahren den "ganz anderen" Jesus gibt, versuchen sich auch Paulus-Interpreten in diesem Genre.

H. Detering(2) erklärt alle Paulusbriefe für spätere Fälschungen; B. Zürner(3) macht aus Paulus einen Atheisten. So ganz neu sind beider Thesen allerdings nicht: Detering fußt auf den holländischen Radikalkritikern; B. Zürner schreibt seine Paulusauslegung von dem "unbestechlichen Nietzsche" her (546) und setzt dabei die Anthropologie von L. Klages als Maß. Von F. Nietzsche übernimmt er die inhaltliche Abqualifizierung des Apostels, allerdings ohne die antijüdische Komponente. Detering will für die Paulusbriefe eine "vollständige Unechtheitstheorie in ihrem inneren Zusammenhang" darstellen (9). Zürner möchte Paulus "rigoros seiner Theologie, seines Amtes und seiner offiziellen Würde entkleiden" und sein "Gedankenwerk ... a-theologisch" auffassen (29). Wer sich in verschiedener Weise so kraß außerhalb der recht stabilen gemeinsamen Basis der sonst je eigene Akzente setzenden Ausleger stellt, wird nicht erwarten, daß er viel Beifall erhält. Die Ursache für den fehlenden Beifall sollten dabei beide in erster Linie bei sich selbst suchen.

Denn wer allen Ernstes wie Detering behauptet, "Paulus" sei das verklärte Bild des Simon Magus, wie es sich Marcion schnitzte, indem er die Urform der Paulusbriefe schuf, muß schon sehr fantasievoll mit den Quellen umgehen. Er muß zudem der Apg jeden Geschichtswert absprechen, und auch 1Clem sowie die Ignatiusbriefe zu späteren Fälschungen abstempeln, weil sie Paulus, bzw. Paulus und seine Schriften vor ihrer angeblich marcionitischen Entstehung bezeugen. Er muß auch zu der bizarren Vermutung Zuflucht nehmen, daß die marcionitischen Paulusprodukte dann von der Großkirche überarbeitet wurden, damit sie als verfälschte Produkte des Erzketzers Marcion auch im kirchlichen Kanon Aufnahme finden konnten. Wer einmal so großzügig im Urchristentum aufgeräumt hat, dem wird man es nachsehen, wenn er gleich auch noch von R. Augstein die These übernimmt, daß Jesus aus mehreren Figuren synthetisiert wurde (209). Damit ist aus der Jesuszeit und den ersten beiden Generationen des Urchristentums eine tabula rasa geworden. Solches Aufräumen macht dem Autor offenbar Spaß, so daß er gar nicht merkt, wie er sich 1000 eigene Probleme für die Erklärung des Christentums im zweiten Jahrhundert schafft und daß er sich eine methodisch seriöse Behandlung der Quellen erst noch aneignen muß.

Dies gilt auf andere Weise auch für Zürner. Er will mit ermüdend breitem Aufwand dem Leser erklären, daß das, was Paulus von seiner Biographie hier und da preisgibt, Fiktionen sind. Dazu gehören seine jüdische Vergangenheit, seine Verfolgertätigkeit, seine Berufung und das Apostelkonzil. Überhaupt ist Paulus nach seinem eigenen Verständnis kein "Offenbarungsempfänger" (342); er "redet (auch) über den göttlichen Geist nicht aus eigenem Erleben" (435); das bekannte Hohelied der Liebe ist eine Verklärung seines eigenen "Furors" (494); ja "Paulus ’glaubte’ weder an Gott noch an Christus; er dachte und lebte als ’Gottloser’" (546). Um so mehr hat er seine Gemeinden ausgeplündert (625) und den "Handelsgeist ... bis in den Kern des Erlösungsmysteriums" vordringen lassen (623). Dazu gehört ein Charakter, der als lieblos, gemüts- und gefühlsarm, unsozial und kaltherzig bezeichnet wird (643). Paulus war "ein gequälter Mann" (661). In diesem Szenario fehlt eigentlich nur noch, daß in Umkehrung von 1Kor 7,7; 9,5 Paulus ein heimlicher, jedoch um so verklemmterer Triebtäter war. Dieser vom christlichen Sockel gestoßene Paulus ist ­ Nietzsches Weltanschauung und Christentumskritik lassen grüßen ­ im stillen natürlich ein eklatanter Einzelfall für das Elend des Christentums überhaupt.

Doch einmal davon abgesehen, daß eine fiktive Biographie für seine Zeitgenossen ­ vor allem auch für die Gegner des Apostels (Gal!) ­ ein gefundenes Fressen gewesen wäre, Paulus zu entlarven: Wie kommt es, daß seine Zeit, die für Scharlatane durchaus einen scharfen Blick besaß, nicht erkannte, was Zürner zweitausend Jahre später diagnostiziert? Vor lauter Eifer, aus einem Paulus mit dem Nimbus eines Heiligen das abgründige Gegenteil zu machen, verliert Zürner den Paulus der Ge-schichte aus den Augen. Hält es ein Mensch überhaupt durch, sich hinter so vielen Fiktionen zu verbergen? Was sollte ihn dazu bringen, so viel Versteckspiel zu betreiben? Warum blieb er nicht bei seinem erlernten Beruf, statt mit der ewigen Angst zu leben, seine Mimikry würde entdeckt?

2. Vier Gesamtdarstellungen des Wirkens und der Theologie des Völkerapostels sind von längst als Paulusinterpreten bekannten Theologen geschrieben, nämlich von J. Gnilka(4), E.Lohse(5), J. Murphy-O’Connor(6) undE. P. Sanders(7).

Gnilka, der in seiner "Theologie des Neuen Testaments" (1994) die paulinische Theologie schon beschrieb, will nun "das Leben, die ermittelbaren biographischen Einzelheiten, die historischen Spuren des Apostels einerseits und seine Botschaft und Theologie andererseits in ein korrespondierendes Verhältnis zueinander bringen" (7). Allerdings folgt er dann doch insoweit dem traditionellen Aufriß einer Paulusdarstellung, als er die Beschreibung der Biographie und Theologie voneinander trennt. Dabei betont er jedoch eingangs des Kapitels "Paulus, der Theologe" erneut, daß "das Faszinierende seiner ... Gedanken" gerade darin besteht, "daß wir in ihnen noch heute eine Theologie im Prozeß wahrnehmen können" (182). Solcher Theologie im Prozeß will Gnilka dadurch im Ansatz auf die Spur kommen, daß er bei der systematisch aufgebauten Themenfolge(8) in der Regel von den Ich-Texten ausgeht und auch die Chronologie der Briefe beachtet (183). Dadurch wird in der Tat der Variationsbreite bei Einzelthemen des Apostels sehr schön der Raum geöffnet. Jedoch bleibt als Frage ausgeklammert, unter welchen inhaltlich-systematischen Perspektiven Einzelthemen in der Brieffolge von 1Thess bis Röm von Paulus bedacht werden oder eventuell auch keine Rolle spielen.

Bezieht sich der Prozeß paulinischen Denkens also nur auf Modulationen bei Einzelthemen oder auch auf Entwicklungen im Koordinatensystem, in dem die einzelnen Themen je erscheinen? Ein weiteres Charakteristikum in der Anlage der Darstellung ist der Blick auf die spätere Paulusrezeption, hier vorgeführt an Lukas und den Deuteropaulinen. Gnilka betont mit Recht, dieses Forschungsterrain erstmals in ein Paulusbuch integriert zu haben (8), ­ allerdings geschieht das sehr knapp. Er konnte nicht wissen, daß gleichzeitig auch Lohse das zum Thema in seinem Paulusbuch machte (267 ff.). Mögen beide Nachahmer finden!

Aus der Lebensgeschichte des Apostels, wie Gnilka sie zeichnet, ist zu erwähnen, daß eine Missionsreise mit Barnabas (Apg 13 f.) und eine selbständige paulinische Missionsreise nach Griechenland für ihn vor den Konvent in Jerusalem fallen, der sogenannte antiochenische Zwischenfall nach dem Konvent stattfand und Paulus danach nur noch in Ephesus ein Missionszentrum gründete (61 f., 67 ff., 95 ff., 101 ff., 107 ff.). Daß die vorgezogene Griechenlandreise nicht nur einschneidende Konsequenzen für die Chronologie hat, sondern auch zu erheblichen Problemen führt, weiß Gnilka selbst. Man sollte jedenfalls, wenn Paulus(9) und die Apg übereinstimmen, das Arrangement der Ereignisse nicht neu ordnen wollen, zumal man in diesem Fall in Erklärungsnotstände kommt, wie sich Barnabas und Paulus verabredet haben sollen, trotz getrennter Tätigkeiten gemeinsam zum Konvent zu reisen und wie statt der Paulusmitarbeiter auf der Griechenlandreise nun Titus neu als Begleiter auftaucht (vgl. 67 f., 71 f., 93 f.). Ich denke, wer die Abfolge: Aufenthalt in Antiochia ­ Mission von dieser Stadt aus (Apg 13f.) ­ Konvent ­ antiochenischer Zwischenfall ­ selbständige Mission des Paulus erstmals bis nach Europa, aufgibt, macht sich unnötige Probleme und mehr, als er lösen kann.

Aus der Darstellung der paulinischen Theologie sticht als erstes hervor, daß mit "Gott, Ursprung und Ziel ­ die Theologie" auf die Theologie des Paulus im engeren Sinn eingegangen wird.(10) Es wird mit Recht festgehalten, daß Paulus die Be-zeichnung "Gott Israels", "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" oder "Gott unserer Väter" nicht verwendet. Denn es gilt: "Pauli Rede von Gott erfolgt, obwohl der alte Gott der Bibel im Blick ist, unter einem neuen Aspekt, nämlich dem, daß Gott sich auf endgültige Weise in Jesus Christus geoffenbart ... hat" (193). Das sich durch die Christusoffenbarung neu konstituierende Gottesverständnis muß sich dann natürlich in jedem Aspekt paulinischer Theologie widerspiegeln. Der heute gerne das Wort geredeten allzu glatten Kontinuität paulinischer Theologie zum Alten Testament, zu Israel und dem Frühjudentum wird man also um Paulus willen Grenzen setzen müssen, die Gnilka mit Recht markiert.

Das zur Zeit so umstrittene Gesetzesverständnis des Apostels kommt (etwas knapp) unter dem Stichwort "Das ambivalente Gesetz" zur Sprache (224). Zwei Aussagen stechen dabei hervor: "Als Heilsweg kommt das Gesetz nicht mehr in Frage. Dies gilt für Juden und Heiden" (225). Und: "Gerechtigkeit gibt es nur im Bereich des Glaubens ... Der hinter der Gesetzeserfüllung stehende Entwurf des Menschen widerstreitet dem Glauben" (228).

Die soteriologisch konzipierte Christologie des Apostels bespricht Gnilka so, daß er zunächst erörtert, "in welchem starken Maß Paulus hier auf vorgegebene Überlieferungen zurückgreift" und gibt "als Fundort ... vor allem die Gemeinde von Antiochia" an (229). Zudem betont er, daß die "paulinische Rechtfertigungslehre ... profilierter und schärfer als die seiner Vorgaben" ist. "Sie hat in der Auseinandersetzung an Gestalt gewonnen. Im gewissen Sinn ist es zutreffend zu sagen, daß sie Kampflehre ist" (240 f.). Sie hat ihre "Keime in Antiochia und Jerusalem", kommt aber im Röm erst zur eigentlichen Entfaltung (242). Damit hat Gnilka in einer aktuellen Diskussion (eine gute und) dezidierte Position bezogen.

Das liest man bei Lohse anders. Der Untertitel des besonders flüssig geschriebenen Buches ("Eine Biographie") signalisiert, daß sich der Aufriß der Darstellung nach den biographischen Etappen des Apostels richtet. Wer dann aber erwartet, Paulus werde entwicklungsgeschichtlich bedacht, erkennt schnell, daß Lohses Paulusdeutung sehr nahe bei der Position Bultmanns steht. Alle großen danach aufgebrochenen Kontroversen in der Paulusdeutung werden überhaupt mit wenigen Sätzen beiseite gestellt. So vertritt Lohse eine schon klassische Paulusinterpretation, gibt aber der Forschung kaum neue Impulse.

Dieser Standort Lohses wird sofort daran sichtbar, daß die paulinische Berufung das neue Gesetzesverständnis und die Rechtfertigungsbotschaft impliziert. Letztere ist ausdrücklich keine Kampfeslehre, die dann erst in der galatischen Situation ihre volle Ausprägung erhielte (58 ff., 94). Daß man in solchem Fall z. B. Phil 3 unmittelbar mit der historischen Situation der Berufung in eins setzen muß (60), versteht sich von selbst. Daß es jedoch eine retrospektive Reinterpretation früherer Erfahrung im Lichte fortentwickelter Erkenntnis geben kann, bleibt bei Lohse ganz unerörtert. Mit diesem Grundentscheid hängt es dann auch zusammen, daß, obwohl Lohse den systematischen Aufriß in Bultmanns Paulusdeutung nicht übernimmt, sondern eine biographische Ordnung wählt, dieses Arrangement nicht genutzt wird, um ernsthaft zu testen, wieweit Paulus mit seinen Briefen ­ um mit Gnilka zu reden ­ eine Theologie im Prozeß hinterlassen hat. Diese Möglichkeit wird vielmehr ausdrücklich verneint mit dem Hinweis, dafür stünden zu wenige Lebensjahre des Paulus zur Verfügung (245). Daß sich Entwicklungen nicht nach der chronometrischen Zeit richten müssen, sondern z. B. mit der Intensität erlebter und gestalteter Geschichte zusammenhängen oder auch einmal spontanen "Sprüngen" gleichen können, wird nicht erwogen. Wer dies jedoch in Betracht zieht, wird die einzelnen Briefe des Paulus als für ihren Zweck vollständige und theologisch wohldurchdachte Schreiben ernst nehmen und das Gelingen des Dialogs mit den Gemeinden nicht davon abhängig machen, daß allen Gemeinden das theologische Wissen von Gal und Röm präsent war. Praktisch aber erwartet Lohse dies, wenn er ausdrücklich den Röm zum Maßstab für eine Darstellung der paulinischen Theologie einfordert (212-214). Zugleich läßt er damit den Erkenntnisgewinn der Berufung und den Inhalt des Röm zusammenfallen. Also stellt Lohse einen mit seiner Berufung fertigen, man kann auch sagen "statischen" Paulus dar. Die Berufung schafft endgültige Erkenntnis; sie ist nicht Grundentscheid mit Zukunft, die im Leben allmählich erprobt und ausgelotet werden will.

Das ist bei Murphy-O’Connor anders. Ihn interessiert die Person des Paulus hinter seinen Briefen, und es gilt: "A life ... moves forward through time" (VII), und das heißt im Blick auf Paulus: "changing circumstances forced him to develop" (VII). Darum liegt ihm sehr viel an der chronologischen Abfolge der Briefe als Basis für das paulinische Wirken und Denken. Beides gehört als ein geschichtlicher Prozeß zusammen. Dabei wird die Apostelgeschichte gegenüber den Paulusbriefen deutlich abgestuft. 2Thess, Kol und 2Tim werden als echte Paulusschriften behandelt, und 1Thess, 2Kor und Phil in mehrere Briefe zerlegt. Kennzeichnend für Murphy-O’Connors Konzept ist auch, daß er Paulus nur recht kurz in Antiochia weilen läßt, weil er eine Missionsreise des Apostels von Antiochia über Galatia, Mazedonien und Achaja vor den Jerusalemer Konvent legt, der für ihn dann im Herbst 51 stattfindet. Nach dem Konvent hält sich Paulus den Winter über in Antiochia auf (Gal 2,11ff.), um dann nach Ephesus aufzubrechen. Dem etwa dreijährigen Wirken in der Asia folgen eine Reise Mazedonien ­ Illyrien ­ Korinth ­ Jerusalem, die Reise als Gefangener nach Rom, dann eine erfolglose Spanienreise und eine weitere Tätigkeit im ägäischen Raum. Die Ereignisse des neronischen Brandes in Rom veranlassen Paulus abermals, die Hauptstadt aufzusuchen, um der bedrängten Gemeinde beizustehen. Hier stirbt er den Märtyrertod noch unter Nero.

Daß in diesem grob skizzierten Gesamtbild Probleme lauern, ist angesichts der Forschungslage klar: Kol und 2Tim sind und bleiben doch wohl Deuteropaulinen. Die Ansetzung einer selbständigen paulinischen Mission in Europa vor dem Konvent und vor allem das, was Murphy-O’Connor nach dem ersten Romaufenthalt über Paulus zu wissen meint, ist sicher nicht ohne zum Teil erhebliche Hypothetik gezeichnet. Überhaupt weiß der Autor oft zu viel und manches übergenau oder mit eigenwilliger Konstruktion (Beispiele: 64 f., 93 f., 141, 172f., 193 f., 282 f., 289, 341 ff.).

Aber man kann ihn in diesen und den anderen Fällen ruhig kritisieren, sein Werk behält dennoch für jeden Leser einen soliden Wert, weil in ihm auf engem Raum, das Wesentliche zu-sammenfassend, die Geschichte der Paulusstädte, die Reiserouten des Apostels und viele geschichtliche Hinweise zu finden sind, die die antike Welt des Apostels, soweit das noch geht, lebendig erstehen lassen. Man spürt die Lust des Autors zu solcher Konkretion auf fast jeder Seite.

Allerdings hat dieser Glanz des Buches auch noch eine Kehrseite: Der theologische Gehalt der Briefe wird nur unterbelichtet und zum Teil in nicht mehr einsichtiger Auswahl behandelt (eklatantestes Beispiel: 332 ff.). Dabei herrscht das Gesamturteil: "Paul’s message was always very simple ... All that was necessary, in his eyes, was to understand what Christ had done for us and to act accordingly. What this meant in practice was a matter for each community to decide" (226, vgl. 276). Überhaupt kümmerte sich Paulus weniger um das theologische Denken in den Gemeinden, "he was much more concerned with what the community did than what it thought", denn sein Ziel war ein "freely chosen life-style" in den Gemeinden (129). Theologische Urteile des Apostels z. B. über die Macht der Sünde im Röm werden mit empirischer Erfahrung erklärt: Paulus habe auf seinen gefahrvollen Reisen erlebt, wie er, statt wie Christus zu leben, seine eigene Überlebenschance gesucht habe. Diese Erfahrung habe sich zum Urteil verdichtet: "Sin ... (is) a reality within hu-manity" (336). Ob mit solcher Gesamteinschätzung der Theologe Paulus überhaupt in den Blick gerät, ist zu bezweifeln.

Sanders’(11) Paulusverständnis gehört zu demjenigen Typ der Paulusdeutungen, die einen recht stabilen jüdischen Rahmen beim Apostel voraussetzen, innerhalb dessen er eine Einzelantwort neu gibt. Die Möglichkeit, daß Paulus von Christus her "alles" neu bewertet und so ein eigenes und neues Wirklichkeitsverständnis entwirft, ist nicht erwogen. Für diese zweite Möglichkeit sprechen aber doch wohl Signale in allen Briefen des Apostels (vgl. nur 1Kor 3,21-23; 7,29-31; 2Kor 5,11-6,2; 10,5; Gal 1,4; 4,4; Phil 3,7 f. usw.). So ist Paulus nicht eigentlich darum bemüht, sich in einem geschichtlichen Kontext, der durch einen jüdischen "Plan Gottes" definiert wäre, einzuordnen (7 f., 56-61), sondern er will Christus in allen Gläubigen Gestalt gewinnen lassen (Gal 4,19), so daß die Welt dem Christen gekreuzigt ist und dieser der Welt (6,14). Darum hält der Apostel sein ehemaliges jüdisches Sein, das ihm einst Gewinn war, für einen Negativposten "wegen der überragenden Erkenntnis Christi Jesu" (Phil 3,7 f.). Darum kann Paulus seine christliche Existenz als Mitgekreuzigtsein mit Christus deuten, so daß nicht mehr er selbst lebt, sondern Christus in ihm (Gal 2,19 f.).

Das Paulusverständnis Sanders’ ist sodann dadurch bestimmt, daß er das lutherische Verständnis der paulinischen Rechtfertigung für von Grund auf verkehrt hält (62-65), die paulinischen Aussagen zur Rechtfertigung allein als spezielle Antwort auf die begrenzte Frage versteht, wie die Aufnahme der Heidenchristen in das Gottesvolk im Rahmen des endzeitlichen Planes Gottes erfolgen soll (65-68, 87-91), und endlich die Rechtfertigungsaussagen bei Paulus als theologisches Randphänomen einschätzt, indem er des Apostels eigentliches Denken auf die Teilhabe des Gläubigen an Christus und am Geist fokussiert findet (98-101). Zum ersten Punkt ist zu sagen, daß Sanders von einem verzerrten Lutherbild ausgeht.(12) Im übrigen sind die Rechtfertigungsaussagen in Gal 3 f.; Phil 3; Röm 3 f.; 10 nur gewaltsam ihres allgemeinen anthropologischen Horizonts zu entkleiden, innerhalb dessen die endzeitliche und soteriologische Zuwendung Gottes zu allen Menschen ­ Juden wie Heiden ­ erörtert wird (vgl. nur Röm 3,19 f.22 f.30; 4,16 ff.). Endlich ist es m. E. das erklärte Ziel des Paulus, die Geistaussagen wie die Aussagen zum neuen Sein jeweils mit der Erwählungssprache (1Thess), der kreuzestheologischen Sprache (1/2Kor) und der Rechtfertigungssprache (Röm, Gal) zu einem Ganzen zu verknüpfen. Man sollte hier nichts gegeneinander ausspielen.

3. Immer wieder liest man mit Recht, daß bei Paulus Biographie und Theologie in einem eigentümlichen und engen Verhältnis zueinander stehen. Dies gilt nicht nur, wenn auch in einem besonderen Maße von seiner Lebenswende in Damaskus. Dennoch kann man sich dem Apostel mehr im Blick auf seine Biographie oder mehr in Hinsicht auf sein theologisches Denken nähern. Den ersten Weg wählen M. Hengel/A. M. Schwemer(13), A. Dauer(14), C. Breytenbach(15) und L. Wehr(16).

Hengel/Schwemer beginnen mit einer aus der Feder Hengels schon bekannten pauschalen und fulminanten Abqualifikation weiter Kreise der Acta-Forschung: Diese vertreten unhistorische Spekulationen, ihre radikale Kritik ist unkritisch und ihre Ergebnisse sind fantastische Konstruktionen (IX, 7). So ist das also in der Sicht Hengels! Was bieten dagegen Hengel/Schwemer selbst? Eine nahezu komplette Identifikation von narrativer Textebene und historischer Wirklichkeit bei Lukas; eine fast vollständige Harmonie zwischen den wenigen Angaben des Paulus aus seinem Leben bis zum Fortgang aus Antiochia mit denen des Lukas, der ­ natürlich! ­ nur der Arzt und Reisebegleiter des Paulus sein kann und von dem Lukas viel unmittelbare Kenntnisse erhielt, z. B. die dritte Darstellung der paulinischen Lebenskehre in der Apg (7, 9, 49, 81); und endlich eine Untermauerung dieses Paulusbildes samt der Frühgeschichte des Urchristentums durch eine Überfülle an Primärmaterial und Sekundärliteratur.

Dieses zuletzt genannte historische Quellenmaterial ist von hoher Kenntnis geprägt und das beste an dem Buch. Allerdings lohnte sich auch hier näheres Zusehen. Da dies jedoch weit von Paulus selbst wegführt, sei diese Diskussion jetzt zurückgestellt. Wer sich jedoch fragt, wie man über die kargen Nachrichten aus den Jahren des Paulus vor dem 1Thess rund 500 Seiten schreiben kann, findet hier den Grund: Das connubium von Freude und Fleiß bei der Aufarbeitung historischer Nachrichten trägt große Früchte.

Das Ergebnis ist eine Art Faktenmaterialismus, über dessen Funktion und Wert allerdings im einzelnen gestritten werden darf. Dies sollte um so eher geschehen, als Hengel gerne der neutestamentlichen Zunft vorwirft, sie würde das Quellenstudium vernachlässigen, und bei ihr sei darum der historische Sinn unterentwickelt, speziell auch bei der Einschätzung der Apostelgeschichte (11, 15; ebenso Hengel in: Dunn 27). Nun ist das Quellenstudium bei Historikern durch nichts zu ersetzen, selbst wenn Hengels Zunftschelte zurechtgerückt werden muß. Doch zum Quellenstudium gehört vor allem und ganz wesentlich die Frage: Wie die Texte gelesen werden müssen. Und eben diese Frage ist vor lauter Faktensammeln und -kombinieren bei Hengel unterbelichtet.

Beispiele der Acta-Exegese machen das deutlich: Zu Apg 2-5 ist Hengel/Schwemers Meinung die, daß sowohl die Unterscheidung von Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten wie die zeitliche Abfolge der Ereignisse in diesen Kapiteln "a very real background" besitzt, nur sich stürmischer ereignete, als Lukas es schildert (27-29). Ein kritischer Vergleich mit den anderen Evangelienschlüssen und mit Paulus wird nicht in Erwägung gezogen. Daß dieses narrative Arrangement das theologische Geschichtsbild des Lukas sein könnte, bleibt unerörtert.(17) Was Lukas schreibt, ist eben sehr unmittelbar historische Realität, die man als Exeget noch weiter ausgestalten kann.

Natürlich plädieren Hengel/Schwemer dafür, daß Paulus schon in Jerusalem an der Verfolgung der Hellenisten teilhatte (33), denn es gilt ja Lukas als Historiker ernst zu nehmen. Die üblichen (nach meiner Meinung gewichtigen) Argumente (das Nachklappen von Apg 7,58b-60; 8,3 gegenüber der Stephanusperikope; die Probleme mit den Vollmachten nach Apg 9,1f.; die Schwierigkeit der Harmonisierung mit den paulinischen Selbstaussagen) seien einmal zurückgestellt und es sei nur darauf verwiesen, daß Hengel/Schwemer beobachten, wie dazu die Apg in Dissonanz steht, insofern ungeklärt bleibt, wieso Paulus, von Jerusalem kommend, gerade in Damaskus Christen verfolgt und nicht solche, die auf dem Weg von Jerusalem näher lagen. Die beruhigende Antwort lautet: "one of his ( d. h. Lukas’) many in-consistencies" (83). Aber daß dies ein Argument dafür sein könnte, daß Lukas die paulinische Teilnahme an der Verfolgung in Jerusalem nachträglich konstruiert hat, wird darum nicht erörtert, weil überhaupt Lukas nur je mit seinen Einzelaussagen bedacht wird, nicht aber als Gestalter einer eigenen erzählten Welt unter Verwendung verschiedener Materialien.

Selbstverständlich treten Hengel/Schwemer auch dafür ein, daß Apg 9,10 ff. historische Wirklichkeit wiedergibt ­ bis in Einzelheiten hinein (43ff.), so daß Paulus auch z. B. von Ananias getauft wurde. Wie aber läßt sich die vom Apostel selbst vertretene Gottunmittelbarkeit seines Christwerdens und Apostolats damit in Einklang bringen? Beide verweisen auf Röm 6,3, wo Paulus davon spricht, "wir sind auf Christus Jesus getauft worden" (43). Dieses durch ein ekklesiologisches "Wir" bestimmte "Taufkapitel" wird einfach biographisch ausgemünzt. Müßte man dann nicht z. B. aus 1Kor 6,9-11, wo ein ekklesiologisches "Ihr" gebraucht ist, das Gegenteil fordern? Kurzum: Kein paulinischer Hinweis auf die urchristliche Taufe eignet sich dazu, Paulus zu entlocken, er selbst sei getauft worden. Also müßte man doch von der Selbsteinschätzung des Paulus her die historische Wirklichkeit hinter Apg 9,10 ff. kritisch erörtern, und außerdem nicht vergessen, das theologische Gesamtbild, das Lukas von Paulus zeichnet, zu erheben und in die Waagschale der Diskussion zu werfen. Solche differenzierte Diskussion findet bei Hengel/Schwemer nicht statt, weil sie viel zu unmittelbar und glatt die literarische Welt als direkte Repräsentanz der geschichtlichen Welt annehmen.

Dem hohen Geschichtswert der Acta, der allenfalls durch "verständliche Informationslücken"(18) oder "Inkonsistenzen" (83) etwas getrübt wird, steht viel härtere theologische Kritik an Lukas gegenüber:(19) Lukas habe das Evangelium allein aus Gnaden nicht erfaßt. Aber daß Lukas von seiner Theologie her auch sein Geschichtsbild gestaltet haben könnte, wird nicht weiter verfolgt.

Eindeutig ist allerdings, daß Hengel/Schwemer selbst ein Geschichtsbild aufbauen, wie es weder von Lukas noch von Paulus unmittelbar abgesichert werden kann, also nur hypothetisch, ja zum Teil nur postulatorisch gesetzt wird. Dazu gehört im Kernbereich, daß schon in der Anfangszeit in Jerusalem die Christologie mit den Titeln Christos, Sohn Gottes, Kyrios, mit dem Sühnetod des Gottessohnes usw. ausgebildet war. Sie ist also recht unmittelbare Folge der Ostererfahrung. So ist denn auch die Rechtfertigungs- und Gesetzestheologie des Paulus unmittelbare Einsicht seiner Damaskuserfahrung.(20) Es ist klar, wozu das alles dient: Die für Hengel/Schwemer offenbarungstheologisch gewichtigen Ereignisse (Ostern, paulinische Berufung) qualifizieren die genannten theologischen Stichworte unmittelbar und in herausragender Weise. Damit besitzen sie innerhalb der geschichtlichen Entwicklung eine durch Offenbarungsnähe bestimmte Sonderstellung.

Es lohnt sich, Hengel/Schwemers Umgang mit der Apg noch in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Dazu hilft auch ein Abschnitt in C. Breytenbachs Monographie(21), die noch weiter unten vorzustellen ist. Hengel/Schwemer haben sich in ihrem Umgang mit der Apg der englischen Actaforschung angeschlossen, die die Arbeiten von (Fr. Overbeck und) M. Dibelius samt ihren Nachfolgern nicht rezipiert hat. Ebenso hält sie es mit den neueren amerikanischen Arbeiten mit literaturwissenschaftlicher Me-thodik (z. B.: narrativ criticism): Diese, die das Anliegen der alten auf M. Dibelius zurückgehenden redaktionsgeschichtlich orientierten Actastudien (z. B. E. Haenchen und H. Conzelmann) auf neuer und methodisch ausgewiesenerer Weise fortsetzen, finden bei denselben englischen Forschern kein Gehör. Dies ist darum so, weil diese gerne einer traditionellen Auffassung zur Apg zuneigen, die folgendem Gruppenkonsens huldigt: Lukas, der

Arzt und Paulusbegleiter (Kol 4,14) ist Verfasser von Lk-Apg. Deswegen ist der Geschichtswert der Apg sehr hoch anzusetzen und die Eigenleistung des Lukas sehr gering. Dieser Geschichtswert der Apg läßt sich zudem durch 1000 "Fakten" aus der antiken Welt untermauern. Die Suche nach solchen bestätigenden "Fakten" ist vordringlich. Eine synchrone Analyse der literarischen Komposition und der theologischen Grundeinstellung des Lukas samt seinen erzählerischen Zielen, erst recht die diachrone Suche nach Quellen oder Einzeltraditionen ist demgegenüber ohne Belang, ja weitgehend überflüssig, ist Lukas doch unmittelbarer Augenzeuge.

Diese Auffassung zur Apg hat gravierende Schwächen: Wo erstens die im allgemeinen umstrittene Autorschaft in Gestalt einer bestimmten Lösung die Methodenfrage regiert, sind zwei Problemhorizonte vermengt, die je unabhängig voneinander erörtert zu werden verdienen: Wer immer der Verfasser ist, er erstellt eine "erzählte Welt", deren Analyse M. Dibelius begonnen hat und die in der deutschen, jüngst auch in der amerikanischen Actaforschung ihre Fortsetzung findet. Die seither mit zum Teil großem Konsens diskutierten Stilmittel, kompositionellen Arrangements und narrativen Leserführungen, als auch die darin zutage tretenden theologischen Ansichten des Lukas lassen sich nur um den Preis methodischer Einseitigkeit beiseite schieben.

Es ist Willkür, von Lukas als Erzähler und Theologen abzusehen, um ihn nur als Historiker zu begreifen. Vielmehr: Indem Lukas als Erzähler und Theologe wirkt, fängt er (zu überprüfende) historische Wirklichkeit mit ein. Diese Wirklichkeit ist zweitens in verschiedener Konsistenz, als allgemeine Typik oder Einmaligkeit, als gute Information oder als nur konstruierte Anschauung usw. eingefangen. Bei ihr können Damals und Heute verwoben sein; sie kann vereinfacht und verschönt worden sein; sie kann parteilich funktional eingesetzt erscheinen usw. Historische Wirklichkeit ist drittens erheblich (!) mehr als sogenannte "Fakten" aus der politischen Geschichte, aus Geographie, Sozialkunde und Lokalkolorit.

Darum kann der Nachweis, Lukas sei in diesen Dingen wirklichkeitsnahe, ihn auch nur begrenzt als zuverlässigen Historiker erweisen. Mit solcher Einschränkung sind diese "Fakten" zweifelsfrei wertvoll. Endlich darf man sich bei der Apg nicht von der diachronen Analyse für dispensiert ansehen. Die Meinung in hohen Ehren, Lukas habe seine erzählte Welt sehr selbständig gestaltet! Daß man dennoch mit Einzeltraditionen, aber auch zusammenhängenden Überlieferungen ("Quellen") zu rechnen hat, hat sich bewährt. Wer den Autor der Acta und die Historie unter Umgehung dieser diachronen Vermittlung kurzschließt, könnte dies allenfalls für einen Teilbereich der Paulusreisen theoretisch verantworten (nämlich mit der Annahme, Lukas der Arzt sei der Verfasser) und hat Lk 1,1-4 gegen sich, denn die dort erwähnten Vorgänger auf das Evangelium zu beschränken, bleibt Postulat.

Man wird also Hengel/Schwemers Umgang mit der Apg als methodischen Rückschritt in die Zeit vor M. Dibelius deuten. Mögen die von Hengel immer wieder als "Hyperkritiker" apostrophierten Actaforscher wie E. Haenchen und H. Conzelmann den Geschichtswert der Apg zu gering eingeschätzt haben, mag ihre redaktionsgeschichtliche Frage methodisch nicht mehr der Analyse narrativer Texte genügen, ihre Arbeit mit einem abqualifizierenden Wortplakat für erledigt zu halten, geht darum nicht an, weil man so das Problem, das sie in der Nachfolge von Dibelius lösen wollten, nicht los wird. Der enge Verbund von althistorischer Forschung und Actaexegese in hohen Ehren, aber nicht um den Preis, daß das schwierige Problem der Unterscheidung von erzählter Welt und historischer Welt und der gleichzeitigen Verwobenheit beider ignoriert wird; nicht um den Preis, daß durch "Fakten" aus Geographie, Politik, Lokalkolorit usw. die ganze historische Wahrheit eines Textes "bewiesen" wird, wo doch so nur erhärtet werden kann, daß die Tradition oder der Erzähler in dieser Hinsicht wirklichkeitsnah erzählen.

Auch Dauer befaßt sich mit einem Aspekt der paulinischen Lebensperiode, die vor den Briefen liegt, nämlich mit der antiochenischen Zeit des Apostels. Er stellt einen Erklärungsbedarf für den Umstand fest, daß die antiochenische Gemeinde eine herausragende Stellung in der Christentumsgeschichte und für Paulus selbst besaß, jedoch Paulus fast völlig über seine antiochenische Zeit schweigt. Um diese Dissonanz zu erklären, widmet sich Dauer zuerst der Stadt- und Gemeindegeschichte Antiochias, geht dann den Actazeugnissen nach, sammelt unter den Themen "Antiochia ­ ein Lernort des christlichen Glaubens für Paulus ..." (77) die von Paulus in seinen Briefen eingebundenen Traditionen, die in der Literatur mit Antiochia in Verbindung gebracht wurden, und untersucht endlich das Selbstzeugnis des Apostels über Antiochia (also Gal 2).

Diese Arbeitsgänge dokumentieren eindrücklich die Sonderstellung der antiochenischen Gemeinde, jedoch gibt Gal 2 auch Auskunft, warum Paulus seine antiochenische Zeit verdrängt. Dies ist Ausdruck "eines paulinischen Traumas", nämlich Folge seiner "bitteren Niederlage" beim petrinischen Besuch in Antiochia (127). Dauer hebt diese Einschätzung ausdrücklich von einer Feindschaft gegenüber Petrus, Barnabas und Antiochia ab. Doch zeigt Gal 2, daß zu dieser Zeit das Trauma noch nicht geheilt war (128).

Der Gewinn der Arbeit liegt in einem Doppelten: Dauer kann erklären, warum Paulus Gal 1 von der Metropole am Orontes schweigt und sie nach seinen Selbstzeugnissen nicht mehr in seinen Reiseplänen berücksichtigt. Dauers Erklärung hat zudem den Vorteil, daß sie dem Einfluß der Antithetik Baurs vom petrinischen und paulinischen Christentum nicht erliegt und darum die "neutrale" Erwähnung von Petrus und Barnabas in 1Kor 9 nicht gegen sich hat. Ein weiterer Verdienst der Arbeit liegt darin, daß sie die Diskussion zum antiochenischen Traditionsgut dokumentiert(22) und gewichtet. Jeder kann sich nun in diesem unübersichtlichen Feld ein Panoramabild verschaffen.

Wer von Dauers Darstellungen aus weiterarbeiten will, wird sich dem Problem stellen müssen, wie man das Antiochia von anderen Gemeinden zugewachsene und das spezifisch antiochenische Material in etwa unterscheiden kann. Als Differenzierung bietet sich das Achten auf den vorher innerjüdischen und den nun weltweiten Horizont an, was dann Folgen für die Christologie und Ekklesiologie haben muß.

Breytenbachs Arbeit(23) zu Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien vereint zwei Studien, nämlich eine Erörterung der geschichtlichen Verhältnisse in Apg 13 f. und die Frage nach den Adressaten des Gal. Zu Apg 13 f. lautet die These, daß es historisch gut kalkulierbare Gründe gibt, mit einer zeitlich vor dem Konvent in Jerusalem zu datierenden und von Antiochia am Orontes ausgehenden Mission auf Zypern (Salamis, Paphos) und in Südgalatien (Perge, pisidisches Antiochien, Ikonion, Lystra, Derbe) zu rechnen. Diese Annahme wird dann verknüpft mit der Frage, ob nicht die Hausgemeinden des Gal auf dieser Mission von Antiochia möglicherweise gegründet worden sind. Die Antwort lautet: Ja. Das hat zur Konsequenz, daß der z. B. von Gnilka (62) und Lohse (98 f.) als common sense vertretenen nordgalatischen zugunsten der südgalatischen Hypothese der Vorzug gegeben wird. Dies eröffnet zugleich die Möglichkeit, den Gal eventuell deutlich früher zu datieren als im Falle der nordgalatischen Hypothese. Doch wird auf diese Folgerung nur hingewiesen. Sie wird nicht eigens thematisiert.

Breytenbachs Untersuchung zeichnet sich nicht nur durch eine bestechend klare Gedankenführung und durch methodische Konsequenz aus, sondern hat darüberhinaus das spezielle Verdienst, die Quellen zur Territorialgeschichte mit besonderer Kennerschaft auszuwerten. Darüber hinaus gelingt es ihm, durch Stil- und Kompositionsanalyse sowie dem Aufweis von Lokalkolorit die lukanische Komposition in Apg 13 f. durchsichtig zu machen und das Faktum der Missionsreise samt ihrer zeitlichen Ansetzung vor dem Konvent in Jerusalem historisch zu begründen. Allerdings widmet sich die Analyse nur formalen Beobachtungen zum Stil und zur Komposition. So wünschte man sich zu Apg 13,6-12 nicht nur die "unsichere" (96), weil recht hypothetische Rekonstruktion der Familie der Sergii Pauli, sondern eine Zuordnung der Perikope zu den lukanischen Texten, die Römer in ihrem Verhältnis zum Christentum schildern.

Ähnlich ist der Eindruck zu Apg 13,50: Daß Juden über römische Frauen Einfluß auf die Geschichte einer Stadt nehmen können, ist nach Breytenbachs Ausführungen nicht unwahrscheinlich. Jedoch hat der Text noch einen speziellen lukanischen Zusammenhang, nämlich das theologische Thema Juden und Völker in der urchristlichen Mission. Diesen theologischen Zusammenhang erörtert Breytenbach wiederum nicht. Doch sind es gerade solche theologischen Linien, die es verwehren, von der durch Lukas erzählten Welt zu schnell in die Historie zu springen. Aber in jedem Fall ist der harte Kern der Ausführungen Breytenbachs, nämlich die Plausibilität der Reiseroute in Apg 13 f. mit ihren nachweislichen Lokalkenntnissen, eine weitere wesentliche Stütze(24) für die Annahme, es habe vor dem Jerusalemer Konvent eine antiochenische Mission auf diesem Terrain gegeben. Im übrigen muß man den lukanischen Part weiterhin als dominant und hoch ansetzen.

Nun liegen diese Orte, die Paulus und Barnabas nach Apg 13f. aufsuchen, im Süden der römischen Provinz Galatia. Liegen also hier die Gemeinden, die der Gal adressiert? Jedenfalls ist es sicher, wie Breytenbach gut belegt, daß es hier und nicht nur in Nordgalatien (d. h. im alten Siedlungsgebiet der Galater) Galater = Kelten (Gal 3,1) gab. Allerdings greift Breytenbach dann zu der These, in Galatien hätten nicht judenchristliche Wandermissionare die Beschneidungsforderung aufgestellt, sondern dies hätten nur örtliche Synagogen tun können, da es für jüdische Wandermission vor 70 n. Chr. (vielleicht außer Mt 23,15) keine Belege gäbe (140 ff.), und die Beschneidungsforderung auf Integration in eine synagogale Gemeinschaft (130) ziele. Da es in Nordgalatien keine Synagogen gab (144 ff.) wohl aber in Südgalatien (167 ff.), fällt damit der Entscheid zugunsten der Gemeinden im Süden der Provinz Galatia.

Doch diese Argumentation leuchtet nicht ein: Die christlichen Judaisten in Galatien missionieren nicht einfach Heiden, sondern besuchen christliche Gemeinden. Es geht also um Besuche wie die in Gal 2,11f., die zwischen christlichen Gemeinden wohl gang und gäbe waren und die auch das Judentum als synagogale Besuche und Gegenbesuche kannte. Und selbst wenn das nicht die passende Analogie wäre, bliebe immer noch die Frage, warum christliche Beschneidungsleute sich nur nach jüdischer Sitte hätten richten müssen und nicht dem Faktum christlicher Mission entsprechen konnten. Der synagogale Gemeinschaftsgedanke, der mit der Beschneidungsforderung zweifelsfrei gegeben war, kann im übrigen nicht nur zwischen örtlicher Synagoge und christlicher Hausgemeinde am selben Ort zur Geltung kommen, sondern auch zwischen synagogal eingebundenem Judenchristentum (wohnhaft z. B. in Judäa) und den heidenchristlichen Gemeinden Galatiens. Da Breytenbach die Schwierigkeiten in Apg 16,6; 18,23 ­ die Stellen erwähnen weitere Reisen des Paulus durch "Galatien" ­ auch nicht zugunsten der nord- oder südgalatischen Deutung lösen kann, bleibt nur noch sein zutreffender Hinweis, daß es für Nordgalatien keine in die frühe Zeit zurückreichenden Zeugnisse für christliche Gemeinden gibt, wohl aber für Südgalatien (168 ff.). Aber dieser Beobachtung wird man darum keine ausschlaggebende Beweiskraft zugestehen, weil die inschriftlichen Zeugnisse Nordgalatiens gering und eher zufällig sind und auch andere Gemeinden des Urchristentums dieses Schicksal mit diesen nordgalatischen Gemeinden teilen. Argumenta e silentio haben eben immer ihre Probleme.

Was spricht denn für die nordgalatische These? Ganz sicher dies, daß Paulus in Gal 1 die Mission bei den Galatern nicht eigens heraushebt: Wer wie Paulus später in Gal 3,1 ff.; 4,12 ff. auf diese Erstmission so intensiv eingeht, aber Gal 1,21 neutral und distanzierend formuliert (statt etwa: "kam ich auch zu euch"), zeigt an, daß für ihn Gal 1,21 und 3,1 ff.; 4,12 ff. verschiedene Ereignisse sind. In Apg 13 f. ist weiter Barnabas Reisebegleiter. Warum schweigt Paulus von ihm in Gal 3,1 f.; 4,12ff.? Warum endlich gibt Paulus, aus Ephesus schreibend, den Korinthern gerade die galatische Kollekte als Vorbild an (1Kor 16,1) und nicht etwa eine ephesische? Doch wohl, weil er sie gerade aktuell geregelt hatte. Das konnte er aber nur, solange die Judaisten noch nicht in Galatien arbeiteten. Also muß er von Ephesus aus vor der Abfassung des 1Kor in Galatien gewesen sein. Die problemlose Erwähnung der Kollekte in Gal 2,10 stützt diese These: Sie wird wie eine erledigte Sache behandelt. Das spricht für eine Abfassung des Gal ab der späten ephesischen Zeit.

Wehr widmet sich in seiner Habilitationsschrift über Petrus und Paulus (vgl. Anm. 16) einem Thema, dem für die Einschätzung des Urchristentums hohe Bedeutung zukommt. Allerdings ist es nicht von ungefähr, daß die monographische Bearbeitung des Themas bisher schüttern ausfiel: Zu Petrus gibt es nur Momentaufnahmen aus fremder Feder und spätere Berufungen auf seine Autorität; die paulinische Biographie und Theologie sind hingegen vergleichsweise sehr gut zu erheben. Diese Unwucht bei den Vergleichsdaten ist nicht auszugleichen, es sei denn, man verwendet zu Petrus höhere Grade der Hypothetik. Diesen Weg geht Wehr. Dementsprechend ist er hier zwangsläufig offen für kritische Nachfragen.

Im Grundsatz wird man der Hauptthese von Wehr zunächst zustimmen können: Es gibt zwischen beiden Aposteln zwar den antiochenischen Streit nach Gal 2,11 ff. Aber im übrigen ist aus keinem Zeugnis ein dauerhaftes feindschaftliches Gegenüber zu belegen. Natürlich wird Petrus mehr durch die Jesustradition geprägt gewesen sein, Paulus gehörte nicht zum Jüngerkreis Jesu. In etwa wird man auch dem beipflichten können, daß Petrus (lange Zeit?) ein entschränktes Judenchristentum, Paulus ein gesetzesfreies Völkerchristentum vertrat. Doch gilt das z. B. noch für den Petrus in Rom, weil Rom indessen eine völkerchristlich orientierte Gemeinde aus Juden und Heiden war (vgl. nur Röm 15,14-16,23)? Das Petrusbild verändert sich weiter wesentlich, wenn man den Zusammenhang von Konvent und petrinischem Besuch in Antiochia anders sieht als Wehr. Er setzt voraus, daß in Jerusalem das Zusammenleben von gemischten Gemeinden noch kein Thema war, dies vielmehr erst beim Zwischenfall in Antiochia akut wurde (61, 66 f., 69). Aber wie erklärt sich dann die gemischte antiochenische Delegation aus ehemaligen Juden (Barnabas und Paulus) und Heiden (Titus), die als Einheit nach Jerusalem zieht (Gal 2,1.3), und das selbstverständliche Erstverhalten des Petrus in Antiochia (Gal 2,12a)? Hatte aber bereits der Konventsbeschluß das Zusammenleben von Juden- und Völkerchristen im Blick, dann fällt Petrus hinter den Konventsbeschluß zurück (Gal 2,12b), und Paulus bleibt ihm treu. Folgt man Wehr, lösen Petrus und Paulus ein neues Problem je unter Beachtung des Konvents, wenn auch verschieden. Das ist natürlich ein großer Unterschied. Auch das Petrusbild im Spiegel der Petrus-Partei in Korinth wird ein anderes, wenn man den von Wehr (mit Merklein) vermuteten Konnex zu 1Kor 8-10 nicht erkennt. Es ist also klar: Ein relativ abgesichertes Petrusbild zu zeichnen, ist problembeladen und belastet den Vergleich zwischen Petrus und Paulus erheblich.

Deutlich besser steht es mit der Quellenlage, wenn Wehr das Paulus- und Petrusbild nach dem Tod beider Apostel zeichnet. Der Grundzug eines eigentümlichen Ineinanders von Nähe und Distanz (380) ist gut getroffen. Auch der Hinweis, daß beide immer wieder in den Dienst gesamtkirchlicher Einheit gestellt werden (387), ist zustimmungswürdig.

4. Endlich liegen zu einzelnen Themen der paulinischen Existenz und Theologie Untersuchungen vor, nämlich von B. Heininger(25) und St. Schreiber(26), sowie die von J. D. G. Dunn(27) herausgegebene Dokumentation des dritten Durham ­ Tübingen Symposiums.

Die Habilitationsschrift von Heininger versucht, mit Hilfe eines strukturalistischen Modells visionäre Kommunikation zu deuten. Dabei werden die visionären Materialien der Antike in den Blick genommen, um von solcher breiten Basis her Paulus selbst und das Paulusbild der Apg zu deuten. Der besondere Gewinn der Untersuchung liegt einmal darin, daß Heininger das meist als diffus empfundene Material zu diesem Thema überzeugend ordnen kann (§ 6-7). Zum anderen gelingt es ihm, die Fülle der einschlägigen antiken Texte durch selbständige Interpretation zu deuten (Teil B). Endlich kommt er bei den Untersuchungen zu den neutestamentlichen Texten (Corpus Paulinum, Apg) zu eigenständigen Ergebnissen, die in jedem Fall die Diskussion weiterführen, selbst wenn der Autor der eigenen konstruktiven Kraft hier manchmal zu viel zumutet. Anschaulich bekommt der Leser vorgeführt, wie die geschichtliche Erfahrung des Paulus, die durch den antiken Referenzrahmen ihm vorgegebene Sprache visionärer Kommunikation und der besondere deutende Umgang des Apostels mit seinen visionären Widerfahrnissen engstens ineinander greifen. Plastisch werden auch die Unterschiede zwischen Paulus und dem lukanischen Paulusbild, das mit Recht weitgehend Lukas selbst zugeschrieben wird.

Zur Diskussion mit Heininger seien zwei Punkte herausgegriffen: In § 12 behandelt der Autor auch Vergils Aeneas im Blick auf den Kommunikationstyp der Epiphanien. Ihm entgeht dabei, daß sich die von P. Hoffmann(28) beschriebene doppelte Struktur von österlichen Erscheinungs- (z. B. Lk 24,36-49) und Wiedererkennungserzählungen (z.B. Lk 24,13-31) in den Evangelien auch in der Aeneas mit denselben narrativen Strukturmerkmalen häufig und in bunter Folge wiederfindet. Der andere Punkt betrifft das Paulusverständnis: Soll wirklich 2Kor 12 darauf zulaufen, daß Paulus die Korinther auffordert, innerhalb des visionären Kommunikationsmusters selbst mit dem Sehen und Hören Erfahrungen zu machen (254, 262)? Ich denke: Nein. Paulus will vielmehr die Korinther auf das verkündigte Evangelium verweisen, in dem der gekreuzigte Christus "epiphan" ist. Er will ihnen den Geschmack an der Himmelsstürmerei verderben, damit sie den Sinn für die theologia crucis wiedergewinnen.(29)

Die Dissertation von Schreiber nimmt sich das selten behandelte Thema vor, "das Bild des Wundertäters Paulus und dessen Bedeutung in der Apg und Pauli eigenes Verständnis seiner Wundertätigkeit jeweils zu charakterisieren und Übereinstimmungen und Differenzen kenntlich zu machen" (4). Dabei stehen der zweimaligen nur summarischen Erwähnung von eigenen Wundern bei Paulus (Röm 15,19a; 2Kor 12,12)(30) vier summarische und acht ausgeführte Wunder (Heilungen, Exorzismen, Totenauferweckungen Rettungswunder und Strafwunder) in der Apg gegenüber. Da Schreiber nur in zwei Fällen (Apg 14,8-10; 16,16-18) der lukanischen Tradition eine geschichtliche Wirklichkeit zuerkennt, steht dieses Ergebnis nahe bei Paulus. Lukas wird also zum expressiven Ausgestalter der paulinischen Wundertätigkeit. Zwar gehören sowohl für Paulus wie für Lukas Wunder zur neuen Heilszeit, aber für den Apostel haben sie angesichts seines Verständnisses vom Evangelium nur dezentrale Bedeutung (204, 223, 272), für Lukas prägen sie konstitutiv das Paulusbild (289). Paulus läßt dabei "keine Theologie der Kontinuität der Heilsgeschichte" erkennen, Lukas sehr wohl (268). Paulus verwehrt es, Umfang und Art der Wunder zu erörtern, Lukas ist hier narrativ sehr viel vielfältiger und anschaulicher (270).

Den großen Linien des Ergebnisses wird man zustimmen können. Jedoch wird man fragen, warum Wundertradition und Wunderverständnis in der Antike nur gefiltert durch die Sekundärliteratur und recht generell zur Geltung kommen. Auch läßt sich die narrative Struktur der Wunder in der Apg wohl doch präziser erfassen und speziell mit den Synoptikern vergleichen.(31) Endlich wirkt die Erörterung der Historizität von Wundern doch recht rationalistisch (141 f.).

Die Dokumentation vom Third Durham-Tübingen Research Symposium durch Dunn enthält neben einer Einleitung und Zusammenfassung vom Herausgeber 16 Beiträge zum Thema Paul and the Mosaic Law. Daß dies zur Zeit ein heiß umstrittenes Thema in der neutestamentlichen Forschung ist, hat sich überall herumgesprochen. Dunn ist die Zustimmung sicher, wenn er dieses Faktum zu einer Rahmenbedingung seines Schlußvotums erhebt. Erheblich zurückhaltender wird die Zustimmung zu Dunns Urteil (wohl auch unter den Teilnehmern am Symposium) ausfallen, daß sich in Durham sozusagen die Weltelite zum Thema einfand (X). Solche Selbsteinschätzungen olympischen Kalibers wirken eher peinlich und gehören in das Genre nur subjektiver Werturteile. Weniger nobel ist auch, daß sich unter den Vorträgen einige befinden, die keine Originalbeiträge sind, sondern variierende Wiederholungen schon zugänglicher Veröffentlichungen. Besonders in solchem Fall und überhaupt ist es nach einem Symposium gut, wenn der Diskurs der Teilnehmer zu den Vorträgen dokumentiert wird. Das geschieht jedoch nicht.

Angesichts der hochgradig kontroversen Diskussion spiegelt sich auch in den einzelnen Beiträgen eine große Streubreite der Positionen wieder. Sucht man nach den besonders eindringlichen und die weitere Diskussion wohl stimulierenden Referaten, wird man in jedem Fall auf die den Feinheiten der Texte nachgehenden Exegesen von J. Lambrecht zu Gal 2,11-21 (52-74) und von O. Hofius zu Röm 5,12-21 (165-206) verweisen. Beide Referate führen m. E. zu der Anfrage, ob Dunn in seinem Schlußwort zu folgen ist, wenn er die Antithetik von Kontinuität und Diskontinuität als Koordinaten für die Diskussion zum paulinischen Gesetzesverständnis vorschlägt. Dieser Ansatz vermeidet nämlich den Entscheid, ob man primär von den Inhalten oder von der Funktion her, also quantitativ oder qualitativ, mit der Deutung der Gesetzesaussagen des Apostels beginnen soll, ja er verführt allzu leicht dazu, sofort von den Inhalten her (z. B. das Liebesgebot und seine Kontinuität zur Tora) zu argumentieren. Meines Erachtens sollte nicht zweifelhaft sein, daß diejenigen paulinischen Aussagen die Richtung der Interpretation bestimmen müssen, die angeben, welche Aufgaben das Gesetz zugewiesen bekommt.

Die so gewonnene Perspektive muß dann immer zugegen sein, wenn über die Inhalte des Gesetzes gesprochen wird. Nur so läßt sich nämlich klären, warum Paulus sowohl Teile des Gesetzes in Kontinuität stellt als auch Teile für überholt erklärt. Nun kann auch erörtert werden, was für ihn die Konstitutionsbedingungen von Kontinuität sind, ob etwa für ihn z. B. das Liebesgebot gilt, weil es in der Tora steht, oder ob es innere Verbindlichkeit von Christus her besitzt, so daß sich die Kontinuität aufgrund einer Prüfung im Sinne von Röm 12,1 f.; Phil 4,8 f. einstellt.

Der Reigen der vorgestellten Werke ist ein zufälliger. Als nicht nur zufälliges Ergebnis mag man ansehen, daß Paulus, die große Gestalt des Urchristentums, immer noch so verschiedene und lebendige Facetten enthält, daß Interpreten an ihr Neues entdecken und dabei in den Bann der Theologie des Apostels geraten.

Fussnoten:

(1) Den jüngsten Überblick über die Literatur und den Diskussionsstand bieten: H. Hübner, Art. Paulus I, TRE 26, 1996, 133-153, und D. Flusser, Art. Paulus II, TRE 26, 1996, 153-160. Vgl. außerdem: H. Hübner, Paulusforschung seit 1945, ANRW II 25.4, 1987, 2649-2840; O. Merk, Paulus-Forschung 1936-1985, ThR 53, 1988, 1-81; F. W. Horn, Paulusforschung, in: F. W. Horn [Hrsg.], Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments, BZNW 75, 1995, 30-59.
(2) Detering, Hermann: Der gefälschte Paulus. Das Urchristentum im Zwielicht. Düsseldorf: Patmos 1995. 245 S. 8°. ISBN 3-491-77969-3.
(3) Zürner, Bernhard: Paulus ohne Gott. Eine charakterologische Untersuchung. Bonn: Bouvier 1996. 826 S., 1 Farbtaf. gr.8°. ISBN 3-416-02619-5.
(4) Gnilka, Joachim: Paulus von Tarsus. Apostel und Zeuge. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1996. 332 S. m. 2 Ktn., 8 Farbtaf. gr.8° = Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Suppl. VI. Lw. DM 85,­. ISBN 3-451-26115-4.
(5) Lohse, Eduard: Paulus. Eine Biographie. München: Beck 1996. 334 S. m. 1 Kte. 8°. Lw. DM 58,­. ISBN 3-406-40949-0.
(6) Murphy-O’Connor OP, Jerome: Paul. A Critical Life. Oxford-New York: Oxford University Press 1996. 416 S. gr.8°. £ 35.­. ISBN 0-19-826749-5.
(7) Sanders, E. P.: Paulus. Eine Einführung. Aus dem Engl. von E. Schöller. Stuttgart: Reclam 1995. 179 S. kl.8°. Kart. DM 9,­. ISBN 3-15-009365-1.
(8) Sie ist dem Aufriß einer traditionellen Dogmatik nachempfunden, endet allerdings mit der Ekklesiologie, ohne den Artikel de novissimis zu behandeln.
(9) Von Gal 2,11 kann man auf 2,1 zurückschließen, daß man zusammen als Antiochener zum Konvent zieht. Da Paulus einen Beleg wie die Griechenlandreise nach Gal 1,21 zum Erweis seiner geographischen Distanz und Unabhängigkeit von Jerusalem blendend hätte gebrauchen können, ihn aber nicht einsetzt, wird auch von Gal 1 her bekräftigt, daß die Griechenlandmission späteren Datums ist als Gal 2.
(10) Gnilka hat offenbar P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, Göttingen 1992, nicht herangezogen.
(11) Die "Einführung" von Sanders ist eine ­ nicht immer glückliche ­ Übersetzung des englischen Originals: Paul. Oxford 1991. Die knappe Darstellung entspricht der Position aus: Paul and Palestinian Judaism, London 1977 (deutsch: Paulus und das palästinische Judentum, Göttingen 1985) und aus: Paul, the Law and the Jewish People, Philadelphia 1983.
(12) Die Gerechtigkeit, die Gott zuerkennt, ist für Luther alles andere als ein "fiktiver Status" (so Sanders, 64), weil für ihn Gottes Wort performativen Sinn hat; vgl. W. von Loewenich, Martin Luther, München 1982, 1. Teil, 6. und 7. Kapitel; G. Ebeling, Luther, Tübingen 1990, Kap VII und IX.
(13) Hengel, Martin, and Anna Maria Schwemer: Paul Between Damascus and Antioch. The Unknown Years. London: SCM Press 1997. XIV, 530 S. 8°. Kart. £ 19.95. ISBN 0-334-02661-X. Die Arbeit nimmt M. Hengel, The pre-Christian Paul, Philadelphia 1991; 21996 auf und findet sich in deutscher Kurzfassung unter dem Titel, Die Stellung des Apostels Paulus zum Gesetz in den unbekannten Jahren zwischen Damaskus und Antiochien, in J. D. G. Dunn [Hrsg.], Paul and the Mosaic Law, WUNT 89, Tübingen 1996, 25-51 wieder.
(14) Dauer, Anton: Paulus und die christliche Gemeinde im syrischen Antiochia. Kritische Bestandsaufnahme der modernen Forschung mit einigen weiterführenden Überlegungen. Weinheim: Beltz Athenäum 1996. 299 S. gr.8° = Bonner Biblische Beiträge, 106. Geb. DM 98,­. ISBN 3-89547-106-2.
(15) Breytenbach, Cilliers: Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelgeschichte 13 f.; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefes. Leiden-New York-Köln: Brill 1996. XVI, 215 S. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 38. Lw. hfl 142.­. ISBN 90-04-10693-6.
(16) Wehr, Lothar: Petrus und Paulus ­ Kontrahenten und Partner. Die beiden Apostel im Spiegel des Neuen Testaments, der Apostolischen Väter und früher Zeugnisse ihrer Verehrung. Münster: Aschendorff 1996. VIII, 416 S. gr.8° = Neutestamentliche Abhandlungen, 30. ISBN 3-402-04778-0.
(17) Vgl. näherhin J. Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, SBS155, 1993, 29 ff.
(18) So Hengel, in: Dunn 36.
(19) Hengel, in: Dunn 30.
(20) Hengel, in: Dunn 28-36.
(21) Vgl. Anm. 15.
(22) Allerdings m. E. nicht durchweg in guter Auswahl. So sollten zu Gal 3,26-28 doch wohl nicht fehlen: H. Paulsen, Einheit und Freiheit der Söhne Gottes ­ Gal 3,26-29, ZNW 71, 1980, 74-95, und U. Mell, Neue Schöpfung, BZNW 56, Berlin 1989, 303-318.
(23) Vgl. Anm. 15.
(24) Traditionell ist der Hinweis auf 2Kor 11,25; 2Tim 3,11 zur Erklärung von Apg 14,19 f. der wesentliche Nachweis dafür, daß die Missionsreise nicht ganz frei erfunden ist.
(25) Heininger, Bernhard: Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie. Freiburg-Basel-Barcelona-Rom-New York-Wien: Herder 1996. X, 343 S. gr.8° = Herders biblische Studien, 9. geb. DM 78,­. ISBN 3-451-26127-8.
(26) Schreiber, Stefan: Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen. Berlin-New York: de Gruyter 1996. XII, 329 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 79. Lw. DM 164,­. ISBN 3-11-015021-2.
(27) Dunn, James D. G. [Ed.]: Paul and the Mosaic Law. Tübingen: 1996. XII, 368 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 89. Lw. DM 248,­. ISBN 3-16-146573-3.
(28) P. Hoffmann, Art.Auferstehung II/1, TRE 4, 1979, 478-513, hier: 500f.
(29) Ausführlicher: J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 21992, Abschnitt 8.5.
(30) 1Kor 2,4; 12,9 f. 28-30; Gal 3,5; 1Thess 1,5 werden als Zeugen speziell paulinischer Wundertätigkeit zurückgestellt.
(31) Der Weg, den Breytenbach 20 ff. einschlägt, sollte weiter verfolgt werden.