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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1186–1189

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Arzt-Grabner, Peter, Kritzer, Ruth Elisabeth, Papathomas, Amphilochios, u. Franz Winter

Titel/Untertitel:

1. Korinther. M. zwei Beiträgen v. M. Ernst unter Mitarbeit v. G. Schwab u. A. Bammer.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 576 S. gr.8° = Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament, 2. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-525-51001-8.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Der zweite Band der »Papyrologischen Kommentare zum Neuen Testament« erscheint durchweg als Gemeinschaftsarbeit der im Titel genannten Autoren, deren Beiträge im Einzelnen im Werk jeweils mit Namenskürzeln gekennzeichnet sind. Dahinter stehen bei Kritzer, Papathomas und Winter bislang unveröffentlichte Monographien zur Begrifflichkeit des 1. Korintherbriefes auf dem Hintergrund dokumentarischer Papyri, deren Inhalt offenbar zu großen Teilen in den vorliegenden Kommentar eingegangen ist. Zu Anlage und Zielen des Kommentarwerkes kann hier auf die Rezension des ersten Bandes zum Philemonbrief von J. Chapa, ThLZ 130 [2005], 160–162, verwiesen werden.
War der »Pilotband« zum Philemonbrief dazu geeignet, grundsätzlich den Nutzen der Papyrologie für die Erschließung und Interpretation neutestamentlicher Schriften zu begründen und exemplarisch darzustellen, so bietet sich der 1. Korintherbrief als ideales Beispiel dafür an, nun den Gewinn des gewählten Ansatzes an einem längeren Text im Einzelnen aufzuweisen. Mit seiner Vielzahl von Problemen aus dem Lebensalltag einer jungen frühchristlichen Gemeinde, auf die der Briefschreiber gezielt und Stück für Stück eingeht, ruft er geradezu nach Erhellung und Erläuterung aus den ebenso alltagsnahen Zeugnissen der Papyri. Entsprechend fällt auch die Gewichtung im vorliegenden Kommentar aus. Dessen fortlaufende, versweise gegliederte Auslegung ist für das Briefcorpus nach einer eigenen Übersetzung jeweils in die Rubriken »Abgrenzung und Ausgangssituation« der betreffenden Hauptabschnitte und »Einzelheiten« zu ihnen aus den Papyri aufgeteilt. Die erstgenannte Rubrik wird freilich jeweils auf nur wenigen Seiten abgehandelt, während für die »Einzelheiten« der weitaus meiste Raum des Buches zur Verfügung steht. Hinzu kommen zahlreiche Exkurse von jeweils mehreren Seiten Länge. Am Anfang des Bandes stehen ein Literaturverzeichnis und eine (im Vergleich zum ersten Band diesmal recht knappe) Einleitung zum 1. Korintherbrief, am Ende ein Verzeichnis der zi­tierten papyrologischen Quellen. Der Wunsch des Rezensenten von Ban d1 nach weiteren, die Fülle des dargebotenen Materials erschließenden Registern bleibt leider auch im zweiten Band unerfüllt.
Dass die Übersetzungen jeweils ganze Hauptabschnitte umfassen, erschwert es, den unmittelbaren Ertrag der Belege aus den Papyri für das Verständnis der paulinischen Aussagen im Brief zu erkennen; eine Aufgliederung der Übersetzung – und damit auch des dazugehörigen papyrologischen Materials – auf kürzere Sinnabschnitte wäre hilfreicher. Innerhalb der Hauptabschnitte des Briefes wird freilich im vorliegenden Kommentar gar keine weitere Untergliederung vorgenommen. So wird der »Mittelteil des Briefcorpus« 1Kor 1,10–15,58 »aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Merkmale« (54) in die Hauptabschnitte 1,10–4,21; 5,1–6,20; 7,1–14,40 (mit den Unterabschnitten 7,1–40; 8,1–11,34; 12,1–14,40); 15,1–58 unterteilt, ohne dass solche Merkmale näher benannt oder eine ihnen entsprechende Gliederung begründet würden. Eine Strukturanalyse der Hauptabschnitte entfällt ebenfalls. Die Ab­satzgliederung der Übersetzung richtet sich nach den Kapiteln der traditionellen Zählung des Bibeltextes. Eine Gliederung der brieflichen Argumentation und den Aufbau der paulinischen Gedankengänge kann man so nicht erkennen.
Auch die Ausführungen zu »Abgrenzung und Ausgangssituation« der Hauptabschnitte gehen auf Fragen des Textaufbaus oder eines übergreifenden Gedankengangs gar nicht ein, sondern thematisieren nur einzelne Aspekte der Textpragmatik und belegen sie mit Beispielen aus den papyrologischen Quellen. So behandelt etwa der betreffende Abschnitt zu 1Kor 1,10–4,21 zunächst lediglich ad vocem παρακαλῶ in 1,10 die Benennung eines Briefanliegens in der Einleitung und anschließend die Frage, ob mit ἐδηλώθη γάρ μοι in 1,11 eine briefliche Nachricht aus der Gemeinde an Paulus bezeichnet wird (58–64). Dann folgen auf weit über 100 nicht weiter untergliederten Seiten »Einzelheiten zu 1Kor 1,10–4,21« (64–194).
Solche »Einzelheiten« sind im Wesentlichen sprachlicher Art. Nach griechischen Lemmata des Paulustextes geordnet, werden konventionelle Wendungen der Anrede, des Danks, der Bitte, der Aufforderung, der Mitteilung, des Grußes, des Segenswunsches, des Weiteren juristische, ökonomische oder verwaltungstechnische Fachtermini, aber auch Namen oder Realien in großer Anzahl und Breite aus den Papyri belegt. Erläuterung aus den Papyri finden ebenso den Sinn bestimmende Stichwörter oder Ausdrücke der paulinischen Argumentation wie aktuelle Verhältnisse oder kulturgeschichtliche Gegebenheiten aus dem Alltag der Briefadressaten, auf die Paulus eingeht. Ebenso wichtig wie solche »Parallelen« aus den Papyri sind häufig ausdrücklich notierte negative Befunde. Bezeichnenderweise betreffen sie oft für die paulinische Argumentation zentrale Begriffe oder Motive (vgl. z. B. allein anhand von 1Kor 1,17 f. zu εὐαγγελίζεσθαι/εὐαγγέλιον 79.189, zu σοφία 79.86 f., zu σταυρός 79 f., zu δύναμις 84 f., oder in 1,21 zu πίστις/ πιστεύοντες 93 f.119). Umso bedauerlicher ist das Fehlen eines griechischen Wortregisters!
Auf die griechisch dargebotenen Lemmata aus dem 1. Korintherbrief (in der Regel Einzelwörter oder Wortgruppen) folgen knappe Bemerkungen zum paulinischen Kontext und zur Übersetzung, dann der papyrologische Befund und abschließend summarische Bemerkungen zu seiner Auswertung für das Verständnis der paulinischen Aussagen. Querverweise innerhalb der Lemmata nennen Stellen, an denen mehr oder anderes Material zum griechischen Ausdruck zu finden ist (gelegentlich können sie auch einmal ins Leere führen wie bei 2,4 zu πνεῡμα, vgl. 128–130.133.156). Längere Zitate werden zweisprachig geboten, jeweils mit eigener Übersetzung der Autoren, einzelne Befunde summarisch oder durch Angabe der Fundstellen erfasst. Dazu kommen Nachweise der Fundorte, Angaben zu Datierung und Textkonstitution sowie oft auch Hinweise zum Kontext der Textausschnitte in den betreffenden Papyri.
Reiche Erkenntnisgewinne aus dem vorliegenden Kommentar für die Paulus-Exegese lassen sich demnach vor allem hinsichtlich der Semantik der im 1. Korintherbrief verwendeten Ausdrücke verzeichnen, gelegentlich auch bei konventionellen Wendungen hinsichtlich der Textpragmatik oder bei syntaktischen Konstruktionen hinsichtlich der Textgrammatik. Das methodische Problem einer solchen ganz auf die sprachlichen Einzelheiten konzentrierten Kommentierung eines antiken Textes ist freilich ebenso offenkundig: Man meint einen Text besser verstanden zu haben, wenn man die sprachlichen Elemente, aus denen er zusammengesetzt ist, mit Hilfe von Wortbelegen aus etwa derselben Zeit entschlüsselt hat. Dass die neuere Sprachwissenschaft und mit ihr auch die klassische Philologie längst (spätestens mit der »textpragmatischen Wende« in den 70er Jahren des vorigen Jh.s) über solche »rein philologischen« Ansätze hinausgegangen sind, dürfte auch den Autoren des vorliegenden Werkes vertraut sein, und sie bemühen sich durchaus, auf den Kontext der paulinischen Briefaussagen hinzuweisen. Gleichwohl verzichten sie auf eine eigene durchgehende Interpretation der paulinischen Textzusammenhänge, so dass ihr Werk doch eher den Charakter einer Materialsammlung behält.
Darüber hinaus zeigt sich gerade beim Vergleich mit der Sprache der dokumentarischen Papyri oft Satz für Satz die spezifische Prägung und Füllung der paulinischen Sprache durch die Glaubensüberlieferungen Israels, wie sie im Alten Testament wurzeln und in den Zeugnissen des hellenistisch-römischen Judentums Paulus gegenwärtig waren (und dank der christlichen Überlieferung dieser Zeugnisse auch noch uns heute gegenwärtig sind). Davon ist natürlich in den Papyri so gut wie nichts zu finden. Paulus zu verstehen und seine Briefe zu interpretieren, erfordert also mindestens ebenso, ja, wohl noch weitaus stärker ein vertieftes Eingehen auf die zeitgenössischen jüdischen und frühchristlichen Quellen (und natürlich auch auf die zahlreichen weiteren, insbesondere literarischen Quellengruppen aus hellenistisch-römischer Zeit) als allein die Heranziehung von vorwiegend philologischem Vergleichsmaterial aus den Papyri. Damit sind die Grenzen der »Papyrologischen Kommentare zum Neuen Testament« klar be­nannt, innerhalb derer sie ihre Stärken umso eindrucksvoller nachweisen können. In diesem Sinne kann der vorliegende Kommentar, wie die Autoren selbst klarstellen, »keine Alternative zu bibelwissenschaftlichen Kommentaren im traditionellen Sinn darstellen, sondern eine wichtige Ergänzung« (27, vgl. Bd. 1, 43 f.).
Wer sollte (und wird?) die Papyrologischen Kommentare in erster Linie benutzen? Sicherlich die Fachexegeten, denen hier erheblich mehr an Belegen und philologischen Informationen geboten wird als in den bisher vorliegenden papyrologischen Wörterbüchern und Sammelwerken. Sie werden dankbar auf die dargebotenen Zeugnisse aus den Papyri und die mit ihnen verbundenen papyrologischen Informationen zurückgreifen, um sie für ihre eigenen Textauslegungen zu berücksichtigen. Sie werden freilich ebenso klar erkennen, dass mit dem hier dargebotenen Material nicht mehr als ein (relativ eng begrenzter) Teilbereich antiker Kultur für die Paulusexegese erschlossen wird, dessen Bedeutung erst im Zusammenhang mit den übrigen biblischen, frühjüdischen, hellenistisch-römischen und frühchristlichen Quellen sachgemäß gewürdigt werden kann.
Papyrologen werden weniger mit dem Kommentarwerk anzufangen wissen; ihnen muss ein neutestamentlicher Text als Auswahl- und Anordnungskriterium für papyrologische Belege will­kür­lich erscheinen. Ob Fachkollegen oder Studenten aus angrenzenden altertumswissenschaftlichen Disziplinen der Exegese da­rauf zurückgreifen, hängt davon ab, wie viel Zeit sie sich überhaupt für die Beschäftigung mit neutestamentlichen Texten nehmen. Profitieren würden sie von dem Werk allemal, da es auch den paulinischen Kontext der Lemmata knapp und in der Regel sachgemäß angibt. Kollegen aus anderen theologischen Disziplinen und Studierende der Theologie sollten wenigstens gelegentlich einmal einen Blick in die Kommentare werfen, z. B. anlässlich der vertieften Beschäftigung mit einem Paulus-Text. Dasselbe gilt für Pfarrer oder Religionslehrer. Sie alle werden dadurch in die dem gewöhnlichen Bibelleser in der Regel fremde, bunte und durchaus spannende Welt der hellenistisch-römischen Antike, meist in Ägypten/ Alexandria, geführt. In einer ähnlichen Welt sind auch die Paulus-Briefe von ihren Empfängern zum ersten Mal gelesen worden. Sich in die Perspektive der ersten Empfänger der Paulus-Briefe zu versetzen, ersetzt zwar nicht die Aufgabe, Paulus heute zu verstehen und auszulegen, kann für sie aber Anregungen und Wegweisungen ebenso wie Grenzmarkierungen vermitteln.
Den Autoren des vorliegenden Kommentars zum 1. Korintherbrief und dem ganzen Team des Kommentarwerks unter seinem spritus rector Peter Arzt-Grabner in Salzburg (vgl. dazu www.uni-salzburg.at/bwkg/pknt) ist jetzt schon für die geleistete Arbeit sehr zu danken und für die weiteren geplanten Bände alle erforderliche Unterstützung zu wünschen. Für 2008 angekündigt ist Band 3 zum 2. Korintherbrief.