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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1169–1180

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Jure Zovko

Titel/Untertitel:

Die Bibelinterpretation bei Flacius (1520–1575)

und ihre Bedeutung für die moderne Hermeneutik


Der kroatische Gnesiolutheraner Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) gilt nach der Einschätzung der bedeutendsten Vertreter der hermeneutischen Philosophie, Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer, als Stifter und Begründer der modernen Interpretationstheorie. Seine einflussreiche Schrift Clavis Scripturae Sacrae (1567) hat nach Diltheys Würdigung »auf lange hinaus die hermeneu­tische Wissenschaft bestimmt«.1 Das binnen 150 Jahren in acht Auflagen erschienene Werk hat eine fruchtbare Rezeption innerhalb der hermeneutischen Tradition erfahren und sich den Ehrentitel »der Goldene Schlüssel« zugeeignet. In seinem konzisen Aufsatz »Die Entstehung der Hermeneutik« (1900) behauptet Dilthey, dass man die endgültige »Konstituierung der Hermeneutik« der biblischen Interpretation verdankt: »Die erste bedeutende und vielleicht die tiefgründigste dieser Schriften war die clavis des Flacius (1567)«. 2 Ähnlich wie Dilthey betrachtet der Nestor der phi­losophischen Hermeneutik, H.-G. Gadamer, Flacius als »ersten Be­gründer der protestantischen Hermeneutik«, in der sich erstmals die »hermeneutische Selbstbesinnung« verwirklicht hat.3 Nach Gadamers Beurteilung begegnen wir bei Flacius dem zentralen Motiv aller Hermeneutik, nämlich der »Überwindung der Fremdheit« und der »Aneignung des Fremden«.4 Es handelt sich dabei um das Interpretandum des biblischen Textes, das in erster Linie das Verständnis der geschriebenen Sprache mit ihren eigentümlichen Ausdrucks- und Stilformen bzw. die Erschließung des inneren Sinnzusammenhangs erheischt und zweitens ein Erfassen der ge­samten Weltanschauung und des geschichtlichen Kontextes, in dem der Text verfasst wurde, impliziert.

Da die Hermeneutik in den letzten vier Dezennien nach der Ansicht von Gianni Vattimo zu einer Art Koine der philosophischen Bemühungen auf internationaler Ebene, oder sogar einer Koine der gegenwärtigen Kultur, geworden ist, ist es erforderlich, die Grundgedanken der Hermeneutik des Flacius sub ratione veri­tatis zu ergründen5 und dabei nachzuweisen, dass vom Standpunkt der gegenwärtigen Forschung und der hermeneutischen Diskussion her die Interpretationstheorie von Matthias Flacius Illyricus in ihrem Wahrheitsgehalt immerhin aussagekräftig und hinsichtlich der Frage nach der zuverlässigen Textinterpretation Flacius weiterhin belangvoll bleibt. Seitdem in der philosophischen Hermeneutik nach der sog. »ontologischen Wendung« auf Grund des Universalitätsanspruchs vom Verstehen die Thematisierung der traditionellen hermeneutischen Differenz zwischen dem Missverstehen und dem zureichenden Verstehen eines Textes völlig ausgeklammert und ipso facto ein Pluralismus der Interpretationen als äquivalent anerkannt wird, wird auch die Forderung nach der normativen Disziplinierung der Interpretationstheorie in den Geisteswissenschaften immer wieder zum Ausdruck gebracht, damit man Texte gegen beliebige Interpretationen absichern und dem Verstehen zugänglich machen kann. Dies impliziert freilich eine Redefinition der Interpretationstheorie in dem Sinne, wie sie bereits Flacius konzipiert hat.

Mit Flacius fängt nach Diltheys Urteil eine neue Form des »hi­s­torisch-kritischen Denkens« an, das in der Theorie vom Verstehen und Auslegen der biblischen Texte seine primäre Anwendung gefunden hat. Im Unterschied zu den Vertretern der römisch-katholischen Exegese, die vornehmlich wegen der Ambiguität des biblischen Textes die »Unverständlichkeit« und hermeneutische »Unzulänglichkeit« der Schrift hervorgehoben und in den Vordergrund gestellt haben, bemühte sich Flacius aufzuzeigen, dass das Verständnis der Schrift in erster Linie von der erfolgreichen, korrekten Anwendung der allgemeingültigen Regeln abhängig ist. Die in der römisch-katholischen Auslegungspraxis besonders zu­gespitzte Relevanz der Autorität der Tradition wird bei Flacius nicht mehr als das unhinterfragbare Dogma betrachtet, sondern lediglich als ein geschichtlicher Beitrag angesehen, der in den Be­mühungen um das Schriftverständnis zu Rate gezogen werden muss.

Flacius beharrt auf der Meinung, dass man dem Leser der Schrift nicht durch die dogmatische Haltung des kirchlichen Lehramts behilflich sein kann, sondern ihm durch zuverlässige Kommentare und Auslegungen der einzelnen biblischen Bücher die Lektüre erleichtern muss, damit der Leser selbst auf Grund der allgemein geltenden Regelaufstellung zum plausiblen und glaubhaften Verständnis des Textes gelangt. Erst dank der eigenen verstehenden Einsicht kann der Leser die Aussagekraft, Fülle und Erhabenheit des göttlichen Wortes erkennen und, was am wichtigsten ist, dessen enorme Bedeutung für den Sinn des menschlichen Lebens anerkennen. Flacius ist sich durchaus der Schwierigkeiten bewusst, mit denen der Leser des biblischen Textes konfrontiert wird, um diesen verstehen zu können. Seine grundlegende Absicht ist jedoch, dem Leser zu helfen, Unklarheiten und Schwierigkeiten, die bei der Lektüre und der Auslegung des Textes auftauchen können, erfolgreich zu beheben. Wird die Schrift nicht richtig verstanden, so sei der Grund ihrer Unverständlichkeit mitnichten in ihrer hermeneutischen Insuffizienz zu suchen, sondern hauptsächlich in den mangelnden Kompetenzen der Interpreten. In diesem Sinne behauptet Lutz Geldsetzer mit Recht, dass es das Spezifikum der theologischen Fakultäten in der Epoche der Reformation war, dass sie zu philo­ logischen geworden sind und sich dadurch vom Dogmatismus emanzipiert haben. Flacius hat im Anschluss an Luthers Losung sola scriptura6 »die Bibel zur alleinigen Textgrundlage der ganzen Dogmatik« erklärt und dadurch »der Bibelexegese die maßgebliche Stellung innerhalb der ganzen theologischen Wissenschaft« eingeräumt.7 Die Voraussetzungen dafür sind aber, wie es Flacius im dritten »remedium« formuliert hat, gründliche Kenntnis der Sprache der biblischen Texte (»solida cognitio sermonis Sacrarum literarum«) bzw. »gute und klare Übersetzungen und treue Interpreten der Schrift«.8 Ich stimme Gadamers Behauptung uneingeschränkt zu, dass die Clavis des Flacius zwar im Dienste seiner theo­logischen Absichten steht, dass die primäre Intention der Schrift im allgemeinen Sinne des Wortes jedoch eine philologisch-humanis­tische ist. Flacius bemüht sich nachzuweisen, dass die Heilige Schrift wie jeder andere Text durchaus verstanden werden kann. »Insofern verteidigt er«, so Gadamer, »als der große Hebraist und Philologe ... Luthers Losung sacra scriptura sui ipsius interpres gegen die tridentinische Polemik, die die Unentbehrlichkeit der Lehrtradition der Kirche behauptete.«9 Der Geltungscharakter der Tradition wird nicht mehr vom dogmatischen Standpunkt her, sondern hinsichtlich ihrer kriteriologischen Funktionalität ausgewertet.

Es besteht unter Hermeneutikexperten heutzutage die communis opinio, dass man Flacius zwei Auslegungsmaximen verdankt, die für die spätere Hermeneutik ausschlaggebend waren: erstens die Frage nach dem Scopus, der leitenden Aussageabsicht, die klären soll, worauf es in der Auslegung eines Textes ankommt; zweitens die Frage nach dem Wechselverhältnis von Teil und Ganzem, das man später als hermeneutischen Zirkel bezeichnet hat. In der hermeneutischen Praxis sind beide Begriffe durchaus interdependent und aufeinander angewiesen. Dem Terminus »skopos« begegnen wir schon bei Platon (vgl. Gorgias 507d; Staat 519c; Theaitetos 194a) und bei Aristoteles (vor allem in den Schriften zur praktischen Philosophie) in seiner ursprünglichen Bedeutung als Ziel und Zweck, wonach das menschliche Handeln strebt. Erst bei späteren Kommentatoren erhält der Begriff Scopus eine hermeneutische Dimension, weil er in der Regel die Intention des Autors bzw. der Schrift bezeichnet hat. Aber diese neue, derivierte Bedeutung von Scopus verweist gleichwohl auf ihre ursprüngliche Signifikanz. Flacius hat vermutlich den Terminus Scopus von Melanchthon entlehnt und ihm eine hermeneutische Bedeutung zugeschrieben. Melanchthon behauptet in seiner Schrift Rhetorices elementa, dass die griechischen Kommentatoren (Porphyrios, Simplicius) in erster Linie die Intention bzw. den Scopus des Werkes suchten: »Graeci in omnium librorum initiis quaerunt, quae sit operis intentio, seu quis sit scopus, ut ipsi loquuntur«.10

In den »Anweisungen« (praecepta), wie man mit einer Schrift bei ihrer Interpretation umgehen soll, wird im ersten Traktat des zweiten Teils der Clavis auf die besondere Relevanz von Scopus aufmerksam gemacht: »Wenn du an die Lektüre eines Buches herangehst, so richte es gleich am Anfang, soweit es geschehen kann, ein, daß du zuerst den Gesichtspunkt, den Zweck oder die Absicht dieser ganzen Schrift, was wie das Haupt oder das Gesicht derselben ist, unverwandt und gehörig im Auge behältst« (ut primum scopum, finem, aut intentionem totius ejus scripti, quod veluti caput aut facies ejus est, protinus vereque notum habeas).11 Es ist beachtenswert, dass Flacius als sorgfältiger Leser auf verschiedene modi scoporum in einem Text verweist, die der Interpret beachten soll. Es gibt erstens den Scopus der ganzen Schrift, den sog. scopus principalis, dessen Verständnis die primäre Intention jeder Auslegung bleibt. Um ihn zu erschließen, muss man schon vorher den Scopus der einzelnen Teileinheiten erfasst bzw. nötigenfalls ihren gegenseitigen Zusam­menhang erörtert haben. Die vorzügliche Funktion des Scopus wird mit dem Theseusfaden verglichen, der dem Interpreten hilft, sich im Labyrinth des undurchschaubaren Textes zurechtzufinden.

Flacius verwendet zudem noch eine andere, aus der rhetorischen Tradition herkommende Metapher, caput ac membra, um plausibel zu machen, wie die Textgliederung eines Werkes bei der Interpretation zu beachten ist: »Und du mußt sehr aufmerksam beobachten, wo sozusagen das Haupt, die Brust, die Hände, die Füße usw. sind. Dabei magst du genau erwägen, wie jener Körper beschaffen ist, wie er alle diese Glieder umfaßt und in welcher Weise so viele Glieder oder Teile diesen einen Körper ge­meinsam erstellen, welches die Übereinstimmung, Harmonie oder das Verhältnis der einzelnen Glieder untereinander oder auch zu dem ganzen Körper und besonders zu dem Haupte sei.« 12 Um den intendierten Scopus der Schrift in der Auslegung zu erfassen, ist es unerlässlich, die Komposition und die Gliederung des Textes genau zu eruieren. Damit gelangt man zum zweiten Punkt der Flacianischen Hermeneutik: zu dem Wechselverhältnis von Teil und Ganzem, i.e. dem hermeneutischen Zirkel. Flacius sieht in diesem Verhältnis eine Komplementarität der induktiv-synthetischen und der de­duk­tiv-analytischen Methode. Im synthetischen Verfahren der Lektüre versucht man, die einzelnen Glieder (membra) des Textes in eine sinnvolle Einheit, respektive eine innere Ordnung (dispositio), einzugliedern und dabei im heuristischen Prozess zu prüfen, wie die einzelnen Textteile »untereinander zusammenhängen« bzw. eine Kohärenz bilden (quomodo singulae partes se invicem co­haereant).13

Die im Verstehensprozess vorübergehend erfasste innere Kon­sis­tenz des Textes führt zur umfassenden kohärenten Konsistenz der Interpretationsbestandteile und erweist sich mithin als sachgerechtes Kriterium zur Entschlüsselung des Textssinnes. Im Laufe der Textexplanation wird plausibel, dass die Bedeutung der einzelnen Stellen aus der Struktur und Komposition des ganzen Werkes ermittelt wird. Diese allmähliche induktiv-synthetische Sinnermittlung des Textes setzt wiederum die Anwendung der deduktiv-analytischen Methode und somit die Erfassung des Hauptgesichtspunkts ( principalis scopus) des Textes voraus. Der zirkelhafte Charakter des Verstehens kommt dadurch zur Sprache, dass die in der eruierenden Textexplikation konstituierte Stimmigkeit (convenientia), i. e. Kongruenz einzelner Textteile untereinander, den Hauptscopus des Textes »bestätigt und unterstützt«14 und dass der Hauptgesichtpunkt wiederum großes und wunderbares Licht (magnum lumen; mirabilis lux) auf die einzelnen Textteile und -passagen wirft, damit der Sinn der Propositionen und Sätze bzw. die Bedeutung der Wörter klarer erfasst werden kann. Die hermeneutische Textanalyse, in der die Textteile und ihre Unterteilungen (subdivisiones) in ihrem gegenseitigen Verhältnis untersucht und sinngemäß hinsichtlich ihrer Kohärenz, die sich aus dem Kontext ergibt, überprüft werden, wird, so Flacius, nach dem Paradigma der Platonischen dihairetischen Methode vollzogen.

Platon geht in seiner synoptisch-dihairetischen Spätdialektik, wie sie vor allem in den Dialogen Sophistes, Politicos, Phaidros dargestellt und praktiziert wird, von der Voraussetzung aus, dass die ontologischen Strukturen der Realität einem eidetischen Holismus korrespondieren. Die Aufgabe des Dialektikers ist es, genau zu prüfen, inwiefern eine sinnvolle bzw. wahre Verknüpfung der Begriffe in einem Urteil möglich ist. Das dialektische Verfahren impliziert einerseits die induktiv »synoptische« Tätigkeit, in der das Mannigfaltige jeweils unter einen Begriff subsumiert und dieser Begriff wiederum in ein umfassenderes sinnvolles Gefüge eingegliedert wird, und andererseits stellt es einen Prozess des richtigen Einteilens der allgemeinen Begriffe in ihre Unterarten dar, bis man im Zergliederungsverfahren endlich zum Nicht-weiter-Teilbaren ge­langt. Julius Stenzel meint, dass in Platons Spätdialogen, namentlich im Philebos, die Sprache selbst zum Gegenstand der Dihairesis genommen wird, damit man den wahren Logos vom falschen unterscheiden kann.15 Platon behauptet ferner, dass jede Rede (logos) bzw. jede Schrift als eine organische Ganzheit (hosper zoon; Phdr 264c) verfasst werden soll, damit sie als solche besser über­blickt und verstanden werden kann. Der Autor soll immer die gegenseitige Stimmigkeit hinsichtlich des dialektischen Kontextes überprüfen und vor Augen haben.

Flacius wendet das Platonische synoptisch-dihairetische Verfahren, »das eine in den vielen, und das viele in einem sehen und untersuchen zu können«16, auf die Textanalyse bzw. -zergliederung (recta distributio textus) an. Der Interpret soll analog dem Platonischen Dialektiker vorgehen und den Text im Hinblick auf seinen kontextuellen Sinnzusammenhang zergliedern. Die Anweisungen des Verfassers vom zweiten Pastoralbrief an Timotheus (2,15), er solle »das Wort der Wahrheit richtig unterscheiden« (or­tho­tomein), deutet Flacius hermeneutisch um als Aufforderung zur richtigen Schriftzergliederung (sacras literas recte secare)17, d. h. den Text auf seinen immanenten Sinn hin auszulegen, indem man die Komposition der ganzen Schrift (ordo scripti totius) berücksichtigt. In der Einleitung der Glossa zum Neuen Testament setzt sich Flacius dafür ein, dass die allgemeine Norm der Schriftauslegung mit der vernünftigen Dialektik kongruieren soll, die mitnichten als eine formalistische Denkart aufzufassen ist, sondern als Kunst der methodischen Subsumtion fungiert, in welcher einzelne Elemente, empirische Daten und Propositionen zu einer kohärenten und sinnvollen Einheit integriert bzw. die konsistenten Auslegungshypothesen in einem interpretativen Verfahren in einen kontextualen Kohärenzrahmen eingegliedert werden, bis der Sinn des ganzen Textes erfasst wird. Diese interpretative sinngemäße Texteinteilung bezieht sich gleicherweise auf die Sprach- und Sachanalyse und impliziert eine profunde Kenntnis des sog. Triviums, der Logik (bzw. der Dialektik), Grammatik und Rhetorik. 18 Flacius ist durchaus davon überzeugt, dass man die Methodik der Dialektik erfolgreich auf die Erfassung der Struktur und der Komposition der ganzen Schrift (ordo scripti totius) anwenden kann. Diese in der Glossa besonders herausgestellte, vernünftig begründete Normativität wurde in der bisherigen Flaciusforschung überhaupt nicht berücksichtigt.19 Es handelt sich freilich um eine »interpretatio quaerens intellectum«: Die Norm der Schriftauslegung solle vermittels der argumentativen vernünftigen Dialektik ausgetragen werden. Unter Dialektik wird dabei, wie in der Schrift Paralipo­mena Dialectices erörtert wird, eine integrative Denkart verstanden, die als Kunst der Vereinheitlichung (ars ordine) fungiert, in der einzelne Elemente, Textteile, empirische Daten und Propositionen zu einer kohärenten und sinnvollen Einheit integriert und kontextuell überprüft werden. Ich zitiere aus den Paralipomena: »Diese Wissenschaft zeigt den Anfang, die Mitte und das Ende sowie den ganzen Kontext. Wie es nötig ist, die einzelnen Sachen und Teile von einem Stoff durch ein Instrumentarium wie Definition, Division und Argumentation zu erklären, so ist es notwendig, damit man das ganze Material lehren und durchblicken kann, sich einer Me­thode zu bedienen, mittels derer sich Einzelteile zur integralen Form ihres Körpers beziehen und jedes auf seine Stelle ge­bracht wird.«20

Diese dialektische Kunst der holistischen Vereinheitlichung wird mit der Malerei (ars pictoria) verglichen. Wenn nämlich ein Künstler den menschlichen Körper malen möchte, so muss er mit der genuinen Methode der vernünftigen Vereinheitlichung (ratio & ordo) vertraut sein – damit nämlich, wie die einzelnen Glieder und Teile proportional zueinander stehen (quae sit partium singularum seu membrorum inter se legitima proportio) – und darauf achten, diese Proportion ins Werk zu setzen.21 Der Interpret verfährt analog, indem er im heuristischen Prozess eruiert, wie die einzelnen Textteile »untereinander zusammenhängen« (quomodo singulae partes se invicem cohae­reant)22 und die Erschließung des Sinnzusammenhanges des zu verstehenden Textes ermöglichen. Die innere Konsistenz, die zur Kohärenz der Interpretationsbestandteile führt, erweist sich dem Interpreten als zuverlässiges Kriterium zur Ermittlung des Textsinns.

In der Vorrede zur Clavis berichtet Flacius, wie er sich bemüht hat, etliche Missverständnisse im biblischen Text zu entdecken und zu beseitigen und einzelnen Wörtern oder sogar ganzen Sätzen und Passagen ihren ursprünglichen Sinn zurückzugeben, der sich aus dem Kontext ergibt.23 Eine nach den methodologischen Regeln gründlich durchgeführte Textanalyse, in der die Textteile und ihre Unterteilungen (subdivisiones) in ihrem gegenseitigen Verhältnis und im Verhältnis zu ihrem Gesamt, d. h. hinsichtlich ihrer Kohärenz, untersucht und überprüft werden, ist der sicherste Garant, dass der zu ermittelnde Sinn dem Interpreten vertrauter und durchsichtiger (familiarius ac dilucidius) wird.24 Im Grunde ge­nom­men lässt sich für den Interpreten von Flacius behaupten, dass er sich bei der hypothetischen Erschließung des vorausgesetzten Sinnes eines Textes konsequent der platonischen synoptisch-dihairetischen Methode bedient, in welcher das Vorwissen als wahre doxa durch die dialektische Bestimmung des logos zu einem Wissen (epis­teme) wird und sich als solches ausweisen kann.

Aus dem Dargelegten wird plausibel, dass man im Auslegungsverfahren, i. e. bei der Rekonstruktion der Intention eines Werkes, mit dem traditionellen Adäquanz-Schema der Wahrheit bzw. der neuen Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht zurechtkommen kann, sondern bei der Interpretation unabdingbar das sog. »Kohärenzkriterium« anzuwenden ist. Dies könnte man »den logisch-stimmigen Zusammenhang einer Auslegung mit allen für den Text relevanten und aussagefähigen Theorien und Hypothesen« nennen. 25 Im »zetetischen« Prozess von Auslegen und Verstehen der Texte sollte man das »Forschungsinstrumentarium« der allgemeinen Wissenschaftstheorie verwenden, d. h. Auslegungshypothesen sollten hinsichtlich ihrer Konsistenz, »Verifikation bzw. Falsifikation an den Fakten des Textes« sorgfältig überprüft werden.26 Ähnliche Ansichten vertreten auch Eric Donald Hirsch, Wolfgang Wieland und Hans Ineichen in ihren Ausführungen zur Interpretationstheorie, indem sie, ähnlich wie Flacius, Verständnis- und Auslegungsvorschläge von Texten als »Hypothesenbildung« auffassen, die hinsichtlich ihrer Plausibilität behutsam zu prüfen sind. Die Aufgabe der Textauslegung besteht darin, »die wahrscheinlichste Auslegungshypothese zu ermitteln«, mit dem Text selbst in Einklang zu bringen und ihre Plausibilität innerhalb eines zirkelhaften Verfahrens der Komplementarität von Verständnis der einzelnen Textelemente und des ganzen Textes zu prüfen. Dabei erweist sich der vom Verfasser gemeinte Sinn eines Textes als »Norm der Auslegung«, als »ein Ideal ... dem sich Auslegungen mehr oder weniger annähern«. 27 Die interpretationstheoretische Anstrengung um das richtige Verstehen und Auslegen der Heiligen Schrift war ipso facto eine Bemühung der reformatorischen Gelehrten um die Selbstbehauptung der Rechtgläubigkeit der neuentstandenen Kirche.

Nachdem das Prinzip der Tradition infrage ge­stellt wurde, hat sich allmählich auf Grund der in der Clavis vorge­legten Rahmenregel durch die Applikation des sog. »goldenen Schlüssels« nicht nur das protestantische Schriftprinzip in seiner Autonomie etabliert, sondern es wurde zudem eine neue Glau­- benslehre entwickelt. In diesem Kontext sollte man auch die hermeneutisch umstrittene Grundforderung des Flacius betrachten, derzufolge alle Auslegung und Verstehensbemühung der Schrift »nach der Analogie des Glaubens« (analogia fidei) stattfinden soll. Dies impliziert eine Auslegungspraxis, die einerseits in Übereinstimmung (congruentia, consonantia) mit der evangelischen Lehre, wie sie im Dekalog, dem Evangelium und den ältesten Glaubensartikeln enthalten ist, und andererseits im Einklang mit der Katechese der Lutheraner steht. Diese Lehre soll besonders beachtet werden, weil sie »wie eine Art Norm eines gesunden Glaubens ist.«28 Dieses hermeneutische Anliegen des Flacius wird in der Sekundärliteratur häufig als hermeneutische Inkonsequenz seiner Interpretationstheorie bewertet. Wenn man jedoch diese interpretative Aufforderung im Kontext seiner ernsthaften philologischen und interpretations-theoretischen Bemühungen versteht und deutet, dürfte man dennoch mit Gadamer behaupten, dass die Flacianische Hermeneutik frei von allen dogmatischen Vorannahmen ist, »die sich am Text des Neuen Testaments nicht ausweisen lassen«. 29 Der Begriff des »Glaubens« in der um­strit­tenen Formulierung Omnis intellectus ac expositio Scripturae sit analoga fidei im­pliziert mitnichten eine interpretatio ex officio, sondern eher eine hermeneutische Form des »Vorverständnisses«, das erst im Laufe des Vollzugs des hermeneutischen Zirkels die Form einsichtsvollen Verstehens erreicht. Dagegen bleibt der von Flacius er­hobene Einwand gegen die Interpretationsverfahren der rö­misch-katholischen Exegeten ohne Belang. Ihnen wirft Flacius vor, sich an die grundlegenden hermeneutischen Regeln bei der Schriftauslegung nicht ge­halten zu haben, sondern die Textteile ohne Bezug auf den Scopus und den Kontext der Schrift willkürlich gedeutet zu haben, ähnlich den spielenden Mädchen, die nach ihrem Gefallen Blumen auf der Wiese pflücken und daraus Kränze flechten. 30 Dies impliziert keineswegs, dass sich Flacius für eine »singularisierende Hermeneutik« im Sinne einer monolithischen Doktrin einsetzt, sondern dass er vielmehr eine verantwortliche Textauslegung vertritt, die als verbindlich gelten kann. Odo Marquard sieht im Streit der protestan­tischen Hermeneutik, die sich für das Schriftprinzip einsetzt, und der katholischen Hermeneutik, die an dem Traditionsprinzip festhält, einen Konflikt zweier singularisierender Hermeneutiken, »denn beide wollten die heilsbedeutende richtige Auslegung des absoluten Textes: der Heiligen Schrift«.31 Flacius wendet sich entschieden gegen den beliebigen, unverantwortlichen Um­gang mit dem Text und plädiert für die Erschließung des einfachen und eigentlichen Sinnes der Schrift (simplicem ac genuinem Sacrarum literarum sensum), wie er durch den Kontext festgelegt ist.32 Deshalb ist Flacius folgerichtig gegen die Annahme einer Pluralität von Sinndeutungen des Textes, wenn sich diese nicht aus dem inneren Sinnzusammenhang selbst er­gibt.

Bei der Thematisierung der Flacianischen Hermeneutik darf man nicht aus den Augen verlieren, dass die hermeneutischen Be­mü­hungen um das richtige Schriftverständnis nicht allein um des Erkennens willen unternommen werden, sondern ihr primärer Endzweck darin besteht, dass die menschliche Lebenspraxis durch die Botschaft des Evangeliums bereichert wird. Dementsprechend schreibt Flacius im ersten Traktat der Clavis: »wie Aristoteles von der Ethik behauptet, ihr Ziel sei nicht Erkenntnis, sondern Praxis, so [muß] auch das Ziel dieser Lehre noch hundertmal mehr die Praxis sein. Denn viel weniger noch als die Moralphilosophie kann diese Lehre allein in der Theorie bestehen ohne Praxis«.33 Flacius ist offensichtlich der Ansicht, dass die die menschliche Existenz durchdringenden Fragen mitnichten im theoretischen Denken und Auslegen, sondern lediglich durch die Applikation der in der Schrift verkündeten Lehre auf die menschliche Lebenspraxis gelöst werden können. Insoweit deckt sich sein hermeneutisches Konzept mit der Abneigung, die die Vertreter der hermeneutischen Philosophie gegen die theoretisch-abstrakte Reflexion zeigen, die in der Form des verdinglichenden Essentialismus vollzogen wird.

Dilthey hat in seiner Abhandlung Die Entstehung der Hermeneutik den »gesetzmäßigen Gang« der Hermeneutikgeschichte dargestellt und dabei gezeigt, wie aus der Idee des richtigen und allgemeingültigen Verstehens in der philologischen Auslegungspraxis »Regelgebung und Ordnung der Regel« entstanden sind, bis dann in der romantischen Hermeneutik »in der Analyse des Verstehens der sichere Ausgangspunkt für die Regelgebung gefunden wurde«.34 Durch die ontologische Wendung der Hermeneutik bei Heidegger und Gadamer ist zwar die philosophische Hermeneutik auf Grund ihrer Fragestellung zu einer prima philosophia entfaltet worden, aber mit dieser Wendung wurden das wissenschaftliche Methodenbewusstsein und die für die Hermeneutik charakteristische systematische Regelgebung des Verstehens völlig preisgegeben. Deshalb erscheint dieser Wandel der modernen Hermeneutik manchen Experten nicht nur als Gewinn, sondern auch als wesentlicher Verlust.35 Der Universalitätsanspruch des Verstehens in der philosophischen Hermeneutik hat sich von jeder systematischen Regelung dispensiert, so dass der Verstehensbegriff jede konkrete Bestimmtheit verloren hat. Weder vermittelt die neu konzipierte hermeneutische Reflexion nach Gadamers Ansicht ein Wahrheitskriterium noch erforscht sie die »theo­retischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Ar­beit«.36

Gadamer behauptet freilich, dass er Kants transzendentalphilosophische Frage nach Bedingungen unserer Erkenntnis aktualisiert habe, indem er die hermeneutische Reflexion auf das Ganze »der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis« ausweitet und dementsprechend fragt: »Wie ist das Verstehen möglich?«37 Die hermeneutische Erfahrung hat sich dabei durchaus vom Ge­schäft der Methodologie und vom System der Kunstregeln, die für die tradi­tionelle Hermeneutik kennzeichnend waren, dispensiert. Das Verstehen wird vage und verschwommen als »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« gefasst, »in dem sich Vergangenheit und Ge­genwart beständig vermitteln«.38 Gadamer bemüht sich ferner, das Verstehen und Auslegen von Texten vom Methodenbegriff der modernen Wissenschaft zu befreien und zu zeigen, dass im Verstehen der Überlieferung nicht nur Texte verstanden, sondern auch »Einsichten erworben und Wahrheiten erkannt« werden, die »den Kontroll­bereich wissenschaftlicher Methodik« übersteigen.39 So wird die hermeneutische Erfahrung samt allen Geisteswissenschaften aus dem Umkreis der verifizierbaren Wissenschaften entfernt.

Gadamer gibt zwar in seinem »Nachwort« (1972) zu Wahrheit und Methode zu, dass methodische Mittel der Wissenschaft, wie z. B. das Schema der Aufstellung von Hypothesen und ihrer Prüfung, zweifellos hilfreich sind, Irrtum auszuschalten und Er­kenntnis zu ge­winnen bzw. zum richtigen Textverständnis zu gelangen, doch sei diese »methodische Sauberkeit« nicht alles, denn sie müsse in den geschichtlichen Verstehensprozess einbezogen und stets auf die konkrete Situation appliziert werden.40 Gadamers Frage, wie der Text selbst »seine sachliche Wahrheit« gegen die eigenen Vorurteile ausspielen kann, findet ihre Antwort mitnichten in der strikten methodischen Regelbefolgung, sondern im dialogischen Aus­trag der argumentativen Auseinandersetzung, wobei »lesendes Verstehen« als »Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn« ge­fasst wird.41 Einen Grund für die schlechthinnige Aufhebung methodologischer Re­geln in der Interpretationspraxis sieht Gadamer unter anderem in Kants Auffassung der »reflektierenden« Urteilskraft und seiner Ansicht, dass es keine Regel dafür gibt, »wie man Regeln richtig anwenden lernt«.42

Auf Grund des Dargelegten drängt sich die Frage auf, ob man durch die ontologische Wendung der Hermeneutik und ihre Explikation von Sinnverstehen noch sinnvoll einen Text verstehen, auslegen und verständlich machen kann. Kritiker der hermeneutischen Phi­losophie sind der Meinung, dass hier Sinnverstehen vage und un­präzis formuliert wird, dass Kriterien der normativen Textaus­legung gänzlich ausgeklammert werden. Dasselbe gilt für die hermeneutische Wahrheitskonzeption, die Gadamer mithilfe des Be­griffes »Spiel« erörtert. Durch »sprachliche Spiele« erheben wir uns als Lernende »zum Verständnis der Welt«. »Wir sind als Ver­stehen­de in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen, was wir glauben sollen«.43 Hermeneutische Einsichten, in denen Wahrheiten erworben werden, die nach Gadamers Ansicht gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff zu verteidigen sind,44 können nur als Ausdruck eines umstrittenen Intuitionismus verstanden werden, dem die intersubjektive Verbindlichkeit fehlt. Indem aber die philosophische Hermeneutik die Voraussetzungen, die jeder wissenschaftlichen Methodologie vorausliegen, nicht mehr thematisiert bzw. völlig ausklammert, bleibt auch ihre Relevanz für die an­spruchsvolle Auslegungspraxis in den Geisteswissenschaften äußerst fragwürdig. Der Ruf nach einer logischen Disziplinierung der Hermeneutik war in den letzten Jahren immer wieder hörbar. Das aber bedeutet im Grunde genommen eine Annäherung an die Ausgangsposition der Interpretationstheorie, wie sie von Flacius ausgearbeitet und praktiziert wurde.

Ein solches Unterfangen findet man bei Nicholas Rescher, dem Vertreter der Kohärenztheorie der Wahrheit und einem der entschiedensten Gegner des »relativistischen Indifferentismus« in der Interpretationstheorie. Mit seinem »principle of hermeneutical optimization« steht Rescher in der Tradition der Theoretiker der Interpretation, die sich bemüht haben, den von dem Verfasser in­tendierten »Wortsinn« (sensus literalis) adäquat zu erfassen. Dieses Konzept der verantwortlichen Interpretation hat namentlich Ge­org Friedrich Meier in seiner Schrift Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) als das Prinzip der »hermeneutischen Billigkeit« gekennzeichnet, dessen primäres Ziel es ist, den Sinn des Textes zu entschlüsseln: »Die hermeneutische Billigkeit (aequitas hermeneutica) ist die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen.«45 Nach dem Urteil der Theoretiker der normativen Interpretation bewegt sich der heuristisch-rekonstruktive Verstehens- und Auslegungsprozess von der Erfassung der Bedeutung der Wörter auf Grund ihres Gebrauchs bis zur Erschließung der komplexen hermeneu­tischen Wahrheit des Sinnes. In seiner kritischen Auseinander­setzung mit Derrida behauptet Rescher, dass der Zweck und die Aufgabe der Interpretation keineswegs darin bestehen, den Text möglichst­ differenziert aufzufassen und auszulegen, sondern strin­gent und sinngemäß, wie dessen umfassender Kontext es aufbietet. Derrida46 und die sog. Dekonstruktivisten gehen von der Voraussetzung aus, dass jeder Text zahlreiche unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten erlaubt, von denen jede als angemessen und gleichberechtigt gelten sollte: »As deconstructionism sees the matter, the enterprise of text interpretation accordingly confronts us with an inevitable plethora of coequal alternative possibilities«.47 Rescher tritt entschlossen gegen diese »anarchistische Position« auf, in der sich der Interpret wie ein Flaneur verhält und mit Bewunderung durch den Spiegelsaal der pluralistischen Interpretation läuft, unfähig, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Die Anekdote von dem Rabbi, der die Studenten durch die Prüfung fallen lässt, weil sie keine der 49 Sinndeutungen der Thora getroffen haben, ist ein ironischer Hinweis darauf, dass man sich immerhin Grenzen im interpretatorischen Spiel mit dem Text setzen muss. 48

Rescher ist durchaus überzeugt, dass die Theorie der Interpretation normativ sein muss, und zwar mit festgelegten Standards und Kriterien der Evaluation hinsichtlich des Wahr- und Falschseins, des Sinnvoll- und Sinnlosseins bzw. der Verantwortung und der Unverantwortlichkeit. Eine Interpretation ist nur legitim, so Re­scher, wenn sie sinngemäß und mithilfe des Kohärenzkriteriums vollzogen wird: »It is in fact coherence with the resources of context (in the widest sense of this term) that is at once the appropriate instrument of the text interpretation and the impetus to objectivity in this domain«. 49 Der Kontext als solcher impliziert eine Vielfalt der hermeneutischen Faktoren: Die im Text enthaltenen Behauptungen sollten im Fokus der unmittelbar zu­sam­menhängenden Gedanken aus dem Œuvre des Verfassers erörtert werden, wobei historisch-kulturelle Umstände, in denen der Autor gelebt und sich ausgebildet hat, sowie die Sprache, in der er geschrieben hat, und schließlich der Zweck, um dessentwillen das Werk verfasst wurde, zu berücksichtigen sind.

Rescher begründet seine Widerlegung der dekonstruktivistischen Auflösung des Textes mit dem Plädoyer für dessen Sinnrekonstruktion: »In sum, texts have a wider functional context. And this means that text interpretation is not a matter of free-floating imagination – it is a matter of scholarship«.50 Wenn man die Interpretationstätigkeit nicht als einen Imaginationsprozess auffasst, sondern als eine Be­mühung um die optimale Erschließung des impliziten Sinnzusammenhanges des Textes, wobei die Kompetenz des Interpreten eine be­sonders wichtige Rolle spielt, dann ergibt sich mit Recht die Frage, unter welchen Bedingungen man eine zuverlässige und akzeptable Interpretation erreicht. Dementsprechend schreibt Rescher: »But who makes the rules of appropriateness? The answer is that they are not made by but given to us, not something invented but rather something to be discovered by anyone who examines the range of relevant phenomena with sufficient care.«51 Wenn Rescher behauptet, dass sich der Interpret nach dem heuristischen Prinzip richten soll, das Interpretandum sinngemäß aus seinem Kontext, d. h. aus seinem Explanans, zu eruieren, dann impliziert dies, dass man im Falle des Bestehens mehrerer Interpretationsalternativen nicht alle als hermeneutisch b­e­rechtigt und äquivalent akzeptieren soll, sondern der Interpret muss letztendlich beurteilen, welche Deutung vom hermeneutischen Standpunkt der Sinn­erschließung her plausibel und optimal ist. Demzufolge stellt Rescher fest: »The cardinal instrumentality of text interpretation is represented by the principle of hermeneutical optimization according to a standard of merit provided by the coherence of the proposed interpretation of a text with its overall context. Whatever interpretation best harmonizes with a text’s overall context is ipso facto a superior interpretation which thereby has greater claims on our acceptance«.52

Die primäre Aufgabe der hermeneutischen Auslegung bleibt folglich in der verantwortlichen Bemühung, das vom Verfasser Intendierte, soweit es im Text artikuliert worden ist, ap­proximativ zu erschließen und dabei alle umstrittenen Textdekonstruktionen, in denen Texte als Sprungbrett für neue kreativ-interpretatorische Spiele betrachtet werden, abzulehnen, was Flacius übrigens geistvoll mit dem Spiel der Mädchen auf den Wiesen verglichen hat. Die ursprüngliche Intention und das Bezwecken der Hermeneutik seit ihrer Gründung durch Flacius war nämlich, Texte gegen Beliebigkeit und Willkür der Interpreten abzusichern und dem Verstehen zugänglich zu machen. 53 Hermeneutik als Lehre von der allgemeingültigen Interpretation, die man in den »Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften« aufnehmen würde, wäre nach Dilthey »ein Hauptbestandteil der Grundlegung der Geisteswissenschaften«.54 Unsere rationale Urteilsfähigkeit erweist sich auch nach Reschers Ansicht als conditio sine qua non jeder erfolgreichen Interpretation, aber sie ist per se keineswegs eine Garantie, dass die Interpretation ge­lingen wird: »Here, as in any other ›inductive‹ situations, all that rational­ity can do for us is to offer the best available prospect of successful goal-realization«.55

Eine so konzipierte normative Interpretationstheorie, die an einer zuverlässigen Textauslegung orientiert ist, bleibt besonders nach der ontologischen Wendung der Hermeneutik ein dringend zu füllendes Desiderat für die Geisteswissenschaften.

Summary


The most prominent representatives of hermeneutical philosophy, W. Dilthey and H.-G. Gadamer, attribute to the Croatian Gnesio-Lutheran Matthias Flacius Illyricus the key role in the founding and constitution of hermeneutics as a reliable method of textual interpretation. Flacius resolutely defended the hermeneutical principle that the reader has the capacity to understand the Bib­lical texts on his own, if endowed with a solid humanistic education and adhering to some generally valid rules of understanding and textual interpretation.

The author attempts to demonstrate, sub ratione veritatis, that Flacius’ key notions in the interpretation and the explanation of texts are plausible even today; that is, that they can serve as a cor­rective to some of the current trends in hermeneutical philosophy. During the past few decades, as hermeneutical philosophy has gradually taken on the role of koine of humanities, demands for hermeneutics to develop as a logical and scientific discipline have been growing stronger and more numerous. Surprisingly, these demands are drawing hermeneutics closer to its origins, to the theory of interpretation as envisaged and elaborated by its founder.

Fussnoten:

1) Wilhelm Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, in: Gesammelte Schriften (Sigle: GS), 11. unver. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1991, Bd. 2, 117.
2) Wilhelm Dilthey, GS 5, 324.
3) Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke (Sigle: GW), Tübingen 1986, Bd. 2, 281.284.
4) Ibid., 285
5) Diese Form der Interpretation der klassischen Texte »sub ratione veritatis« hat vornehmlich Wolfgang Wieland in seinen bedeutenden Studien zu den Klassikern der Philosophie mit Erfolg angewendet: »Wer den Wahrheitsanspruch eines Autors ernst nimmt, arbeitet lediglich mit der Hypothese, daß das, was der Text zu sagen hat, möglicherweise wahr ist, mithin den von ihm intendierten Sachverhalt zu treffen fähig ist«; W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 2. Aufl., Göttingen 1999, 332.
6) Luthers Lehre von der Klarheit und Transparenz der Heiligen Schrift hängt unmittelbar mit seiner Rechtfertigungslehre zusammen: Die Schrift sei »ipsa per sese certissima, facillima apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans iudicans et illuminans«; vgl. Martin Luther, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883, Bd. 7, 97. Die Unklarheit und Unverständlichkeit der Schrift ergibt sich dadurch, dass das Wort Gottes in normalem Menschenwort gefasst und verkündet wird, wobei die innere Klarheit (claritas interna) im geschriebenen Wort (verbum externum) verborgen bleibt. Das innere und lebendige Wort erkennt man vollkommen im verstehenden Akt des Glaubens.
7) Vgl L. Geldsetzer, Einleitung, in: M. Flacius Illyricus, De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift. Übers., eingl. u. mit Anm. vers. von L. Geldsetzer, Düsseldorf 1968, XXVI.
8) Flacius (1968), 27, 24.
9) Gadamer, GW 2, 296.
10) Philippus Melanchthon, Rhetorices elementa, Lugduni 1537, 16.
11) Flacius (1968), 90.91.
12) Ebd., 93.
13) Ebd., 100. Flacius meint nämlich, es sei unmöglich, »daß irgend etwas vernünftig geschrieben ist (sanum scriptum), was nicht einen sicheren Ge­sichts­punkt ... aufweist und bestimmte Teile oder Glieder in sich umfaßt, die nach gewisser Ordnungsweise und gleichsam Proportion sowohl untereinander als auch mit dem ganzen Körper, und zumal mit ihrem Gesichtspunkt, verbunden sind«, Flacius (1968), 97.
14) Ebd., 92.
15) Julius Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles. 3. durchgesehene Aufl., Darmstadt 1959, 17. Ähnliche Ansichten vertritt in den Interpretationen zu Philebos Gisela Striker: »Die Sprache ist also ein Gegenstand, von dem alles das gilt, was nach 15b2–4 von den Formen gelten soll«; dies., Peras und Apeiron, Das Problem der Formen in Platons Philebos. Göttingen 1970, 30. Auch Dorothea Frede setzt in ihrem Kommentar zu Platons Philebos Ideen als henadische Einheiten mit der Sprache gleich; vgl. Platon, Philebos. Übersetzung und Kommentar von Dorothea Frede, Göttingen 1997, 127.
16) Flacius (1968), 53.
17) Ebd., 50–53. Flacius zeigt hier seine besondere interpretative Kreativität und Originalität bei der Übertragung des griechischen Textes. M. Luther hat den griechischen Satz »orthotomounta ton logon tes aletheias« als »der da recht austeilt das Wort der Wahrheit« übersetzt; in der Vulgata heißt es: »recte tractantem verbum veritatis«.
18) Flacius (1968), 50–53. Flacius meint ferner, dass der 2. Timotheusbrief (2,24) ebenfalls vom Ausleger der Schrift eine Vertrautheit mit den klassischen Disziplinen des Triviums erfordert.
19) »Summa, normam sobriae dialecticae, rebus sacris tractandis, exponendisque Scripturae dictis solerter, caute ac religiose accomodat«, Novum Testamentum Jesu Christi Filii Dei ... cum Glossa Compendiaria Matthiae Flacii Illyrici Albonensis, Frankfurt a. M. 1659, 8.
20) M. Flacius Illyricus, Paralipomena Dialectices, ed. J. Talanga/F. Grgic´, Zagreb 1994, 19: »(scientia) quae initium, medium ac finem et totum contextum commonstrat. Sicut enim ut res singulas ac veluti particulas materiarum explanens, opus est instrumentis, scilicet definitione, divisione et argumentatione, ita ut ordine doceas intergras materias aut animo complectaris, opus est ordinem tenere, quo singula membra ad integram sui corporis formam pertinentia suo quaeque loco collocanda sint«.
21) Flacius (1994), 21.
22) Flacius (1968), 100.101.
23) Flacius, Clavis: »quod qidem etiam ego in toto hoc opere CLAVIS omni conatu, collatis quanta poti dilgentia Scripturae locis, consultisque linguarum fontibus, Dei opera perficere contendi, dum & singulis vocibus ac locutionibus suum pristinum ac natiuum vigorem sensumque & toti contextui in uno quoque Scripturae loco, reddere sedulo conatus sum« (Praefatio); Clavis Scripturae, seu de Sermone Sacrarum literarum, plurimas generales regulas continens; autore Matthia Flacio Illyrico Albonense, Basel 1567.
24) Flacius (1968), 96.97.
25) Ibid., »Einleitung«, XXI.
26) Ibid., XX.
27) Hans Ineichen, Philosophische Hermeneutik, Freiburg i. Br. 1991, 66 ff.
28) Flacius (1968), 46: »Omnis intellectus ac expositio Scripturae sit analoga fidei: quae est veluti norma quaedam sanae fidei«. Flacius ist offensichtlich hier durch Luthers Übersetzung von Röm 12,6 beeinflusst: »Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben gemäß« (kata tên analogian tês pisteôs). Der Glaube er­weist sich als Medium der Schriftauslegung.
29) Gadamer, GW 2, 286.
30) Flacius (1968), 109.
31) Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart 2003, 84.
32) Flacius (1968), 88.
33) Flacius (1968), 64.
34) Dilthey, GS 5, 320.
35) Vgl. Ineichen (1991), 273; H. Birus (Hrsg.), Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer. Göttingen 1982, 8. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch J. Habermas: »Die Konfrontation von ›Wahrheit‹ und ›Methode‹ hätte Gadamer nicht verleiten dürfen, die hermeneutische Erfahrung abstrakt der methodischen Erkenntnis im ganzen entgegenzusetzen«; ders., Zu Gadamers ›Wahrheit und Methode‹; in: < span class="tkursivpetit">Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Beiträgen von Karl-Otto Apel, Claus v. Bormann, Rüdiger Bubner, Hans-Georg Gadamer, Hans Joachim Giegel, Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 1971, 46.
36) Gadamer, GW 2, 263; ders, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer phi­losophischen Hermeneutik. 4. Aufl., Tübingen 1975, XVI.
37) Gadamer (1975), XVII.
38) Ibid., 275.
39) Ibid., XVIII.
40) Ibid., 515.
41) Ibid., 370.
42) Carsten Dutt (Hrsg.), Hermeneutik – Ästhetik – Praktische Philosophie. Hans-Georg Gadamer im Gespräch, Heidelberg 1993, 17.
43) Gadamer (1975), 465.
44) Gadamer, GW 2, 117.
45) Zitiert nach Riccardo Pozzo, Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 165.
46) Vgl. Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris 1976; ders., Le Voix et le phénomène, Paris 1973.
47) Nicholas Rescher, Objectivity. The Obligations of Impersonal Reason, Notre Dame 1997, 198.
48) Walter Benjamin hat sich auch nach seiner Konversion zum Marxismus im Brief an G. Scholem für diese pluralistische Auslegungspraxis aus der jüdischen Tradition der Thoraauslegung ausgesprochen; vgl. Walter Benjamin, Briefe. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt 1978, 524.
49) Rescher (1997), 204.
50) Ibid., 201.
51) Ibid., 204.
52) Ibid., 203.
53) Dilthey beendet seinen Aufsatz »Die Entstehung der Hermeneutik« mit der Behauptung, Hermeneutik solle »gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch begründen«; Dilthey, GS 5, 331.
54) Ibid.
55) Rescher (1997), 204 f.