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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1129–1160

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Wolfgang Lienemann

Titel/Untertitel:

We shall overcome?
Literaturbericht zu Religion(en) und Gewalt

Seit der Ökumenische Rat der Kirchen für das erste Jahrzehnt des 21. Jh.s eine »Dekade zur Überwindung von Gewalt« (Decade to Overcome Violence – DOV1) proklamiert hat,2 ist eine Fülle an Veröffentlichungen zu diesem Thema erschienen – zum Teil unmittelbar oder mittelbar von dieser ökumenischen Initiative angeregt, mehrheitlich völlig unabhängig davon entstanden. Neben einer rein säkularen Literatur zu den vielfältigsten Gewaltphänomenen in Geschichte und Gegenwart gibt es zahlreiche Untersuchungen zum Zusammenhang von Religionen und Gewalt. Die Perspektiven, Zugänge und Methoden, die dabei gewählt werden, könnten unterschiedlicher, ja gegensätzlicher nicht sein. Neben Untersuchungen, die umfassend-vergleichend angelegt sind und Jahrtausende überspannen, stehen Arbeiten, die sich auf einen eng be­grenzten zeitlichen und sozialen Zusammenhang konzentrieren. Es gibt Analysen, die historisch-empirisch vorgehen, ebenso wie Arbeiten, die sich auf die Interpretation von Mythen und Symbolen konzentrieren. Ethnologisch, historisch, religionswissenschaftlich, kriminologisch oder theologisch ausgerichtete Arbeiten stehen durchweg beziehungslos nebeneinander. Gleichwohl gibt es so etwas wie einen roten Faden, der immer wieder zum Vorschein kommt: die Frage nämlich, ob, wie, unter welchen Bedingungen und zu welchen Zwecken und Zielen die Anhänger und Mitglieder organisierter Religionen Gewaltanwendung legitimieren oder ab­lehnen, ausüben oder zu verhindern suchen. Damit ist unausweichlich die Gegenfrage nach der jeweiligen Stellung zur Gewaltfreiheit gegeben.
Auffällig, doch auch wenig überraschend ist, dass die meisten neueren Veröffentlichungen, unter denen Sammelbände weit überwiegen, sich selten aufeinander beziehen. Es gibt keinen ge­meinsamen oder übergreifenden Gewaltdiskurs, der diesen Na­men im Sinne eines konzentrierten, gemeinsamen Gespräches verdiente, sondern eine lange Reihe spezialisierter, aber mehr oder weniger unverbundener fachspezifischer Beiträge, die sich um das schwer fassbare, ubiquitäre Phänomen der Gewalt gruppieren. Um ein einziges Beispiel zu nennen: Wenn es um Gewalt von Jugendlichen geht, wird natürlich nach den (»empirisch« erforschbaren) »Ursachen« und »Gründen« gefragt, aber der juristische Diskurs über die Zurechenbarkeit menschlicher Handlungen wird selten auf die (alten) theologischen Einsichten über den freien/unfreien Willen (von Menschen) bezogen – genauer gesagt nur dort, wo Strafrechtler über die Zurechenbarkeit menschlicher (Gewalt-) Handlungen nachdenken.
Angesichts der Überfülle der Literatur zu Gewalt/Gewaltfreiheit allein aus den letzten zwei Jahren ist mir derzeit nicht mehr möglich, als in Auswahl besonders wichtig erscheinende Titel zur Gewaltforschung im Allgemeinen sowie zum Verhältnis Reli­gion(en)– Gewalt im Besonderen exemplarisch vorzustellen, einzuordnen und besonders auch etwas abgelegener erschienene Beiträge zu berücksichtigen (die im Folgenden eingehender besprochenen Werke werden in den Fußnoten fett hervorgehoben). Ich stelle den einzelnen Abschnitten jeweils einige wenige, ausgewählte Hinweise über weitere Literatur, Reihen, Zeitschriften und nützliche Internet-Zugänge voran. Nicht berücksichtigt wird die Li­teratur zu Krieg, militärischen Interventionen, (staatlichen und privaten) Armeen und Polizei, zur Friedens- und Rechtsethik, zum Völkerrecht sowie zum Terrorismus (abgesehen vom explizit religiös motivierten Terrorismus).


1. Allgemeine Literatur zur Gewaltforschung3


Heitmeyer/Hagan (2002) stellt den m. E. derzeit besten und wichtigsten Einstieg in die analytisch-sozialwissenschaftliche Erörterung von Gewaltphänomenen dar (die englische Version: Dordrecht-London 2003: Kluwer Academic). Das Grundlagenwerk wurde im Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld konzipiert, das sich seit 1996 zum wichtigsten Zentrum universitärer Gewaltforschung im deutschen Sprachraum entwickelt hat. Ausgehend von Forschungen zur Ge­walt von Jugendlichen und zum Rechtsextremismus hat das Institut seither ein breites Spektrum von empirischen und sozialisationstheoretischen Fragestellungen verfolgt.
Das Handbuch stellt eine theoretisch wie empirisch ausgerichtete Zwischenbilanz der internationalen Gewaltforschung dar. Niemand, der auf diesen Gebieten forscht, wird an den hier ent­wickelten Begrifflichkeiten, Perspektiven, Herausforderungen und methodischen Überlegungen vorbeigehen können. Der Schwerpunkt ist, ähnlich wie im KZSS-Sonderheft von Trotha (1997), sozialwissenschaftlicher Art und bietet eine kundige Mischung un­terschiedlicher Perspektiven, Theorien und Methoden. In einem ers­ten Teil (»Rahmenbeschreibung«) skizzieren die Herausgeber die Herausforderungen und Schwierigkeiten, denen ein derartiges Handbuch gerecht werden muss: die unübersehbare Vielfalt von als »Gewalt« erfahrenen und beschriebenen Phänomenen, die daraus herrührenden Probleme einer klaren und brauchbaren Begrifflichkeit, die Ambivalenz von Gewalterfahrungen in der Moderne und die Gefahren, die sich aus selektiven Wahrnehmungen und Deutungen von Gewalt ergeben. Ziel des Handbuches ist nicht, Gewalt (ursächlich) zu erklären, sondern die Vielfalt und Komplexität von Gewaltphänomenen in ihrer Dynamik und in ihren unterscheidbaren Dimensionen zu analysieren und zu verstehen: Gewalt tritt in (sinnhaften) Interaktionen auf, die ihrerseits innerhalb gesellschaftlicher Strukturen (Institutionen und Organisationen) und durch diese geprägt stattfinden, wobei gleichzeitig individuelle und kollektive Akteure (Täter und Opfer) in bestimmten zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen handeln (oder nicht handeln). Zur Sinnhaftigkeit dieser Interaktionen gehören unabdingbar bewertende Einschätzungen – Legitimationen und De-legitimationen in (vor allem: öffentlichen) Gewaltdiskursen. Das Handbuch verfolgt damit einen »mehrperspektivischen Ansatz« mit einem Schwerpunkt auf sozialwissenschaftlichen Zugängen (in einem weiten, nicht methodologisch restringierten Sinne verstanden). Die Herausgeber haben ihr Konzept selbst mit folgender Übersicht skizziert (Abb. 1: Zentrale Kategorien des Handbuches, 22):

Gesellschaftliche Strukturentwicklungen

Individuelle und kollektive Täter

Institutionen/Staat Eskalation/Deeskalation Räume/Gelegenheitsstrukturen

Individuelle und kollektive Opfer

Gewaltdiskurse/Legitimationen

Anschließend analysiert Peter Imbusch die Schwierigkeiten, einen allgemein überzeugenden Gewaltbegriff zu bestimmen, der die heutige Begriffsweite und die geschichtlichen Bedeutungsverschiebungen berücksichtigt. Dieser Beitrag sowie die Ausführungen von Gertrud Nunner-Winkler (in: Heitmeyer/Soeffner 2004) sind vorzüglich geeignet, in die Sach- und Verständigungsprobleme der neueren Gewaltforschung einzuführen. Mit diesen Texten sollte sich jeder gründlich auseinandersetzen, der sich zu Gewaltproblemen äußert. Während Imbusch sich zurückhält, die Gewaltverständnisse und Gewaltbegriffe auf eine eindeutige Definition zu reduzieren, plädiert Nunner-Winkler für einen eng gefassten Gewaltbegriff mit den Merkmalen des (physischen) Zwanges, der Schädigung und Verletzung. Imbusch will hingegen Bedeutungselemente unterscheiden und typisieren, indem er fragt: Wer übt Gewalt aus (Subjekt)? Was geschieht dabei (Phänomene)? Wie wird Gewalt ausgeübt (Art und Weise)? Wem gilt die Gewalt (Adressaten, Objekte)? Warum wird Gewalt geübt (Ursachen, Gründe)? Wozu (Ziele, Motive)? Weshalb (Rechtfertigung, Begründung)? Auf der Ebene der Phänomene betont indes Imbusch wie Nunner-Winkler auch die Elemente der Verletzung und Schädigung, fasst hier also den Gewaltbegriff eng. Wer hingegen ein weites und damit auch vages Gewaltverständnis bevorzugt – so viele Autoren in der Nachfolge der Rede von »struktureller Gewalt« bei Johan Galtung –, signalisiert damit Sensibilität für die Vielfalt insbesondere der versteckten Gewaltformen und -ursachen. An Galtungs Auffassung ist unbestreitbar die Kritik an einem handlungstheoretisch eng gefassten Gewaltbegriff richtig, denn zweifellos kann Gewalt auch indirekt und versteckt geübt werden und hat ihre Wurzeln in ge­sell­schaftlichen Strukturen, Institutionen und Verfahren. Hoch problematisch ist hingegen, dass Gewalt nach Galtung schon immer dann vorliegen soll, »wenn Menschen so beeinflußt werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung« (zit. Imbusch, 40). Derartige »catch-all-terms«, wie dies ähnlich im Gesundheitsbegriff der WHO begegnet, mögen sprach- und sachpolitischen Zielen dienen, sind aber für analytische Zwecke unbrauchbar. 4 Imbusch stellt dem eine sorgfältige Differenzierung der Dimensionen des Gewaltbegriffs und eine Typologie von Gewaltphänomenen gegenüber (Abb. 2 und 3), die die Intentionen Galtungs durchaus berücksichtigt, aber zu deutlich größerer Klarheit und Unterscheidung im Verständnis und in der Wahrnehmung von Gewalt anleitet.
Den Einleitungsteil rundet eine kriminalhistorische Erörterung der empirischen Befunde und theoretischen Erklärungsansätze zur langfristigen Gewaltentwicklung ab (Manuel Eisner). Seit den Arbeiten von Max und Alfred Weber, Gerhard Oestreich, Norbert Elias und Michel Foucault zum sog. Zivilisationsprozess, zur historischen Gewaltentwicklung, Sozialdisziplinierung und Ge­walt­monopolisierung hat auf breiter Front eine umfassende Prüfung der erreichbaren Daten, vor allem im Blick auf Tötungsde­likte, stattgefunden. Ob und in welchem Sinne man von einer allmählichen Minimierung menschlicher Gewaltfähigkeit sprechen darf, ist nach den Gewalteruptionen des 20. Jh.s mehr als fragwürdig. Als Norbert Elias sein erst mit 30-jähriger Verzögerung rezipiertes großes Werk »Über den Prozeß der Zivilisation« am Vor­abend des II. Weltkrieges in den Druck gab, zeichnete sich schon ab, wie dünn der Schleier der Zivilisation über den Abgründen der Barbarei war. (Die Marburger Habilitationsschrift von Imbusch [2005] enthält in ihrem dritten Teil eine vorzügliche Auseinandersetzung mit dem Werk von Elias.)
Der umfangreiche Teil II des Handbuches bietet in sieben großen Abschnitten einen facettenreichen Überblick über die neuere Gewaltforschung aus primär sozialwissenschaftlicher Sicht. Er um­fasst folgende Hauptthemen: 1. Gesellschaftliche Strukturen und Institutionen (von der Armut bis zur Polizei; dabei auch ein sehr guter Überblick von Carol Hagemann-White »Gender-Perspektiven auf Gewalt in vergleichender Sicht«); 2. Kollektive und Gruppen (u. a. mit einem Beitrag von Ted Robert Gurr, einem Pionier auf diesem Gebiet); 3. Individuelle Gewalt (von sozialpsychologischen bis kriminologischen Perspektiven); 4. Gewaltopfer (be­sonders Kinder und Minderheiten); 5. Gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen (u. a. ein Beitrag zum Sport von Eric Dunning, der in Leicester noch mit Norbert Elias zusammengearbeitet hat); 6. Gewaltdiskurse (u. a. Dieter Grimm zum staatlichen Gewaltmonopol); 7. Prozesse und Dynamik (Eskalation und Deeskalation). Das Werk schließt mit einem III. Teil zu Methodenfragen.
Meine knappe Übersicht kann den Reichtum des Handbuches nur andeuten, nicht erschließen. Drei kritische Bemerkungen seien angefügt: Erstens kommt der Zusammenhang von Re­li­gion(en) und Gewalt lediglich in zwei Beiträgen zur Sprache (Jon Pahl und Volker Krech). Zweitens ist die starke Zurückhaltung gegenüber wertenden und normativen Argumentationen auffällig (die Rechtswissenschaft ist vor allem durch sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologen vertreten; den einzigen staatsrechtlichen Beitrag hat der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm zum staatlichen Gewaltmonopol beigesteuert). Drittens konzentriert sich das Buch überwiegend auf europäische und nordamerikanische Verhältnisse, greift allerdings in den ethnologisch oder sozialanthropologisch orientierten Beiträgen darüber hinaus (z. B. Georg Elwert, Peter Waldmann). Alle Abschnitte enthalten umfassende Literaturangaben, mit deren Hilfe sich leicht weitere Aspekte erschließen lassen.
Etliche der Handbuchautoren sind ebenfalls vertreten in Heitmeyer/Soeffner (2004). Das Buch ist hervorgegangen aus einer gemeinsamen Tagung des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und der Sektion »Soziologische Theorien« der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Im Unterschied zum Handbuch sehen sich viele Mitarbeiter angesichts der Kapitalverbrechen des 11. September 2001 mit neuen, insbesondere auch religiösen Begründungen von Gewalthandlungen konfrontiert. Eröffnet wird der Band mit Nunner-Winklers »Überlegungen zum Gewaltbegriff« (21–61), der zum Umsichtigsten gehört, was hierzu derzeit zu lesen ist. Insbesondere die Kritik der Ausweitung des Gewaltbegriffs auf »psychische« und »strukturelle« Gewalt sowie die umgekehrte Reduktion von Gewalt auf Schmerzerfahrung werden mit guten Gründen zurückgewiesen. Der enge Ge­waltbegriff (absichtsvolle physische Schädigung) zeichnet sich hingegen u. a. dadurch aus, dass er einen Sachverhalt bezeichnet, der im Allgemeinen unstrittig sowie tatsächlich überwindbar ist.
Den Kontrapunkt dazu setzt Hans-Georg Soeffners Beschreibung der »Gewalt als Faszinosum« (62–85). Ausgehend von einer (vermeintlich) radikalen Kritik an den »Illusionen einer Vernunft­religion«, wie er sie in Habermas’ Friedenspreisrede (2001) weniger analysiert als denunziert, rezipiert er Elemente des Religionsbegriffs Schleiermachers und vor allem Rudolf Ottos. Dabei stellt er das Faszinosum eines »Charisma der Gewalt« heraus, die Gewalt als »schöpferische Kraft« (George Sorel), wie sie sich – jenseits von Gut und Böse – im Augenblick freier Tatentscheidungen manifestiert. Deren Irrationalität gelte es zu erkennen, nicht sie zu verdrängen (aber wer täte das?). »Erst wenn das Irrationale an der Gewalt als eigenständiges Element erkannt wird, kann eine erste Einsicht in die Gewalt des Irrationalen entstehen.« (81) Dunkel bleibt dann freilich, wieso diese Einsicht eher zu einer Humanität führen soll als die Anstrengungen der kritischen Vernunft.
Unter sozialwissenschaftlichen Gewaltforschern gibt es seit ge­raumer Zeit einen lebhaften Streit über Forschungsansätze und »Paradigmen«. »Mainstreamer« versus »Innovateure« charakterisiert Peter Imbusch (125–148). Er grenzt sich dabei von einer anderen Auffassung (bei Jörg Hüttermann) ab, wo man u. a. erfährt: »So definiert sich die Soziologie der Gewalt über ihren Widerspruch zu einer Gewaltforschung, die als Mainstream stigmatisiert wird.« (108 f.) Aber warum sollte es unter Gewaltforschern friedlicher zu­gehen als sonstwo? Ich wäre freilich dankbar, wenn sich eine Forschung vorab über ihren klar bezeichneten Gegenstand und nicht über den Widerspruch zu Fachkollegen definieren würde, gebe aber auch gern zu, dass die vielfach erwähnte Uneindeutigkeit der Sache unweigerlich die Forschenden in eine durchaus fruchtbare Selbstreflexion führen kann.
Alle Beiträge können hier nicht diskutiert werden. Leider gibt es auch Wiederholungen von schon Veröffentlichtem (Münkler). Drei Überlegungen seien hervorgehoben: 1. Wilhelm Heitmeyer (86 ff.) rät angesichts der vermutlich unentscheidbaren Frage, ob es zivi­lisatorische Prozesse der Gewaltminimierung gegeben habe oder künftig geben könnte, dazu, die Bedingungen der Kontrollierbarkeit von Gewalt und die Ursachen von Kontrollverlusten zu analysieren. Unter der natürlich nicht unumstrittenen Prämisse, dass Gewalt (wie Macht) zu den in dieser Welt unaufhebbaren (nicht: unüberwindbaren) Merkmalen der Conditio Humana gehören, käme es dann darauf an, die Institutionen, Mittel und Verfahren der Zähmung zu optimieren. 2. Jan Philipp Reemtsma erörtert Probleme des staatlichen Gewaltmonopols in einer Hobbes-Perspektive: Die staatliche Monopolisierung der Gewalt um des Überlebens und Schutzes der Menschen willen bleibt unvermeidlich der Gefahr ausgesetzt, dass die Erzwingungsinstitutionen (Polizei, Militär) selbst die politische Macht ergreifen und verbrecherisch missbrauchen. Er behauptet: »Im Idealfall dient das Gewaltmonopol nur (sic! W. L.) dazu, seine Infragestellung zu ahnden.« (347) In einer Kant-Perspektive muss man entgegnen: Das (rechts-)staat­liche Gewaltmonopol dient dazu, alle außerrechtliche Gewaltausübung erfolgreich zu unterbinden. Dies ist freilich nur möglich, wenn die Bürgerinnen und Bürger eines Staates ein entsprechendes Rechtsethos entwickeln. Davon ist leider in den soziologisch orientierten Gewaltforschungen fast nie die Rede. 3. Spannend und brisant ist der Beitrag von Günter Albrecht über »Sinn und Unsinn der Prognose von Gewaltkriminalität« (475–524). Darauf komme ich un­ten, Abschnitt 2.3, zurück. Hier verweise ich darauf, weil dieser Text exemplarisch verdeutlicht, wie schwierig, wenn nicht un­möglich es ist, die (wahrscheinliche) Gewaltbereitschaft von Menschen zuverlässig vorauszusagen. Wer die theoretische und methodische Sorgfalt derartiger Beiträge aus dem Bereich der Sozialpsychologie und forensischen Psychiatrie zur Kenntnis nimmt, wird (hoffentlich) bei Globalprognosen über Religion(en) und Gewalt sehr vorsichtig werden.
Von gänzlich anderem Zuschnitt ist der Sammelband Liebsch/ Mensink (2003). Der Aufsatzband (ohne Register und Literatur-Verzeichnis) hat seinen Ursprung in einer Studiengruppe am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut zum Thema »Lebensformen im Widerstreit« und ist aus einer Tagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart hervorgegangen. Die Autorinnen und Autoren kommen aus Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaft, durchweg geprägt durch (besonders französische) Traditionen der Phänomenologie und Hermeneutik. Nach der Lektüre des Vorwortes fürchtete ich, einem völlig konturenlosen Gewaltbegriff zu begegnen, insofern die abgründigen Schwierigkeiten, Gewalt zu verstehen, auf diese Spitze getrieben werden: »Unter Umständen lässt sich sogar das Verstehen selber als Gewalt ›verstehen‹, selbst wenn es sich bestätigen sollte, dass das Verstehen als Gewalt-Verstehen seinem Sinn nach allemal der Absage an Gewalt verpflichtet ist.« (17, Hervorhebung im Text) Die Autoren nähern sich damit einer Auffassung, dass das Leben oder das Sein selbst unweigerlich an Gewalt Anteil haben (»unser Selbstsein konstituiert sich, nach allem, was wir wissen, vielmehr von Anfang an im Zeichen der Gewalt«, 18), also einer verschärften Variante der These, dass alles menschliche Sein machtförmig sei. Gewalt wird auch verstanden (?) »als Widerfahrnis der Verletzung von Ansprüchen«, und zwar nicht bloß rechtlicher Art. Das Pathos der Autoren zielt dabei zu Recht auf die Aufdeckung der subtilsten Gestalten und Masken von Gewalt, welche dort begegnen, wo eine objektivierende Forschung sich gegen die Einsicht ihrer eigenen Verwicklung in Gewaltverhältnisse sträubt.
Doch der naheliegenden Gefahr fatalistischer Resignation erliegen die Beiträge des Buches im Allgemeinen nicht, auch wenn sie sehr heterogen sind. So erweist sich ein Beitrag über »Stimmgewalten« (von Käte Meyer-Drawe) als eine überraschende Sensibilisierung für die starken Wirkungen der Stimme auf andere Menschen, wie sie selten bedacht werden.5 Ebenfalls sehr erhellend und zupackend sind Petra Gehrings6 Ausführungen über »Liberale Forderungen nach Sterbehilfe«, die zeigen, wie in manchen neueren bioethischen Diskursen zur Sterbehilfe zwei wesentlich unterschiedene Sachverhalte vermischt werden: das Anrecht von Kranken und Sterbenden auf professionelle Hilfe einerseits, die rechtlich seit langem nicht mehr pönalisierte Freiheit zum Freitod andererseits. Hemmungslos durcheinandergebracht werden beide Sachverhalte, wenn man im Zeichen eines »autonomen Patientenwillens« ein Recht auf Fremdtötung und damit zugleich eine Pflicht zur Erfüllung der Forderung nach Tötung auf Verlangen fordert. Die »right-to-die-societies« (in der Schweiz ›Exit‹ und ›Dig­nitas‹) revidieren das strafrechtliche Gewaltverbot im Namen der Autonomie zu Gunsten einer als einvernehmlich unterstellten Tö­tungserlaubnis. Demgegenüber hält Gehring zu Recht daran fest, dass der Freitod immer nur mein Tod sein kann und dass die Würde des Arztes nicht darin liegen kann, »eine Art Autonomie-Erfüllungsgehilfe« zu sein. Lapidar stellt die Autorin fest: »Nicht alles, was man nicht selbst tun kann, darf man von anderen verlangen.« (134) Gilt das nicht in gleicher Weise für die Zeugung, die Liebe und den Tod?
Der durchgehende Akzent dieses Sammelbandes liegt auf der Frage nach »Gewalt Verstehen«. Die vielfältigen Erörterungen des Verstehens in der Folge besonders von Heidegger, Gadamer, Ri­cœur und Lévinas können nicht im Einzelnen referiert werden. Insgesamt herrscht eine große Skepsis gegenüber dem Gedanken und der politischen Absicht, menschliche Gewalt durch ein auf Vernunft gegründetes Recht eingrenzen und eindämmen zu können, wie sie früh schon, ebenfalls unter Berufung auf Lévinas, Bernhard Waldenfels geäußert hat (Waldenfels 1990, 103–119). Vor allem der Herausgeber Liebsch erörtert in einem Beitrag »hermeneutische Aporien« des Gewalt-Verstehens (24–57), um deutlich zu machen, dass auch dem Verstehen oder Verstehen-Wollen (er meint: als einer Assimilierungs- und Bemächtigungsstrategie) Gewaltsamkeit innewohnt, und zwar dem Text-, Geschichts- und Fremdverstehen in je eigener Weise. Gleichwohl kommt er zu dem Ergebnis, dass Gewalt, »um Gewalt sein zu können«, eines letzten »Residuums des Verstehens« bedarf (57), weil es letztlich gar nicht möglich sei, nicht zu verstehen (56). Das nähert sich Niklas Luhmanns These, dass man eben nicht nicht kommunizieren könne, und erinnert mich an die Eule der Minerva.
Neben der (Un-)Möglichkeit des Gewalt-Verstehens behandeln mehrere Beiträge auch Feindschaft und Krieg, freilich oft in begrifflich und sachlich nicht leicht nachvollziehbaren Erörterungen. Liebschs Beitrag über Feindschaft aus Verfeindung streift zwar die religiöse Dimension von Feindschaft und Krieg (234 ff.), bleibt jedoch ganz im Allgemeinen und ist mehr an Carl Schmitt (kritisch) und Jacques Derrida (eher affirmativ) orientiert als an historischen und empirischen Forschungen und Differenzierungen. So muss man beispielsweise lesen, dass selbst Kant den Krieg für »un­vermeidlich« gehalten habe! Auch der Beitrag von Günther Figal (Fremdheit und Feindschaft 7) bietet zwar erhellende Paraphrasen zu Carl Schmitts Verständnis des Feindes und der Feindschaft, zu Hermann Cohen und Emmanuel Lévinas, aber nicht eine Zeile zur Situation heutiger Migranten, Flüchtlinge und »Fremder«. Der einzige Beitrag dieses Bandes, der sich dem Verhältnis von »Gewalt und Religion« zuwendet (Christoph Lienkamp, 203–221), geht leider auch nicht auf aktuelle Formen religiös motivierter oder legitimierter Gewalt ein, sondern streift, in lockerem An­schluss an Hans Joas 8, religiöse Elemente im »Kriegserlebnis« des I. Weltkrieges, bei Georges Bataille (den er der französischen Religionssoziologie zu­ordnet), setzt sich mit Wolfgang Sofsky9 kurz auseinander und wendet sich Derrida und Lévinas zu. Auch er totalisiert den Gewaltbegriff10, aber von der Gewaltfreiheit des Bergpredigers ist hier so wenig wie in allen anderen Beiträgen je die Rede.
Im Blick auf das ganze Buch möchte ich hier nur drei Fragen stellen: 1. Warum wird auf empirische sozialwissenschaftliche Un­tersuchungen zur Gewalt – abgesehen von der Abwehr eines bloßen Redens über Gewalt – kaum Bezug genommen? 2. Warum wird nicht versucht, auch die Gewaltfreiheit phänomenologisch zu würdigen und zu verstehen? 3. Warum kommt die Wirklichkeit des Rechtes als Institution und Mittel vernünftiger sittlicher Einsicht von Menschen zur Eindämmung von Gewalt fast nie in den Blick (Ausnahmen: Petra Gehring und Christian Grüny, »Zur Logik der Folter« 11)? Die Beiträge sind offen für zahlreiche religionsphilosophische Perspektiven, aber nicht für eine kritische Rechtsphilosophie. Das muss angesichts der Realität der Gewalt in der heutigen Welt mehr als verwundern.

2. Exemplarische Gewaltphänomene im Alltag


Wir haben es nie mit Gewalt an sich, sondern immer mit Gewalt von Menschen als Tätern gegenüber anderen Menschen als Opfern unter bestimmten Bedingungen in konkreten Lebenslagen zu tun. Jeder Hooligan ist das Kind seiner oder ihrer Eltern. Wer über Möglichkeiten der Überwindung oder – realistischer – der Minderung von Gewalt nachdenkt, tut gut daran, sich mit sehr konkreten Gewaltverhältnissen auseinanderzusetzen. Das eingangs besprochene Handbuch bietet dazu vorzügliche Basisinformationen, die im Folgenden um einige weitere Literatur-Hinweise ergänzt werden sollen.

2.1 Biographie – Gewaltkarrieren12
Es gibt nicht die typische NS-Täterbiographie. Dennoch gibt es wiederkehrende Elemente, prägende Milieus, verstärkende Anreize und typische Formen der Teilnahme an NS-Gewaltverbrechen. Man sage nicht, derartige Konstellationen könnten sich nicht wiederholen; mit entsprechenden Veränderungen haben sich an­dernorts – in lateinamerikanischen Gewaltdiktaturen zum Beispiel– durchaus vergleichbare Karrieren gezeigt. Mallmann/Paul haben ein Buch mit 23 Kurzbiographien von NS-Tätern vorgelegt. Diese sog. Täterforschung ist in diesem Umfang relativ neu und erst mit und nach der Goldhagen-Kontroverse13 als eine »Nebendisziplin der Holocaustforschung« (Wolfgang Benz) institutiona­lisiert worden. Im vorliegenden Band haben ausgewiesene Fachleute, aber auch Nachwuchsforscher auf Grund eingehender Archivstudien in zahlreichen Ländern knappe Darstellungen der Lebensläufe von meist mittel- bis höherrangigen Tätern und zwei Täterinnen (Ilse Koch, Ehefrau des KZ-Kommandanten, und Gertrud Slottke, Angestellte im niederländischen Judenreferat der Sicherheitspolizei) vorgelegt. Gerade die nüchterne Sprache der kritischen Aktenauswertung verstärkt den Eindruck des Grauens im Alltag, das einen aus jedem Beitrag anspringt.
Die Herausgeber haben dem Buch eine Einführung zur Ent­wick­lung der Täterforschung, zu Literatur und einschlägigen In­stitutionen vorangestellt und danach gefragt, ob sich so etwas wie Muster der Karrieren der »›kleinen‹ Schwungräder des Genozids« erkennen lassen. Die Täter kamen aus allen Schichten, mehrheitlich aus dem unteren Mittelstand. Dass Schule oder Universität sie für ihren Weg geprägt hätten, kann man nicht sagen. Auffällig vielen aus dieser Kriegsjugendgeneration »bot vor allem der Quereinstieg in den Polizeidienst Existenzsicherheit und Karrierechance. Damit verbunden war eine z. T. langjährige Ausbildung und Sozialisation innerhalb der polizeilichen Institutionen der gehegten, d .h. der reglementierten Gewalt und des für diese charakte­ris­tischen antirepublikanischen Ressentiments« (9). Für etliche waren auch das »Kriegserlebnis« und die »Überschreitung bürgerlicher Gewaltgrenzen« (Stoßtruppeinsätze, Kameradschaftserlebnisse, Ge­waltgrenzen überschreitende Exzesse, Freikorpserfahrungen) lebenslang prägend (10). Viele, aber keineswegs alle traten schon früh NS-Formationen bei, aber es finden sich auch zwei Personen, die nie einer NS-Organisation angehört haben. Mit der »Macht­ergreifung« wurden vielfach aus »prewar extremists« »full-time Nazis«14, und dass die weitere Tätigkeit in diesen Organisationen vollends nach Kriegsbeginn (sowie den entsprechenden [Führer-] Weisungen) zu einer weiteren Radikalisierung und Gewaltbereitschaft führten, ist vielfach belegt. Gleichwohl hätten sicher viele auf die Frage »Warum?« geantwortet wie Georg Michalsen, der maßgeblich bei Deportationen aus den Ghettos von Warschau und Byalistok beteiligt war: »Bei der ganzen Sache mit den Juden hat man sich gar nichts dabei gedacht. Man tat ganz einfach seine Aufgabe und dachte nicht weiter darüber nach.« (zit. 160)
Paul/Mallmann charakterisieren fünf Tätertypen: 1. Kon­for­mis­ten (»band-wagon Nazi«, M. Mann), 2. Weltanschauungstäter, 3. Exzesstäter, 4. Schreibtischtäter, und sehr häufig die »Mischung aus Schreibtisch- und Direkttätern, aus Vordenkern und Vollstreckern« (17 f.). Die Wenigsten von ihnen sind 1944/45 gewaltsam zu Tode gekommen. Einige nahmen nach Kriegsende eine neue Identität an. Die meisten machten eine normale bürgerliche Karriere. Etliche mussten sich niemals strafrechtlich verantworten. Einige fanden wieder Aufnahme in den Polizeidienst. Und es gab auch jene, die aktiv die gesellschaftliche Rehabilitierung ihrer ehemaligen Kameraden betreiben konnten. »Als Chef des LKA Rheinland-Pfalz oblag (Georg) Heuser u. a. die Fahndung nach NS-Verbrechern, zu denen er selbst zählte.« (21)
Die Beiträge sind akribisch-nüchtern und gerade dadurch erschütternd. Die archivarische Sorgfalt der Rekonstruktion und Dokumentation könnte auch für ganz andere Kontexte vorbildlich sein. Das Böse, wie es hier erscheint, war alles andere als »banal«. Zwar spielt die Religion der Täter, wenn denn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, keine Rolle, wohl aber die tiefe Prägung durch eine radikale, Gewalt entgrenzende Ideologie. Nachgeborene können sich nichts darauf zugute halten, dieser Welt nicht ausgesetzt gewesen zu sein, aber sie können und müssen sensibel sein für jedes Weiter- und Wiederleben dieses Ungeistes.
Das Buch von Sutterlüty (2003) führt in die Gegenwart, zur Gewaltkarriere von Jugendlichen. Der Verfasser hat katholische Theologie und Soziologie studiert, war Referent für berufsbegleitende Lehrgänge im Jugend- und Behindertenbereich und ist seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Die Studie wurde von Hans Joas begleitet und von der Freien Universität Berlin als Dissertation im Fach Soziologie angenommen. Der Verfasser erhielt dafür 2002 den Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Grundlage sind 18 Interviews mit jugendlichen Gewalttätern. Es geht dem Autor um eine möglichst dichte, erlebnisnahe Analyse konkreter Gewalthandlungen und damit verbundener Erfahrungen. Teile der Transskripte der Interviews sind in den analysierenden und interpretierenden Text des Buches so eingearbeitet, dass es selbst zu einer beeindruckenden Erzählung des Schicksals dieser Jugendlichen wird. Schritt für Schritt wird nachvollziehbar, mit welchen Empfindungen die teilweise äußerst brutalen, wie­derholten Gewalthandlungen verbunden waren, aus welchen biographischen Entwicklungen und Dispositionen sie hervorgegangen sind und wie sie das Leben dieser jungen Menschen geprägt haben. Sehr oft stehen Missachtung und Misshandlung im Kindesalter am Beginn, doch die eigene Gewalttätigkeit wird (auch) als Moment der Faszination erfahren und erinnert. Machtgefühl auf Grund physischer Überlegenheit, der »kick« im Vollzug der gewaltsamen Handlung, ein überaus starkes Lustgefühl – »ja, ich kann’s! Ich hab’s wirklich drauf« (89) –, dies und mehr kommt zusammen, so dass die Stärke intrinsischer Gewaltmotive alles andere überschwemmt. An dieser Stelle könnten Leser geneigt sein, mit Elias Canetti (»der Mensch will töten, um andere zu überleben«15, zit. 99) ein anthropologisches Universale des homo necans zu identifizieren. Nicht so der Autor! Er hält sich an die offenen und weniger offenen Äußerungen der Interviewten, achtet besonders auf die Brüche, die Rechtfertigungs- und Schulduntertöne, generalisiert nicht voreilig, sondern lenkt stets zurück zu den »spezifischen biographischen Entstehungsbedingungen solcher Gewaltmotive« (100). Sutterlüty zeigt keine statistischen Typen, sondern lässt sich und seine Leser – hörend, deutend, verstehend und nicht verstehend – gleichsam in die Geschichte der Probanden hineinziehen, ohne die notwendige Distanz zu verlieren. Nach der Erhellung der Gewaltmotive lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Wurzeln und Quellen der Gewaltsamkeit in Erfahrungen von Demütigung, Ohnmacht und Missachtung im Familienzusammenhang. Es be­stätigt sich, was man aus vielen anderen Untersuchungen weiß: »Jugendliche und junge Erwachsene, die andere mißhandeln, wa­ren häufig bereits sehr früh direkte und indirekte Opfer von Ge­walt« (209). 16 In einem weiteren Kapitel wird auf die typischen Wendepunkte in den Gewaltkarrieren aufmerksam gemacht, und im Schlusskapitel werden Argumente dafür vorgebracht, weshalb rationalistisch verengte Handlungstheorien nicht in der Lage sind, Gewalthandlungen angemessen wahrzunehmen – sie verkennen zu leicht die Bedeutung der konkreten Gewaltsituation, sie würdigen nicht hinreichend, dass »Gewalthandlungen oft unter Bedingungen extremer Unsicherheit stattfinden« (351), und sie isolieren den Akteur von seiner Lebensgeschichte.
Die Untersuchung ist auch in methodischer Hinsicht höchst aufschlussreich und anregend. Im Einleitungskapitel wird dazu das Nötige in einer auch für Nicht-Soziologen gut verständlichen Weise erläutert. Der Autor folgt der »Grounded Theory«, wie sie Anselm Strauss in Chicago und andere entwickelt haben und die sich u. a. dadurch auszeichnet, dass Datengewinnung und Theoriebildung in einem »zirkulären Modell« (18) erfolgen: Schritt für Schritt werden die durch vorgängige »Leitfäden« nicht unbeeinflussten Erzählungen der Interviewpartner wahrgenommen, durch wiederholte minimale und maximale Kontrastierungen angereichert, vom Interviewer im Lichte seines Wissens, seiner Erfahrungen, seiner Empathie reflektiert, auf allgemeinere, aber nicht be­liebig konstruierte Gesichtspunkte, Kategorien und theo retische Überlegungen bezogen und wieder rückgebunden an Äußerungen des nächsten Gesprächs. Es handelt sich um eine problembezogene Kombination empirischer und hermeneutischer Verfahren.17 Nicht von ungefähr erinnert dieses Verfahren der experimentellen Theoriebildung an die Aufnahme von Erzählungen und qualitativen Interviews in der modernen Seelsorgelehre,18 hat doch Strauss seinen Zugang u. a. anhand von Gesprächen in Kliniken entwickelt. In Klinik und Seelsorge ist womöglich das me­thodische Vorgehen der »Grounded Theory« leichter zu verwirklichen als in der Gewaltforschung, denn die Rahmenbedingungen, unter denen Gewalt von Jugendlichen geübt wird, dürften wenig erwartbar und sehr kompliziert sein.
Von Religion(en) ist in diesem Buch nicht die Rede. Dennoch hat es mit dem Thema mehr zu tun, als man zunächst denken mag. Ich sehe mindestens drei wichtige Aspekte: 1. Das Buch schärft ungemein die soziale Aufmerksamkeit und kann deshalb die Kompetenzen von religiösen (und anderen) Gemeinschaften und ihren Mitarbeitern fördern, welche an sozialen Brennpunkten engagiert sind. 2. Das Buch »erdet« die oft abstrakten Sozialtheorien. 3. Es übt– indirekt und wahrscheinlich nicht einmal absichtlich – in die suchende Haltung des Rettens, niemals aber des Richtens ein.

2.2 Gewalt im Nahbereich19
Gewalt in der Schule und Gewalt im familiären Bereich sind in den letzten Jahren durch spektakuläre Fälle in besonderer Weise zum Gegenstand öffentlicher Debatten geworden. Die Literatur ist mehr als reichhaltig. In der Schweiz wurde zu diesem Problemfeld ein Nationales Forschungsprogramm aufgelegt,20 aus dem u. a. die instruktive Untersuchung Alsaker (2003) hervorgegangen ist. In Deutschland und in Frankreich geht man von 80–90000 sog. Rauf­unfällen (mit Verletzungsfolgen) an Schulen pro Jahr aus. Die Problematik ist im Allgemeinen durchaus gut erforscht.21 Hurrelmann (Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld) gehört zu den ausgewiesenen Pionieren auf diesem Gebiet. Das handliche Taschenbuch ist für den Zusammenhang dieses Beitrages von Bedeutung, weil es vor allem praktische Hinweise zur Wahrnehmung von und zum Umgang mit Jugendgewalt be­son­ders im schulischen Bereich gibt. Dabei werden die Rahmenbedingungen nicht vernachlässigt: der Wandel der Familienstrukturen (Kleinstfamilien), die Instabilität von Vertrauensbeziehungen auf Grund hoher Scheidungsraten (sie sind seit 1950 in Deutschland um das Dreifache auf mehr als 35 % gestiegen), steigende Bedeutung der außerfamiliären Kindererziehung usw. Lehrerinnen und Lehrer sind überfordert, wenn sie gleichzeitig familiäre Erziehungsdefizite ausgleichen, Klassen mit Kindern aus den verschiedensten Ländern anleiten und als Ersatz-Sozialarbeiter tätig sein sollen. Vermehrtes »burn-out« ist die unausweichliche Folge.
Inhaltlich nenne ich nur folgende lesenswerte Schwerpunkte: Schirp informiert eingehend und differenziert über die Dynamiken von Gewalt in der Schule. Rixius und Sturzenhecker machen auf etwas Selbstverständliches aufmerksam, an dem es gleichwohl immer wieder fehlt: Ohne bewusstes »Hinsehen, Hinhören, Aussprechen« gibt es keine angemessene Wahrnehmung von Gewalt, keine Handlungsmöglichkeiten, keine Veränderungen. Was alles sinnvoll und ohne übermäßigen Aufwand verändert werden könnte, wird mit zahlreichen konkreten Anregungen geschildert – vom Schulweg über Schmierereien bis zur möglichst gewaltfreien Re­gelung von Konflikten. Das Buch ist für Eltern schulpflichtiger Kinder, Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Kirchgemeinden (Konfirmandenunterricht) usw. eine praktische Hilfe zur Gewaltüberwindung, die auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage er­arbei­tet ist.
Das Buch von Oehmichen u. a. (2004) ist von völlig anderer Art. Es stammt aus der Rechtsmedizin (Oehmichen leitet die Abteilung an den Universitäten Kiel und Lübeck) und wendet sich in erster Linie an Medizinalpersonen, bezieht aber auch die Perspektiven von Richtern, Anwälten, Sozialarbeitern, Sexualwissenschaftlern usw. ein. In einem ersten Teil wird eine Problemaufnahme gegeben; der zweite Teil widmet sich schwerpunktmäßig der Gewalt gegen Frauen, der dritte der Gewalt gegen Kinder, der vierte speziell der sexuellen Gewalt gegen Kinder, und der fünfte Teil plädiert für eine netzwerkartige Integration der verschiedenen Kompetenzen in Diagnose, Therapie und Prävention. Jedem Abschnitt ist eine Zusammenfassung auf Englisch und Deutsch vorangestellt, die es erlaubt, auf besonders wichtige Informationen schnell zugreifen zu können.
Das Buch gehört in die Handbibliothek von Menschen (Ärzte, Ju­risten, Lehrer, Seelsorger), die sich in Fällen von Verdachtsmomenten in Bezug auf Gewalthandlungen rasch und zuverlässig orientieren müssen. Zwei Beispiele: Nach einer Vergewaltigung (81 ff.) oder beim Verdacht auf Kindesmisshandlung (181 ff.) sind präzise, sofortige, gut dokumentierte Schritte der Befunderhebung, Anamnese und Differentialdiagnose unmittelbar geboten, die je­weils kurz dargestellt werden. Bei Kindesmisshandlungen, die sich nicht selten (unbemerkt?) über Jahre hinziehen, muss man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Darum ist es wichtig, dass nicht nur Rechtsmediziner und Pädiater, sondern auch Allgemeinmediziner, Zahnärzte, Lehrer auf entsprechende Befunde Acht ge­ben. Das ist gleichzeitig auch deshalb geboten, damit nicht jemand zu Unrecht beschuldigt wird. Das Buch enthält zu jedem Abschnitt weiterführende Literatur sowie ein Stichwortverzeichnis.
Schließlich ein kurzer Hinweis auf das Buch von Kirsner/Wermke (2004). In den bisher erwähnten Veröffentlichungen spielen die Medien und medientheoretische Fragen kaum eine Rolle. So hat, soweit ersichtlich, Sutterlüty (2004) nicht die Aufmerksamkeit auf den Medienkonsum der von ihm Interviewten gerichtet. Auf der anderen Seite richten sich, wie beim Mord im Gutenberg-Gymnasium von Erfurt im April 2002, die Blicke schnell auf mediale Muster, die einem Verbrechen als Vorlage gedient haben könnten. Der Ruf nach einem Verbot von brutalen Filmen und Gewaltvi­deos folgt dann auf dem Fuß.
Doch die seriöse Medienwirkungsforschung warnt vor solchen Kurzschlüssen (in diesem Buch Wicher, 43 ff.). Man muss vielmehr die Aufmerksamkeit auf Fragen lenken wie: Wer macht auf Grund welcher Persönlichkeitsmerkmale, Sozialisation, Weltanschauung, Gruppenzugehörigkeit, Sehgewohnheiten, kurz: auf Grund welches allgemeinen kommunikativen Verhaltens in welcher Weise von Medien (Film, Fernsehen, Videos) bei welchen Gelegenheiten und mit welchen Erwartungen Gebrauch? (Wenn man hier statt »Medien« »religiöse Überlieferungen« einsetzt, liegt es nahe, für die Frage nach Religion[en] – Gewalt eine ganz ähnliche Fragerichtung zu wählen.) Unter welchen Bedingungen stützen und fördern, hemmen oder stoppen mediale Bilder eine latente oder manifeste Gewaltbereitschaft? Spielfilmgewalt kann, genau wie Gewalt im Drama auf dem Theater, eine Affekte lösende, kathartische Wirkung haben. 22 Um dies zu verstehen, bedarf es methodisch reflektierter Filmanalysen, wie sie in diesem Buch exemplarisch anhand von Werken wie »Herr der Ringe«, »Matrix«, »Bowling for Colum­bine« und anderen vorgeführt werden. Vorangestellt ist ein einführendes Kapitel, bevor dann jeweils im Dreischritt der Beobachtung von Gewalt/Tod/Verwandlung (im Film, aber auch in religiösen Überlieferungen) religionsphänomenologische und -pädagogische Erläuterungen anhand der filmischen Beispiele gegeben werden. Daneben fehlt es nicht an ideologiekritischen Erwägungen. Er­gänzt werden die Filmhinweise durch didaktische Vorschläge und Fragen für den Unterricht. Ein Filmregister ergänzt die Informationen.

2.3 Gewaltkriminalität und -prognostik23
Die traditionelle Domäne der Gewaltforschung ist die Kriminologie, innerhalb derer sie freilich nur einen Teil bildet. Das verbreitete Lehrbuch meines Berner Kollegen Kunz (2004) gibt eine vorzügliche Übersicht über Selbstverständnis, Entwicklungen, Theorien und Hauptprobleme des Faches, ist didaktisch gut organisiert und erleichtert die eigene Arbeit durch umfangreiche Literatur- und Stichwortverzeichnisse.
Aus der Lehrpraxis hervorgegangen ist die knappe, übersichtliche und gut verständliche Einführung in die Gewaltkriminalität von Michael Walter (2006), Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln und (seit 2002) Vorsitzender des Präventionsrates Nordrhein-Westfalen. Als Jurist legt er selbstverständlich den engen Gewaltbegriff (im Sinne von vis als körperlicher Kraft, nicht potestas als Amtsgewalt) des § 240 StGB zu Grunde, also den Nötigungstatbestand der rechtlich unzulässigen Zwangswirkung für das Opfer (41 f.). Das schmale Büchlein gibt zunächst eine Einteilung der Gewaltdelikte, widmet sich im Hauptteil der kriminologischen Erfassung von Gewaltphänomenen und schließt mit Bemerkungen zum Umgang mit Gewalt und Gewaltprävention. Eine tabellarische Übersicht zu Möglichkeiten der Gewaltprävention (83) macht deutlich, dass es sich hier um eine soziale Querschnittsaufgabe handelt. Gewaltüberwindung im Blick auf Ge­waltkriminalität muss auf sehr vielen Ebenen zugleich ansetzen.
An dieser Stelle möchte ich den Blick lediglich auf das Problem der Kriminalitäts- bzw. Gewaltprognostik lenken anhand des Beitrages von Günter Albrecht (2004). Große Teile der Bevölkerung rufen stets nach »Wegsperren«, womöglich wie seit einigen Jahren in der Schweiz nach lebenslanger Verwahrung ohne jede gerichtliche Überprüfung des Fortbestehens der Haftgründe. Besonders nach schweren Verbrechen wird der Ruf nach verschärften Strafen laut, verbunden mit der Frage, wieso »die Wissenschaft« nicht mehr zur Früherkennung von Gefahren und zur Prävention beigetragen habe. Und wenn es um eine Strafzumessung oder die Frage der Entlassung aus der Haft geht, sind wieder die Fachgutachter mit ihren Prognosen gefragt. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein entlassener Straftäter rückfällig wird? 24 Statistische Prognosen versuchen, in nachprüfbarer Form, d. h. auf der Basis theoretisch reflektierter em­pirischer Forschung, auf Grund bestimmter Merkmale von Probanden auf die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten zu schließen.
Dahinter kommt ein Problem, wenn nicht gar eine »Schizo­phrenie« (477), derartiger Sozialkontrolle zum Vorschein, welches darin besteht, dass die Statistik letztlich von einem deterministischen Menschenbild ausgeht (zwar nicht notwendigerweise für den Einzelfall, wohl aber für eine bestimmbare Häufigkeitsverteilung von Indizien), das rechtsstaatliche Strafrecht hingegen individuell Schuld zurechnet und dabei einen vielfach bedingten und eingeschränkten freien Willen der betroffenen Menschen voraussetzen muss. 25 Aus diesem Grund kann der Strafrichter letztlich sein Urteil nicht (allein) den Kriminologen und forensischen Psychiatern überlassen, sondern muss nach hinreichender Würdigung ihrer nicht selten widersprüchlichen Gutachten ein eigenes, durchaus erfahrungsgestütztes Urteil fällen. Hinzu kommt, dass man die »Treffergenauigkeit« von Kriminalprognosen zwar dras­tisch erhöhen kann, wenn man vorbeugend möglichst viele Delinquenz-Kandidaten festsetzt (z. B. durch die sog. Vorbeugehaft), aber man wird auf diese Weise nie erfahren, wer ohne Intervention straffällig geworden wäre und wer nicht. Es liegt auf der Hand, dass die Prognose-Unsicherheiten jede Gewalt-Prävention erschweren; die Bedeutung dieser Probleme für den Umgang mit gewaltbereiten Demonstranten oder mit Hooligans liegt auf der Hand.
Wichtig ist die naheliegende Einsicht, dass geeignete Instrumente für Rückfall-Prognosen leichter zu bestimmen sind als Verfahren für Frühprognosen, obwohl es zweifellos Familienstrukturen und -dynamiken sowie Persönlichkeitsmerkmale gibt, die die Wahrscheinlichkeit von kriminellen Karrieren erhöhen. Doch dürften wiederum für schwere Gewalt- und Tötungsdelikte Situationsfaktoren oft von größerer Bedeutung sein als familiäre und biographische Merkmale. Albrecht macht in gründlicher Auseinandersetzung mit der Literatur deutlich, wie schwierig Prognosen sind. 26 Der methoden- und erkenntniskritische Ansatz dieses Beitrages kontrastiert natürlich gewaltig mit den Volksvorurteilen über die Ursachen der Gewaltkriminalität.

2.4 Zwischenbemerkung
Von der vorgeburtlichen Familienkonstellation über das Mobbing im Kindergarten und die vielfachen Ursachen von Delinquenz und Gewaltverbrechen bis hin zur aktiven Sterbehilfe nimmt sich die Gewaltforschung praktisch aller Stadien auf dem Lebenswege an. Es gibt einige Bereiche, in denen mit außerordentlicher methodischer Raffinesse recherchiert wird, etwa im Bereich psychologischer Instrumente zur Rückfallprognose, und andere, die weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie unaufgedeckte Morde an alten Menschen. Jeder, der irgendwo irgendwie mitverantwortlich ist, ist bemüht, in seinem Bereich alles Mögliche zur Gewalterkenntnis, -prävention und -eindämmung zu tun. Doch auch wenn man in einem Abschnitt des Lebensweges alles Erdenkliche zur Vorbeugung gegen Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit von Menschen unternimmt und dabei auch die strukturellen institutionellen Bedingungen nicht außer Acht lässt – eine Abschaffung der Gewalt als eines elementaren Vermögens von vergesellschafteten Menschen wird es nicht geben. Wir kennen, mit und ohne Hilfe wissenschaftlicher Forschungen, sehr viele Gewaltmotive und -ursachen, wir können und sollten Anlässe und Dispositionen zur Gewaltanwendung identifizieren und versuchen, sie zu neutralisieren und zu kontrollieren, es gibt eine Fülle höchst nützlicher Ratschläge zur Gewaltprävention, aber Menschen werden die Ge­walt nicht abschaffen. Das hat m. E. mit zwei paradoxen Konstellationen zu tun: erstens mit der »Schizophrenie« von determinis­tischem Menschenbild einerseits und dem Vermögen des (auch gewalttätigen) Handelns aus zwar bedingter, gleichwohl unaufhebbarer Freiheit andererseits. Dass diese Freiheit, die eben (auch) als eine Freiheit zu Gewalthandlungen möglich ist, selbst noch einmal als Ausdruck einer tieferen Unfreiheit des Willens, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen, verstanden werden kann (siehe Röm 7,14–25), ist eine besondere Einsicht, die die Theologie in diesem Zusam­menhang einbringen kann. Zweitens lenken die Probleme von Prognose und Prävention den Blick auf ein Sicherheitsdilemma, welches u. a. darin besteht, dass mit gesteigerten finanziellen, technischen und anderen Vorkehrungen gegen Gewalt stets auch die Mittel zur Ausübung von Gewalt angereichert werden. Das einzige absolut sichere Mittel gegen Fußball-Hooligans wären Fußballspiele ohne Zuschauer.

3. Weltreligionen und Gewalt/Gewaltfreiheit27


1985 erschien ein schmales Buch von Hans-Werner Gensichen, dem damaligen Heidelberger Ordinarius für Religions- und Missionswissenschaft, über »Weltreligionen und Weltfriede«.28 Er hat da­mals schon notiert: »Eine ›Reduktion der Religionen auf ihre ethischen Impulse‹, eine Gleichschaltung um humanitärer Ziele wil­len– und der Friede ist ja ein solches Ziel – führt nicht zur erhofften Universalreligion, sondern zur Engführung und Verkümmerung des Vollgehalts der Religion.« (144) Man kann auch sagen: Wenn man die Religionen auf universale »Werte« wie auf Flaschen ab­zieht, kann von ihnen nichts Gehaltvolles übrigbleiben. Religionen stellen un­verwechselbare Identitäten dar – und Identitäten sind nicht ge­sichts- und geschichtslos. Gensichens Zugang zum Thema war historisch-religionswissenschaftlich: Er stellte auf der Basis wich­tiger Quellen Grundtendenzen in der Einstellung zu Krieg und Frieden auf Seiten der verschiedenen Religionen dar und arbeitete die tiefe Ambivalenz heraus, die darin besteht, dass keine organisierte Religion in ihrer Geschichte eindeutig und ausschließlich für Frieden und Gewaltlosigkeit eingetreten ist, Religionen vielmehr durchgehend, häufig oder gelegentlich (kriegerische) Gewalt hingenommen und legitimiert, aber auch eingegrenzt oder gar abgelehnt haben. Heinrich von Stietencrons These wurde seither immer wieder bestätigt: »Keiner Religion ist es bisher gelungen, in quantitativ und qualitativ ausreichendem Maße einen neuen Menschen und eine neue Gesellschaft zu schaffen, in welcher jede Art von Gewaltanwendung dauernd ausgeschlossen bliebe.« 29
In der Gegenwart gilt der Großteil der Literatur nicht dem Beitrag der Religionen zum Frieden, sondern dem Verhältnis der Religionen zur Gewalt. Sehr viele Bücher sind nur zu verstehen als Versuch einer Reaktion auf die Verbrechen vom 11.9.2001. Dabei könnte man sich – gleichsam antizyklisch – durchaus veranlasst sehen, wenn so viele über das Gewaltpotential der Religionen schreiben, zu fragen, wie die Gegenrechnung aussehen müsste. Wie immer: Rechnung und Gegenrechnung beziehen sich (zunächst) auf dieselben Texte und Zeugnisse aus der Geschichte der Religionen. Doch bilden die schriftlichen und mündlichen Überlieferungen ja nur ein Element in der Geschichte der Religionen, und auf dieselben heiligen Schriften beziehen sich ganz unterschiedliche Anhängerinnen und Anhänger. Nicht nur im Christentum hat es immer neben der Gewaltrechtfertigung auch die Ablehnung und Verweigerung gegeben. Mich interessiert nicht so sehr diese Ambivalenz, sondern die Frage, unter welchen Umständen, auf Grund welcher Wahrnehmungen, Erfahrungen und Überzeugungen es zu einem bestimmten kollektiven Umgang mit Gewalt kommt. Welche anthropologischen Dispositionen, geschichtlichen Herausforderungen, gesellschaftlichen Zwänge, individuellen Erwartungen und kollektiv anerkannten sittlichen Überzeugungen und rechtlichen Legitimationen müssen zusammenkommen, damit sich angesichts der Mehrdeutigkeit von religiösen Überlieferungen und heiligen Schriften eine Eindeutigkeit in der Gewaltbejahung und -anwendung einstellen kann? Mich interessiert also die genetische Frage, wie sie methodisch das oben besprochene Buch von Sutterlüty leitet: Wie ist es in konkreten geschichtlichen Konstellationen möglich, dass Menschen auf Grund ihrer religiösen Überzeugungen und Zugehörigkeiten Gewalthandlungen vollziehen? Anders gesagt: Ich wüsste gern mehr über die komplexe Verkettung von (nicht nur, aber besonders religiösen) Überzeugungen und Gewalt im Leben von Menschen.
Um mein Lektüre-Zwischenergebnis vorwegzunehmen: Die meisten kontinentaleuropäischen Veröffentlichungen bleiben me­thodisch und sachlich beschränkt auf historisch-kulturwissenschaftliche Fragestellungen, während in Untersuchungen aus dem angelsächsischen Bereich immer häufiger eine interdisziplinäre Integration von religionswissenschaftlichen, theologischen, historischen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven begegnet (siehe besonders Ellens 2004). Erst wenn man diese Vermittlungsschritte in den Blick nimmt, kann man beginnen zu verstehen, warum eine Theorie oder Religion zu einer »materiellen Gewalt« werden kann, die »die Massen ergreift« (Marx 30).
Geisteswissenschaftlichen Traditionen in einem umfassenden Sinne ist Baudler (2005) verpflichtet, dadurch freilich auch in seinen Fragestellungen begrenzt. Baudler war seit 1974 bis zu seiner Emeritierung Professor für katholische Theologie und ihre Didaktik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und hat eine Reihe von Arbeiten veröffentlicht, in deren Zentrum die Frage nach den biblischen Gottesbildern, ihrer Entwicklung und ihrer Bedeutung für ein heutiges Ethos der Gewaltüberwindung steht. Man merkt diesen Veröffentlichungen durchweg an, dass sie an ein breiteres Publikum aus unterschiedlichen Fachdisziplinen adressiert sind. 31 Das gilt auch für das hier zu besprechende Werk. Es umfasst drei Teile: A. Der Ursprung: Gewalt als das Heilig-Göttliche, B. Geschichtliche Befreiungsimpulse, C. Die heutigen fünf großen Weltreligionen. Baudlers primärer Zugang zum Verhältnis Religion(en) – Gewalt ist symboltheoretisch, insofern er unter Berufung auf paläoanthropologische Forschungen, Mythendeutungen, Tierethologie und insbesondere René Girards Arbeiten über »La Violence et le sacré« 32 im Raubtier und in der Mutter die ursprünglichen, universalen religiösen Ursymbole identifizieren will. Raubtiergötter und Muttergottheiten sind die ursprünglichen Symbolfiguren der Hominiden, deren Religionsformen von frühester Zeit an sich der »Nachahmung« (Mimesis) dieser Symbole verdanken. Auf den »Raubtiergott« gehen Tier- und Menschenopfer, Blutrache und Krieg, Versklavung und Vernichtung des »Sündenbocks« zurück. »Der Ursprung der Gewalt liegt also in der religiösen Fähigkeit des Menschen.« (36) Dies ist nicht die einzige apodiktische Behauptung in diesem Buch, angesichts derer man gar nicht um­hinkommt, nach alternativen Deutungsmustern zu fragen. Das tut Baudler indes nicht. Stattdessen erschließt er in vergleichenden Perspektiven strukturelle Ähnlichkeiten in den verschiedenen religiösen Traditionen; ihn interessiert weit stärker das (übergreifende) Typische als das (stets zu differenzierende) Historische.
Dieser archetypischen, religiös verwurzelten Gewalt kontras­tiert Baudler sodann »das Wirken der gewaltfreien Gottessymbolik« (Teil B), wie er sie in der von Karl Jaspers so genannten »Achsenzeit« im 1. Jt. v. Chr. zum Durchbruch gekommen sieht.33 Er geht dabei noch deutlich über Jaspers hinaus, indem er im Blick auf die neueste Monotheismus-Debatte (s. unten) sogar behauptet: »Die achsenzeitliche Wende der Menschheitsgeschichte beinhaltet insgesamt eine Hinwendung zum monotheistischen Denken und Fühlen in ethischer Akzentuierung.« (192) Baudler trägt viele Beispiele für diese These aus Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, Judentum, griechischer Literatur und Philosophie, Christentum und Islam zusammen, aber diese haben mich nicht von seiner General-These überzeugen können, dass sich »der Bereich des Ethischen« öffne, wo Menschen beginnen, »Gott ge­waltfrei zu denken« (62). Selbst Gandhi war, wie Baudler einmal feststellt, »kein Pazifist in der modernen Bedeutung des Wortes« (105). Im dritten Teil (C) geht Baudler schließlich dem Motiv der Gewaltkritik innerhalb der von ihm behandelten Religionen, schwerpunktmäßig im Christentum nach. Dabei finden sich be­denkenswerte Überlegungen zu den alttestamentlichen Gottesnamen sowie zu den unterschiedlichen Deutungen des Kreuzestodes Jesu – als Sühnopfer oder als Offenbarung der Liebe Gottes (146) – und deren Konsequenzen für die Stellung der Christen zur Gewalt.
Ob es vertretbar ist, wie Baudler meint, das Thema der Gewalt als Schlüssel der Religionsgeschichte insgesamt zu betrachten und alle Religionen unter dem archetypischen Dual von Raubtier-/ Opfer- und Mutter-/Gewaltfreiheits-Perspektiven zu betrachten, bezweifle ich. Erst recht bestreite ich den ersten Satz des Vorwortes: »Was gegenwärtig die Weltlage bestimmt, ist der Terror und der (selbst teilweise mit Terrormitteln geführte) Krieg gegen den Terror.« Wenn man so schlimme Verbrechen auszeichnet, ist man den Intentionen der Täter schon ein Stück weit aufgesessen. Gleichwohl bleibt richtig und notwendig, die religiös geprägten Ur­sprünge und Spuren der Gewalt in der Geschichte in aufklärerischer Absicht und selbstkritisch zu analysieren.
Im Unterschied zu Baudler ist das Thema bei Khoury (2003) enger gefasst: Die meisten Beiträge konzentrieren sich auf Krieg und Gewalt und sind real-, nicht mythengeschichtlich bestimmt. U. H. J. Körtner widmet sich primär den speziellen Zusammenhängen der Auffassungen Girards einerseits, dem Verhältnis von Apokalyptik und Gewalt andererseits, ohne dabei allerdings auf die gegenwärtig wieder virulenten, endzeitlichen Gewaltspekulationen beispielsweise der Dispensationalisten und verwandter Geister einzugehen, deren Gefährlichkeit man m. E. nicht unterschätzen sollte. Die Beiträge sind informativ, aber für das Bedürfnis nach hinreichenden Informationen sehr ergänzungsbedürftig. Mir ist u. a. aufgefallen, dass – außer bei Thomas Hoppe – Querverweise auf Ergebnisse und Thesen der einschlägigen Friedensforschung komplett fehlen.
Der Sammelband Schwager/Niewiadomski (2003) entstammt dem gemeinsamen Forschungsprojekt von mehreren Mitgliedern der Theologischen Fakultät der Innsbrucker Universität zum Thema »Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung«. Der Kreis hat 1996 einen Text veröffentlicht zum Thema »Dramatische Theologie als Forschungsprogramm«34, der erneut abgedruckt ist. Die Autoren sind in unterschiedlicher Weise dem Werk René Gi­rards verpflichtet, dessen Rezeption im deutschen Sprachraum stark durch Raymund Schwager gefördert worden ist. Im vor­lie­genden Band haben die Mitglieder des Kreises vier gemeinsam verantwortete, größtenteils ebenfalls schon publizierte Texte vorgelegt, ergänzt durch namentlich gezeichnete Einzelbeiträge. Insgesamt liegt also ein programmatischer Band vor, der überdies im vorletzten Teil auch Perspektiven einer Studienreform skizziert. Dazu in Kürze Stellung zu nehmen, ist indes schwierig, weil dies eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Werk Girards erfordern würde. Ein Beispiel: Wolfgang Palaver bezieht sich in seinem Beitrag »Terrorismus: Wesensmerkmale, Entstehung, Re­ligion« (217–232) an zentraler Stelle auf Girard, dessen Mimesis-, Opfer- und Sündenbockverständnis, um dann fortzufahren: »Das Problem des Terrorismus ist erst durch den Einfluß der jüdisch-christlichen Offenbarung zu erklären. Der Terroris­mus läßt sich als ein Parasit des biblischen Denkens verstehen.« (224) Das er­staunt in der Tat, wie Palaver richtig prognostiziert – was haben indische oder japanische Terroristen denn dem biblischen Denken zu verdanken? Oder die RAF? Ich fürchte, dass die Girardsche Mytheninterpretation nicht zum Verständnisschlüssel des modernen Terrorismus taugt, aber die Begründung dafür könnte, wie gesagt, nur eine kritische Girard-Lektüre entwickeln.
Den Band von Mieth/Snijdewind (2001), hervorgegangen aus einem Symposium der Stiftung Edward Schillebeeckx, liest man danach besonders gern, weil er mit den politischen Aktualitäten unmittelbar nichts zu tun hat. Vor »9/11« entstanden, thematisiert er auch nicht eigentlich das Verhältnis von Religion(en) zur Ge­walt, sondern die Autoren (nur Männer) fragen nach der Bestimmtheit, reformatorisch gesagt: nach den assertiones des Glaubens jenseits von verfehlten (und logisch wie historisch ja gar nicht plausiblen) Absolutheitsansprüchen einerseits, Selbstsäkularisierungstendenzen andererseits. Christlicher Glaube gehört zum System menschlicher Kultur, er teilt die humanen Bestrebungen in der heutigen Welt, doch es ist das Christusbekenntnis, das Be­kenntnis zur »Einzigartigkeit« Jesu Christi, das gleichzeitig dazu befähigt und verpflichtet, für die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen einzutreten. Diese Art von »Fundamentalismus« wird in verschiedenen Gestalten als Ermöglichung menschlicher Solidarität vorgestellt und damit als eine Form der Absage an alle Gewalt.
Wieder anders liegt der Akzent bei Ritter/Kügler (2006). Hier handelt es sich um eine etwas heterogene Sammlung von Vorträgen, die ursprünglich als Vorlesungsreihe »Religion am Donnerstag« der Facheinheit Religion an der Universität Bayreuth entstanden sind. Gefragt wird danach, was »Religion« zur »Begründung und Legitimation von Macht und Herrschaft« sowie zu den Triebfedern eines Widerstandes dagegen beigetragen haben mag, ge­nauer: Es geht »um die menschliche Inanspruchnahme göttlicher Macht sowohl zur Herrschaftslegitimation als auch zur Herrschaftskritik, also um die menschliche Funktionalisierung von Gott als Macht und Gegenmacht« (6). Zwar soll damit, wie versichert wird, nicht erneut eine Projektions- und Funktionalitäts­theo­rie von Religion vertreten werden, vielmehr gelte es, »den Blick für die unaufgebbare Differenz zwischen religiösen Gott-Konzepten und Gott selbst« zu schärfen (ebd.). Weder diese Differenz noch die zu unterscheidenden Begriffe von Macht, Herrschaft und Ge­walt werden dann jedoch näher geklärt, sondern jeder Beiträger folgt unabhängig davon seinem j

Von völlig anderem Format ist das vierbändige Werk von Ellens (2004).36 Es baut in gewisser Weise auf dem Fundamentalismus-Projekt der American Academy of Arts und Sciences auf,37 zeichnet sich aber vor allem durch die interdisziplinären Perspektiven aus. Die Kehrseite dessen ist, dass eine übergreifende theoretische Fragestellung, die den Zusammenhang der einzelnen Studien organisiert, fehlt, wenn ich recht sehe. So ergeben sich eine Menge thematischer Überschneidungen, wenn beispielsweise sowohl in Band 2 wie in Band 3 von Scham und Gewalt/Terror die Rede ist, wenn der Jihad in Band 1 und 3 behandelt wird und Aspekte der Überlieferungen von Jesus praktisch ebenso in jedem Band begegnen wie die Auseinandersetzung mit alttestamentlichen Motiven und Traditionen. Verschiedentlich wird auch das Konzept René Girards dis­kutiert, aber nur in Einzelbeiträgen. Zusammengehalten werden die Bände (a) durch das Interesse an der Vieldeutigkeit von destruktiven und konstruktiven Elementen beziehungsweise Potentialen in den drei sogenannten abrahamitischen Religionen und (b) durch die starke Berücksichtigung psychologischer Zugänge. Ab­schließend möchte ich mein kritisches ceterum censeo nicht unterdrücken: Auch in diesem umfangreichen Werk ist von der Beziehung der Gewalt auf das Recht oder von der Rechtsgeschichte leider nicht die Rede.
Die meisten Bücher zu Religion(en) und Gewalt konzentrieren sich auf die sog. Hochreligionen oder sogar nur auf Judentum, Christentum und Islam. In der Gegenwart ist indes die stärkste Zunahme der Anhängerschaft von Religionsgemeinschaften, je­denfalls in der südlichen Hemisphäre, bei den Pfingstkirchen (Pentecostals) zu beobachten.38 Über diese Gemeinschaften, ihre reli­giösen Praktiken und Überzeugungen, Moralvorstellungen und politischen Auffassungen, hat das Pew Research Center einen Überblick veröffentlicht (Spirit and Power 2006), der erstmals einen differenzierten Einblick ermöglicht und den Wunsch nach weiteren Recherchen auf diesem Gebiet weckt.
Abschließend verweise ich hier auf ein schon etwas älteres Werk (Wuthnow 1998), das ausgezeichnete enzyklopädische Informationen zum Thema Politik und Religion(en) bietet, und zwar anhand von kurzen Darstellungen von Ländern, Personen, Institutionen und Begriffen, oft treffend illustriert und immer mit weiterführender Literatur versehen. Erfreulicherweise stammen die ausgewiesenen Verfasser aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen.


4. Religion(en) und Terror39


Die heutige Frage nach dem Verhältnis von Religion(en) und Terror hat ihre spezifische Aktualität und Färbung natürlich durch die Verbrechen des »9/11« erhalten.40 Doch ist das Phänomen des Terrorismus viel älter,41 und wichtige neuere Arbeiten zu den religiösen Antriebskräften oder Legitimationen des modernen Terroris­mus sind schon vor den Anschlägen auf die zwei Türme des World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington vorgelegt worden. Einer der kundigsten US-Autoren auf diesem Gebiet ist Mark Juergensmeyer, Professor für Soziologie, Global Studies und Religious Studies an der Universität von Kalifornien (Santa Barbara), seit 2005 Direktor des Orfalea Center for Global and International Studies. Er hat sich nach früher Lehrtätigkeit in In­dien (1970/71) seit langem mit vergleichenden Studien zu Religion und Gesellschaft befasst, u. a. zu Gandhi publiziert und einen Schwerpunkt auf die vergleichende Analyse von Religionen unter Bedingungen der Globalisierung gelegt. Er hat früh die Herausforderungen organisierter Religionen für den säkularen Staat analysiert42 und ist weithin bekannt geworden mit dem Buch »Terror in the Mind of God« (zuerst 2000).43
Das Buch basiert auf Ge­sprächen mit Gewalt übenden oder unterstützenden religiösen Aktivisten in verschiedenen Ländern, einschließlich Leuten, die am Attentat auf das World Trade Center von 1993 beteiligt waren, mit Hamas-Führern, militanten religiös motivierten Abtreibungsklinik-Attentätern in den USA, Takeshi Nakamura, einem Mitglied der japanischen Aum-Shinrikyo-Sekte, und vielen mehr.
Juergensmeyer fragt nicht primär nach den Gewalt betreffenden Geschichten, Bildern, Geboten, Liedern oder Motiven, wie sie in religiösen Überlieferungen vorliegen, sondern ihn interessiert der »religiöse Terrorismus«. Darunter versteht er jene Gewaltakte und Täter, bei denen Religion eine wichtige Rolle hinsichtlich Motivation, Rechtfertigung, Organisation und »Weltsicht«44 der gewaltsam Handelnden spielt (28). Ausgangspunkt ist die schlichte Beobachtung, dass keineswegs Religiosität per se zu Gewalt führt, sondern nur dann, wenn bestimmte Umstände politischer, sozialer oder ideologischer Art zusammenkommen – soziale Erwartungen, persönlicher Stolz und Bewegungen, die sich für politischen Wandel einsetzen (32). Die Gesamtheit dieser Umstände bilden so etwas wie eine »Kultur der Gewalt«, eine gemeinsame Weltsicht von Menschen mit einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit, einem set von kognitiven und motivierenden Strukturen, die das Verhalten und Handeln, Denken und Fühlen steuern.45 Ein solcher Zugang drängt sich geradezu auf, wenn man sich nur klar macht, dass auf dem Boden praktisch aller organisierten Religionen sowohl Gewalt bejahende wie ablehnende Gruppen und Bewegungen entstanden sind, wie oben dargelegt worden ist. Angesichts dieses Befundes muss man fragen: Warum machen Menschen in terroristischer Absicht von religiösen Überlieferungen und ihrer Religion Ge­brauch, vor allem im Blick auf die Legitimation der von ihnen geübten Gewalt?46
Im 19. Jh. entstand in England die Bewegung des »British Israel­itism«. John Wilson behauptete in seinem Werk »Lectures on Our Israelitish Origin«, Jesus sei Arier gewesen, kein Semit, und die ausgewanderte Stämme aus dem Nordreich Israels seien in Wahrheit die Vorfahren der blauäugigen Arier im England der Gegenwart. Die Juden seien Abkömmlinge einer sexuellen Beziehung zwischen Eva und Satan oder auch Außerirdische, die, teilweise mit Hilfe der Freimaurer, die Weltherrschaft anstrebten. 47 Dieser »British Israel­itism« kam Anfang des 20. Jh.s in die USA und fand u. a. Unterstützung bei dem Automobilpionier Henry Ford. Das ist nicht neu. Neu war mir, dass diese Auffassungen auf dem Wege über den Ku-Klux-Klan, die Christian Defense League, die neonazistische Gruppe Aryan Nations und andere bis heute besonders im Mittleren Westen und Nordwesten der USA über eine erhebliche Anhängerschaft verfügen (siehe auch Grumke, 2001). Einer dieser Gruppen stand auch Timothy McVeigh nahe, der 1995 den verheerenden Anschlag auf das Gebäude der Bundesbehörden in Oklahoma City verübte, und ähnliche Überzeugungen findet man etwa bei Abtreibungsgegnern, die Anschläge auf Arztpraxen verüben.
Bei diesen Tätern und ihren Sympathisanten handelt es sich durchweg um Gruppen, nicht um Einzelne. Sie teilen oft eine bi­zarre Weltsicht, derzufolge ein (verborgener) kosmischer Kampf zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts tobt. Kamp­hausen (2006) hat dies näher anhand des »prämillenialistischen Dispensationalismus« belegt, der auf den aus Irland stammenden Theologen John Nelson Darby (1800–1880) zurückgeht.48 Unter Dis­pensationalismus versteht man eine Einteilung der gesamten Geschichte in sieben Zeitalter oder Epochen, bei der für die Endzeit vor allem Israel und Jerusalem ganz spezielle, aber extrem unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden. So sehen manche in Israel ein endzeitliches Bollwerk gegen das Vordringen des Islam, während andere dazu auffordern, endlich den Bau des dritten Tempels in Jerusalem in Angriff zu nehmen, und sich nicht scheuen, Pläne für eine Sprengung des Felsendomes zu schmieden. In anderen Konzepten gehört zur Endzeit der Antichrist, der aus Europa stammt, die Macht der EU festigen soll und »falschen Frieden« in Nahost schafft, indem er zwischen Israel und den islamischen Län­-dern einen Ausgleich herbeiführt. Genug davon – Juergensmeyer und andere 49 haben diese Bewegungen sorgfältig untersucht, und man kann nicht mehr sagen, davon nichts gewusst zu haben. Be­sonders gefährlich ist vermutlich die von Juergensmeyer und anderen dokumentierte Verbindung zwischen US-amerikanischen Fundamentalisten und israelischen Radikalen, die hinter dem Mord an Yitzhak Rabin im November 1995 standen und aus deren Kreisen auch der in New York aufgewachsene Baruch Goldstein stammt, der am 25. Februar 1994 ein Massaker unter Arabern an den Patriarchengräbern von Hebron anrichtete.
Die Besonderheit von Juergensmeyers Buch besteht darin, dass er über Jahre hinweg viele Gespräche mit Männern geführt hat, die an terroristischen Anschlägen maßgeblich beteiligt waren oder diese rechtfertigen.50 So gelingt es ihm, gleichsam die Innensicht des modernen Terrorismus exemplarisch zu beleuchten. Ob es eine »Logik« religiöser Gewalt gibt, wie der zweite Teil überschrieben ist, ist mir zweifelhaft, aber es gibt zentrale Ursachen, Motive und Zielsetzungen. Dazu gehört die häufig wiederkehrende Überzeugung, legitime Gegengewalt zu üben – sei es gegen eine Besatzungsmacht, sei es gegen Staatsterrorismus, sei es gegen endzeitliche, säkulare Mächte, die für den allgemeinen Sittenverfall verantwortlich sind. Nirgends begegnet in diesen Vorstellungen der Gedanke, dass ein weltlicher Rechtsstaat eine Wohltat für das Zusammenleben, ja, wie die christlichen Kirchen lehren, eine ordinatio Dei (Röm 13,1) sein könnte. So verstehen die Täter sich durchweg als religiöse Soldaten in einem Krieg gegen eine ungläubige Staatsgewalt und den Staatsterrorismus. Dazu passt, dass die Anschläge in der Anlage, in der Wahl des Zeitpunktes und des Ortes der Tat so geplant werden, dass größtmögliche, medial vermittelte Publizität erreicht und die Schock-Wirkung von Symbolen genau kalkuliert wird, dass das eigene Tun in ein apokalyptisches Szenarium eingezeichnet wird 51 und dass in alldem der Feind dämonisiert und die eigene Gruppe als machtvoll erfahren wird.
Was unterscheidet den religiös legitimierten Terrorismus von anderen, älteren Gestalten des Terrorismus? Juergensmeyer meint: der »Absolutismus der Religion« (297), näherhin denkt er an die extrem radikale Disposition marginaler, abgespaltener, dem kulturellen Mainstream gegenüber elitären Apostaten. Drei gemeinsame Merkmale der Gruppen, die einer Kultur der Gewalt angehören, stellt er, unabhängig von der jeweiligen Religion, heraus: die Kompromisslosigkeit der Lebensführung, die Ablehnung liberaler, säkularer Überzeugungen und Werte, den Rückgang auf archaische Elemente der jeweiligen Religion, die noch nicht durch das Eingehen auf moderne Erfordernisse verwässert sind (304 f.). Das deckt sich teilweise mit den Ergebnissen von Hall u. a. (2000) und Larsson (2004). Während das erste der beiden Bücher weitere Beispiele »apokalyptischer« religiös motivierter Gruppen beschreibt (u. a. das der Sonnentempler, die sich 1994 in der Nähe von Freiburg in der Schweiz kollektiv umbrachten), versucht Larsson quasi die streng akademische, methodenbewusste Parallele zu dem eher journalistisch abgefassten Buch von Juergensmeyer zu markieren. Dabei empfinde ich freilich die Durchführung als etwas eklektisch und wenig zwingend. So präsentiert Larsson instruktive Beispiele religiös motivierter Gewalt, aber das Arrangement erscheint etwas willkürlich. Sodann ist er sehr um klare Begriffsbildungen und Definitionen bemüht, aber die Notwendigkeit des Rekurses auf den Westfälischen Frieden im Zusammenhang einer Klärung des Verständnisses von »historical causation« ist mir verborgen geblieben. Auf der anderen Seite stand am Beginn der Untersuchungen die Auseinandersetzung mit Gandhis Position, und davon übernimmt Larsson wichtige Elemente in das Schlusskapitel (A framework for conflict transformation). Die von Gandhi gewonnenen zehn Kriterien für eine konstruktive, gewaltfreie Konfliktlösung (136) sind nach wie vor höchst plausibel, freilich nicht hinreichend, weil allein auf der Ebene von Handlungen und nicht gleichzeitig auch von Institutionen angesetzt.


5. Bibel und Gewalt52


Jan Assmann hat mit seinen Überlegungen und Thesen zur von ihm so genannten »mosaischen Unterscheidung« eine breite De­batte ausgelöst. Er versteht darunter »nicht die Unterscheidung zwischen dem Einen Gott und den vielen Göttern ..., sondern die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion, zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, der wahren Lehre und den Irrlehren, zwischen Wissen und Unwissenheit, Glaube und Unglaube« (Assmann 2003, 12 f.). Er hat ferner später präzisiert, dass ihn nicht die Frage interessiere, warum der Monotheismus so gewaltsam durchgesetzt wurde, sondern das Problem, warum die Durchsetzung des Monotheismus »in der Sprache der Gewalt dargestellt und erinnert wurde« (Assmann in Walter 2005, 19). Die mo­saische Unterscheidung nennt Assmann auch gelegentlich eine »regulative Idee« (Assmann 2003, 13) und versichert, dass es ihm nicht um eine historische, religionsgeschichtliche Verortung geht, sondern um einen »Bruch«, eine »Konversion«, die zentrale Funktion der Unterscheidung wahr/falsch bezüglich der Religion und sodann aller Erkenntnis und Moral. Er parallelisiert die mosaische Unterscheidung mit der von ihm so genannten »Parmenideischen Unterscheidung«, auf Grund derer der »Denkzwang des Satzes vom Widerspruch« in die Welt gekommen sei und das Denken und Verhalten beherrsche. Assmann behauptet nicht, der Monotheismus habe Gewalt und Blutvergießen in eine friedliche, polytheistische Welt gebracht; aber ihn interessiert, warum Bilder der Gewalt eine so große Bedeutung für die Anhänger des »exklusiven Monothe­ismus« 53 gehabt haben.
Ich will auf die von Assmann ausgelösten Diskussionen hier nicht näher eingehen,54 sondern nur darauf hinweisen, dass ihn anscheinend die Tatsache des unterschiedlichen Bibelgebrauches in allen Epochen des Umganges mit den heiligen Schriften der Juden und Christen nicht sonderlich zu interessieren scheint. Was er »Gedächtnisgeschichte« nennt, ist m. E. gerade nicht der unabschließbare Prozess der strittigen Vergegenwärtigung von Texten und ihrer Bedeutungen, ihres mehrfachen »Sinnes«. Assmann lenkt den Blick auf die Ebene der Semantik und Symbolik, aber er fragt nicht in gleicher Weise nach den sozialen Zusammenhängen, in­nerhalb derer die Texte mitsamt ihrer Gewaltsprache und -symbolik ihre unterschiedlichen, ja strittigen Bedeutungen in ge­schicht­lichem Wandel gewonnen haben und gewinnen. 55
Einen ganz anderen, eigenständigen Zugang zu diesen Fragen bahnen Dietrich/Mayordomo (2005). Das Buch ist hervorgegangen aus einem theologischen Seminar an der Universität Bern und versteht sich explizit als ein Beitrag zur ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt. Es ist ein Gemeinschaftswerk, in dem die Arbeit der Studierenden erkennbar ist (die Namensabkürzungen der Beteiligten: 268) und das dazu einlädt, als Studien- und Werkbuch benutzt zu werden. Dass die Assmann-Kontroverse kaum vorkommt, hat einen klaren Grund. In der Hinführung le­gen die Autoren die hermeneutischen Grundsätze offen, denen sie verpflichtet sind, und die sind charakteristisch anderer Art: Sie verstehen die Bibel als eine »Bibliothek« von sehr unterschiedlichen Werken, die in einem sehr langen Zeitraum entstanden, ausgelegt, kanonisiert und kritisiert worden sind. Die biblischen Texte und ihre Überlieferer stehen im Dialog mit dem, was ihnen vorausging und was neben ihnen war, sie repräsentieren vergangene, immer wieder vergegenwärtigte »Lebensrealitäten«, kurz: »Die Bibel ist kein Dekret, das Gehorsam verlangt, sondern sie dokumentiert ein Gespräch und lädt ein zu Zuhören und zu Mitreden.« (24) Die Verfasser gehen nicht von einer oder wenigen zentralen Konzeptionen aus, sondern versuchen, »die alt- und die neutestamentlichen Stimmen nacheinander, miteinander, nebeneinander zu hören und sie als ein großes Gespräch über diverse Zeit-, Sprach-, Denk- und Kulturgrenzen hinweg zu verstehen.« (25) Die Bibel wird als ein Kommunikationsstrom verstanden, in dem die heute Lesenden, Hörenden und Redenden ihre unverwechselbare Tradenten-Rolle einnehmen. Dieser, wenn man so will: auf reale kommunikative Prozesse bezogene Ansatz erlaubt auch, nach einem heute besonders vernehmlichen »Grundton der Bibel« zu fragen, und dies ist für die Autorinnen und Autoren »in eher zu- als abnehmendem Maß der Ton der Gewaltüberwindung, nicht der Gewaltverherr­lichung«. Ob dieser »Grundton« gleichsam als eine kanonische Quint­essenz zu verstehen ist oder nicht besser als die bewusste, selbständige Antwort derer, die heute das biblische Zeugnis vernehmen und auslegen, lasse ich gern offen.
Das Buch hat drei Hauptteile: In einem ersten wird die »Realität der Gewalt in der Bibel« thematisch gegliedert beschrieben, und zwar nicht nur auf der Ebene der Semantik und Symbolik, sondern, soweit möglich, mittels einer sozialen Kontextualisierung der Texte. Ich finde es gut, dass nicht gleich Krieg und Kriegsgeschrei die Szene beherrschen, sondern mit »Gewalt im Nahbereich« be­gonnen wird und mittels Differenzen und Analogien mögliche Korrespondenzen zwischen alttestamentlicher Zeit und heutigen Erfahrungen herausgearbeitet werden. Ähnlich wird auch in den übrigen Abschnitten verfahren. Zentral ist natürlich der Abschnitt über »Gewalt zwischen Religionen« (65 ff.). Hier wird ein wichtiger Aspekt herausgestellt, der in der Assmann-Debatte meines Wissens bisher nicht vorkam, nämlich die Tatsache, dass nirgendwo im Alten Testament davon die Rede ist, »Nicht-Israeliten die israelitisch-jüdische Religion aufzuzwingen« (66). Das Judentum kannte und kennt keine Zwangsmissionierung. Umgekehrt reagierte Is­rael anscheinend mit heftiger Abwehr auf jeden religiösen Zwang; jedenfalls ordnen die Autorinnen und Autoren die Kultreform unter Joschija und die Polemiken gegen fremde Götterbilder hier ein. Doch diese Gewaltsemantik wird bezogen auf die religiös-politische Situation der Unterdrückung und erhält damit eine nicht zeitlose, sondern eine geschichtliche Funktion zugeschrieben. Gleichzeitig wird nicht verschwiegen, dass die Parolen des militanten Monotheismus auch Ausdruck religiöser (und doch wohl auch: politischer) Intoleranz waren. Dass sich hier Ambivalenzen und Probleme auftun, wird nicht bagatellisiert, sondern betont, dass es gelte, »gleichsam mit der Bibel gegen die Bibel anzulesen« (72). Ge­nau dies meinte ich oben mit dem Hinweis darauf, dass, wer heute in der Bibel liest, seine eigene Antwort finden muss und kann.
In zwei weiteren Teilen werden dann die »Gegenbilder zur Ge­walt in der Bibel« sowie »Wege zur Überwindung der Gewalt in der Bibel« beschrieben. Es ist offensichtlich, dass die Autorinnen und Autoren damit einen entscheidenden Schritt zu einem gesamtbiblischen Verständnis machen, der sonst in den Debatten über Gewalt und Religion(en) oft unterbleibt. Man kann nicht sagen, dass dabei Unvereinbares und Widersprüchliches harmonisiert werde. Die Darstellung fragt vor allem danach, wie bestehende oder drohende Gewalt und Gewalterfahrung »verarbeitet« wird. Ein schönes Beispiel ist der Abschnitt zur Offenbarung des Johannes: Hier werden die Bilder beschrieben, die historische Situation rekonstruiert, und dann wird die kommunikative Funktion des Textes in den Blick genommen, indem gefragt wird, welche »Lesestrategie und Leserlenkung« die Tradenten des biblischen Zeugnisses intendiert haben mögen (180). Freilich: An dieser und ähnlichen Stellen hätte ich mir auch noch eine Blickwendung auf die Aus­ legungs- und Wirkungsgeschichte derartiger Texte und Bilder gewünscht. Es ist ja nicht zu bestreiten, dass in Gruppen, die Ge­waltanwendung religiös rechtfertigen und verbrämen, gerade die endzeitlichen Überlieferungen der Bibel hoch im Kurs standen und stehen, insbesondere dualistische Konzeptionen einer Heils- und vor allem Unheilsgeschichte, die es den Anhängern dieser »Weltsicht« gestatten, brutale Praktiken gegen anders Denkende und Lebende zu üben.
Dass das Buch schließlich auch »praktische Ausblicke« in Gestalt von Vorschlägen zu einer Gottesdienstgestaltung, zu jedem Ab­schnitt eine gute Literaturauswahl sowie ein Bibelstellenregister enthält, macht es zu einer hervorragenden Arbeitsgrundlage für alle, die sich an der Dekade zur Gewaltüberwindung nicht mit moralisierenden Forderungen, sondern in der Form theologischer Klärungen beteiligen wollen.
Zur Ergänzung kann man gut die schon erwähnten Beiträge von Rendtorff und Zenger (aus der Assmann-Debatte) heranziehen sowie den Aufsatz von Albert de Pury (in Lermen/Rüther 2004), der eine vergleichbare kommunikative Kontextualisierung nicht nur für biblische Texte, sondern auch für Koran-Verse versucht. Im Blick auf die Bedeutung apokalyptischer Gewaltvorstellungen heute verweise ich auf den in Abschnitt 4 schon erwähnten Beitrag von Kamphausen (2006).


6. Beispiele der Gewaltüberwindung56


Für diesen letzten Abschnitt habe ich mit Absicht ganz unterschiedliche Titel zusammengestellt. Die Auswahl war durchaus zufällig, nämlich durch eintreffende Kataloge veranlasst. Meine Leitfrage war: Wie steht es mit Traditionen der Gewaltverneinung, der Gewaltfreiheit und der gewaltlosen Konfliktlösung außerhalb des Christentums?
Ich war lange der Meinung, dass dem Islam die Traditionen der Gewaltfreiheit fremd seien, vielleicht abgesehen von den mystischen Überlieferungen. Dass ich damit einem verbreiteten Vorurteil aufgesessen war, hat mir definitiv das Buch von Abu-Nimer gezeigt.57 In seinem ersten Teil entwickelt er einen theoretischen Bezugsrahmen, der die islamischen Vorstellungen zu »peace build­ing and nonviolence« charakterisiert. Dabei zeigt er, dass auch der Islam grundsätzlich die Lehren von einem rechtmäßigen Krieg (just war) vertritt und dabei zwischen dem Gewalteinsatz zu ag­gressiven und defensiven Zwecken unterscheidet.58 Ein grundsätzlicher, unbedingter Pazifismus jedoch sei mit dem Islam unvereinbar.59 Auf der anderen Seite zeigt sich Abu-Nimer überzeugt, dass der Islam sehr wohl vereinbar ist mit gewaltfreien Strategien von der Art, wie sie ziemlich radikale Pazifisten christlicher Prägung wie Gene Sharp oder sogar John Howard Yoder vertreten haben (36). Wenn ich recht sehe, gibt es aber wenigstens eine grundlegende Differenz, die für Muslime keine besondere Rolle zu spielen scheint, nämlich die auf die Aufklärung und speziell Kant zurück­gehende Unterscheidung von Recht und Moral. Das muss dann auch die Möglichkeiten einer Bejahung eines rein säkularen, religionsneutralen Staates begrenzen. Davon abgesehen geht Abu-Nimer in der positiven Würdigung der Gewaltfreiheit erstaunlich weit.60
Teil 2 präsentiert drei Fallstudien aus dem muslimisch-arabischen Kontext. Man ist natürlich überrascht, wenn dabei in einem Kapitel die palästinensische Intifada von 1987 bis 1992 als Beispiel eines »possible political use of nonviolence in a Muslim community context« dargestellt wird. Der springende Punkt ist, dass Abu-Nimer, der mit Intifada-Aktivisten Kontakt gehabt hat, strikt zwischen den (ursprünglichen) gewaltfreien Aktionsformen und Ge­walthandlungen unterscheidet, die als Reaktion auf israelische Angriffe dargestellt werden. Ziel ist, die gewaltfreien Elemente der Intifada freizulegen, und dabei wird erneut herausgestellt, dass damit keine unbedingte, uneingeschränkte Gewaltlosigkeit ge­meint sein kann (139). Dies führt konsequent auf die Erörterung der »question of stones«, des Steinewerfens gegen die Israeli, und damit auf die »ambiguity of violence in the Intifada« (141 ff.), wobei Gewaltsamkeiten auf Seiten der Palästinenser ausdrücklich behandelt und zwei Grenzlinien markiert werden: die Ablehnung des Gebrauchs von Molotow-Cocktails einerseits, »the punishment of collaborators« andererseits (146). Folgerichtig wäre danach heute eine strikte Ablehnung von Selbstmordattentaten im Kontext der zweiten Intifada.
Das Buch ist sorgfältig gearbeitet, setzt sich intensiv mit der einschlägigen Literatur zu gewaltfreien Friedensstrategien auseinander und zeigt, dass es im Blick auf »peace building« große Übereinstimmungen zwischen Muslimen und Vertretern anderer Religionen geben kann. Die lange Reihe von weiteren muslimischen Autoren, auf die sich Abu-Nimer berufen kann, zeigt, dass er keineswegs ein weißer Rabe oder Rufer in der Wüste ist. Ich fragte mich nach der Lektüre einigermaßen ratlos, warum in aller Welt die arabischen Palästinenser heute nicht umfassend und ausdrück­ lich von Strategien der Gewaltfreiheit Gebrauch machen – dies würde die Israeli in einen großen Legitimationsnotstand versetzen oder sie zwingen, die Repressionspolitik gegenüber den Arabern von Grund auf zu ändern.
In zwei Büchern spielt die Gandhi-Tradition eine große Rolle (Ardley 2002 und Heuser 2003). Die Darstellung von Ardley geht auf ihre PhD-Arbeit an der Universität von Keele (United Kingdom) zurück, das Buch von Heuser ist eine Heidelberger theologische Dissertation bei Theo Sundermeier. In beiden Fällen kann ich die fachliche Qualität nicht wirklich beurteilen, weil mir die Vertrautheit mit Tibetologie und Indologie sowie mit den afrikanischen unabhängigen Kirchen fehlt. Fasziniert hat mich in beiden Fällen, dass und wie den auf Gandhi zurückgehenden Wurzeln der Ge­waltfreiheit nachgespürt und gezeigt wird, wie diese Quellen auch weiterhin einen kreativ-gewaltlosen Umgang mit schweren Konflikten befruchten können. Ardley zeichnet zunächst in drei Ab­schnitten die Entwicklung Tibets seit der chinesischen Invasion nach, um dann in Grundzügen das Denken und Verhalten Gandhis zu skizzieren. Erst danach wendet sie sich der differenzierten Gandhi-Rezeption bei Tibetern zu und charakterisiert besonders die »middle way position« des Dalai Lama und deren Scheitern; anschließend wendet sie sich Samdhong Rinpoche zu, dem Premierminister der tibetischen Exilregierung und Vertreter einer konsequenten Politik der Gewaltfreiheit. Danach folgen zwei Ab­schnitte zur indischen Geschichte und Politik, um danach nach möglichen »lessons« für Tibet zu fragen. Dieser auf den ersten Blick nicht selbstverständliche Aufbau ist sinnvoll, weil Ardley Strategien der Gewaltfreiheit in Indien und Tibet in vergleichender Perspektive betrachtet. Ihre Schlussfolgerungen kann ich nicht beurteilen, weil ich mit den aktuellen politischen Problemen Tibets nicht hinreichend vertraut bin.61
Die afrikanischen unabhängigen Kirchen (AUK) sind ein faszinierendes Phänomen. Wer je im südlichen Afrika sonntags über Land gefahren ist, hat sie gesehen, wie sie unter freiem Himmel Gottesdienst feiern. Andere treffen sich in Kirchen oder kommunalen Häusern. In jedem Fall sind diese Kirchen »schwarz« – sie haben oft eine Vorgeschichte in Missionsgründungen, aber sie haben sich als eigenständige Gestalten afrikanischen Christentums entwi­ckelt. Ich erinnere mich an eine AUK in Südafrika, die sich selbst in einer Broschüre mit dem Titel »We Speak for Ourself« vorstellte.
Isaiah Shembe (ca. 1870–1935) ist eine der bedeutendsten prophetischen Gestalten dieser Kirchen. Dessen Lebensweg in der heutigen Provinz Kwa Zulu/Natal zeichnet Heuser nach und stellt dabei besonders die Nähe und die Berührungspunkte zur Gandhi-Bewegung heraus. Gandhi selbst hat lange Zeit auf die afrikanische Kultur hinuntergeblickt, bevor er auch zu einfacheren, nicht europäisch geschulten Afrikanern Kontakt aufnahm. Die Shembe-Überlieferung zu rekonstruieren, ist angesichts der Quellenlage sehr schwierig; Heuser ist dies vorzüglich gelungen; er hat viele in der Zulu-Sprache abgefasste Dokumente erschlossen und übersetzt 62 und stellt sie in den damaligen zeitgeschichtlichen Kontext. Da­durch wird dieses Bild so facettenreich, dass es sich der Reduktion auf einige wenige Linien entzieht. Zudem ist der Reichtum der berücksichtigten Quellen überwältigend. Heuser hat nicht nur die vorhandene Literatur zu Shembe breit ausgewertet, sondern erstmalig auch regionale, zeitgenössische Medien in Zulu und anderen lokalen Sprachen herangezogen und eigene Feldstudien mit Er­schließung oraler Traditionen betrieben. Das Ergebnis ist eine erstaunlich genaue Beschreibung, die einen verleitet, immer wie der an Details hängen zu bleiben. Im Blick auf die Leitfrage nach Religion(en) und Gewalt(losigkeit) zeigt dieses Buch die Frucht­barkeit der detailgenauen historischen Wahrnehmung. Freilich sind genau damit auch die Grenzen möglicher verallgemeinernder Schlüsse gesteckt.
Abschließend muss ich mich hier mit sehr kurzen Hinweisen begnügen, die den anzuzeigenden Büchern eigentlich nicht ge­recht werden. Eckert (2004) ist eine ethnologische Untersuchung zu hindunationalistischen Gruppen in Mumbai (Bombay), die vor allem in Gestalt von bewusst gewalttätig agierenden Nachbarschaftsvereinen soziale Machtbeziehungen und Gruppenkohäsion aufbauen. Im Zentrum steht die militante Gruppe Shiv Sena, jene Partei, die Mumbai (das sie so zu nennen durchsetzte) regiert und gleichzeitig für die Demokratie tiefe Verachtung zum Ausdruck bringt. Militante Feindschaft hält die Bewegung anscheinend zu­sammen, inszenierte Konflikte sind ihr Lebenselixier. (Mein Eindruck ist, dass man ähnliche Beobachtungen bei der Analyse der sozialen Beziehungen innerhalb von Favelas in Brasilien machen kann.) Näherhin untersucht die Studie die Verankerung der Partei im »einfachen« Volk, die Dynamiken ihrer Machtbildung und -ausübung, vor allem die Funktion von immer wieder errichteten Feindbildern (Antikommunismus, niedere Kasten, andere Religionen), die zur Mobilisierung und Konfliktverschärfung dienen. So wird »Gewalt als Ideologie und Methode« (106 ff.) forciert, um durch permanente Kontrastierung von Freund/Feind-Polaritäten die Vitalität der eigenen Bewegung zu regenerieren. Als Europäer kann man nur staunen angesichts des Ausmaßes, in dem gewalttätige Aktion als Element und Form politischer Prozesse funktioniert. Konsequenzen und Perspektiven entziehen sich meiner Vorstellungskraft. Doch auch dies gehört zu einer Momentaufnahme des Verhältnisses von Religion(en) und Gewalt.
Keine Momentaufnahme, sondern eine Sammlung historischer Einzelstudien stellt Houben/van Kooij (1999) dar. Die indologischen Beiträger gehören größtenteils dem niederländischen Kern Institut, dem Department of Languages and Cultures of South and Central Asia in Leiden/Niederlande an. Der rote Faden des Buches ist die Frage nach der »Rationalisierung« von Gewalt, nicht nach Ge­walt im Allgemeinen. Die einzelnen Beiträge kombinieren Überblicke mit paradigmatischen Fallanalysen. Sie eignen sich von da­her in unterschiedlicher Weise für vergleichende Betrachtungen. Diesbezüglich hebe ich hier nur zwei Beiträge hervor: Den von Lambert L. Schmithausen über »Aspects of the Buddhist attitude towards war« 63 und von Robert J. Zydenbos über »Jainism as the religion of non-violence«. Letzterer ist vor allem deshalb lesenswert, weil er zeigt, dass der Jainismus unter seinen eigenen kulturellen Prämissen in erster und letzter Linie darauf zielt, von allen Bindungen an die irdisch-physische Welt frei zu werden, aber nicht als eine politisch-sittliche Anstrengung zur Minderung oder Überwindung von Gewalt verstanden werden kann.
Ich beende diesen Bericht mit einem Hinweis auf ein dezidiert friedensethisches Buch. Jonathan Schell ist meiner Generation be­kannt geworden mit dem Buch »Das Schicksal der Erde« (zuerst 1982), welches eine große Bedeutung für die Anfänge der »grünen«, ökologischen Bewegung hatte. Das neue Buch entwirft eine friedenspolitische Alternative zum klassischen Denken in Kategorien staatlicher Souveränität, machtpolitischen Gleichgewichts und unilateraler In­teressendurchsetzung. Es gliedert sich in vier große Teile: 1. Gewalt (das heutige »Kriegssystem«, seine Genese und Logik), 2. Gewaltfreiheit (das Erbe der pazifistischen Traditionen), 3. Der bürgerliche Staat, 4. Die Umrisse kommender Verhältnisse. Der letzte Ab­schnitt (»Ein demokratischer Bund«, 380–383) erneuert die Kantische Friedenskonzeption, nämlich die Idee eines Friedensbundes von (freiheitlichen rechtsstaatlichen) Republiken, die auf friedliche Weise sich nach und nach immer weiter ausbreiten. Zu dieser Idee eines Föderalismus freier Staaten von freien Bürgern gibt es nach Schell auch deshalb keine Alternative, weil »die Welt nicht zu er­obern ist« – von keinem Staat, auch von keiner Supermacht. 64 Also bedarf es einer globalen Völkerrechtsordnung nach allgemein an­erkannten oder wenigstens anerkennbaren Prinzipien.

Fussnoten:

1) Siehe dazu die website http://overcomingviolence.org.
2) Am Anfang stand der Beschluss des Central Committee des World Council of Churches anlässlich seiner Tagung im Januar 1994 in Johannesburg, Südafrika, ein solches Programm zu planen »with the purpose of challenging and transforming the global culture of violence in the direction of a culture of just peace«: Programme to Overcome Violence. An Introduction, Genf: WCC o. J. (1995), 5; ebd. auch die ersten Programm-Richtlinien vom Juni 1994: 94–98.
3) Heitmeyer, Wilhelm, u. John Hagan [Hrsg.]: Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag (Wiesbaden: VS Verlag) 2002. 1583 S. m. 54 Abb. u. 32 Tab. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-531-13500-7; Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Gewalt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004; Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch (Hrsg.), Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag 2005; Peter Imbusch, Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag 2005; Alfred Hirsch, Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes, München: Fink 2004; Liebsch, Burkhard, u. Dagmar Mensink [Hrsg.]: Gewalt Verstehen. Berlin: Akademie Verlag 2003. 345 S. gr.8°. Geb. EUR 49,80. ISBN 3-05-003854-3; Hans-Dieter Schwind/Jürgen Baumann u. a. (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommis- sion), 4 Bde., Berlin: Duncker & Humblot 1990; Trutz von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990 (3. Aufl. 1998). 278 S. kl.8° = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 868. Kart. EUR 12,50. ISBN 3-518-28468-1; Was ist Gewalt? Auseinandersetzungen mit einem Begriff, Bd. 1, hrsg. vom Bundeskriminalamt, Wiesbaden: Bundeskriminalamt 1986.
Zeitschriften: International Journal of Conflict and Violence (seit 2006; löst das Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, 1999–2005, ab)
Reihen: Friedensgutachten, Münster: LIT; Jahrbuch Extremismus und Demokratie, Baden-Baden: Nomos; Konflikt und Gewalt, München: Juventa; Kultur und Konflikt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Internet: Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld (www.uni-bielefeld.de/ikg); Hamburger Institut für Sozialforschung, Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt (www.his-online.de).
4) Ich plädiere für einen engen Gewaltbegriff mit den folgenden Merkmalen: Bei Gewalt handelt es sich 1. um eine physisch zwingende Kraft, die entweder 2. gegen Sachen oder 3. gegen das Leben, den Willen, die Würde und die Freiheit und damit gegen die Integrität eines Menschen (oder einer Gruppe von Menschen oder eines Lebewesens überhaupt) gerichtet ist. Unter Menschen ist Gewalt näherhin 4. das Vermögen, andere Menschen gegen deren Willen durch Androhung oder Anwendung physischen Zwanges einzuschüchtern, zu einem bestimmten Verhalten, Handeln oder Unterlassen zu veranlassen, sie zu schädigen, zu verletzen oder zu töten. Unverzichtbar und zugleich – wenigstens in Grenzfällen – schwer zu bewähren ist 5. die Unterscheidung von rechtmäßiger und rechtswidriger Gewalt.
Der Kern dieses Gewaltbegriffs ist der physisch wirksame Zwang gegen das Leben und den Willen einer ursprünglich freien Person (oder, in einer ersten Ausweitung, gegen ein anderes rechtlich geschütztes Lebewesen). Damit müssen, wenn es um die sittliche oder rechtliche Beurteilung von Gewalt geht, drei weitergehende Behauptungen verbunden werden:
– Gewalt liegt vor, wenn Handlungen/Unterlassungen/Verhaltensweisen der­art beschaffen sind, dass einem handelnden/unterlassenden Menschen die Wirkung eines (symbolisch oder psychisch vermittelten) physischen Zwanges gegen andere Menschen oder Lebewesen zugerechnet werden kann (Verantwortlichkeit).
– Gewalt ist darin problematisch, dass sie in sittliche und rechtliche Verhältnisse absichtlich eingreift (Vorsatz/Absicht).
– Physische Zwangsgewalt kann im Verhältnis zu einer gegebenen Ordnung nur rechtmäßig oder widerrechtlich sein (Un/Rechtmäßigkeit).
Dieser enge Gewaltbegriff impliziert, dass es darüber hinaus unsagbar viele Formen von Missachtung, Herabsetzung, Marginalisierung und Ausschließung, von Macht, Herrschaft, Einfluss und Autorität, von Verführung, Verblendung, Täuschung und Lüge, von Ungleichheit, Benachteiligung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit gibt (um nur vier mir besonders wichtig erscheinende Gruppen von Strukturen, Handlungen/Unterlassungen und Verhalten zu nennen), und er schließt ausdrücklich ein, dass nach (individuellen, kollektiven und institutionellen) Ursachen, Motiven, Formen, Zwecken und Rechtfertigungen von Gewalt gefragt werden kann und muss. Ich denke aber, dass dies alles besser nicht ebenfalls als Gewalt bezeichnet werden sollte, sondern begrifflich abgehoben werden kann. Siehe meinen Beitrag: Kritik der Gewalt. Unterscheidungen und Klärungen, in: Walter Dietrich/Wolfgang Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen, Stuttgart: Kohlhammer 2004, 10–30. Zur neueren Diskussion über die Probleme einer angemessenen Begriffsbildung siehe auch Friedhelm Neidhart, Gewalt. Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs, in: Was ist Gewalt? (1986), 109–147; ders., Gewalt, Gewaltdiskussion, Gewaltforschung, in: Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge 7: Gesellschaftliche Entwicklung, wissenschaftliche Verantwortung und Gewalt, Bielefeld: Universität Bielefeld 1997, 19–28.
5) Wichtige Ergänzungen ließen sich in Franz Rosenzweigs Überlegungen zum Hören und Sprechen im »Stern der Erlösung« finden.
6) Die Verfasserin hat 2006 ein lesenswertes Buch vorgelegt: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a. M.: Campus.
7) Er ist erstmals schon 1985 im Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel »Wort und Dienst« erschienen.
8) Krieg und Werte, Weilerswist: Velbrück 2000.
9) Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1996 (32003).
10) »Zunächst einmal geht es darum, sich von der Vorstellung zu verabschieden, die eigene religiöse Ordnung bzw. der eigene religiöse Diskurs könne je gewaltfrei sein« (212).
11) Aber warum »Logik«? Grünys Rede von einer »Logik« der Folter hat mich überhaupt nicht überzeugt; wird damit nicht wieder einmal eine Zwangsläufigkeit der Ursachen und Abläufe unterstellt, welcher durchaus mit Erfahrungsgründen widersprochen werden kann? Grüny geht zwar sehr differenziert auf zahlreiche Literatur zur Folter ein, berücksichtigt jedoch die von Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 35, 1996, 67–97, angestoßene neuere Debatte in Deutschland ebenso wenig wie die Kritik an der Folter in den USA, wie sie beispielsweise von der American Civil Liberties Union (ACLU) artikuliert wird; siehe www.aclu.org/safefree/torture/index-html (4.3.2007).
12) Christoph Butterwegge/Georg Lohmann (Hrsg.), Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt. Analysen und Argumente, Opladen: Leske + Budrich 2000; Mallmann, Klaus-Michael, u. Gerhard Paul [Hrsg.]: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. IX, 282 S. 8° = Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, 2. Geb. EUR 39,90. ISBN 3-534-16654-X; Sutterlüty, Ferdinand: Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. 2., durchgesehene Aufl., Frankfurt-New York: Campus Verlag 2003. 381 S. 8° = Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, 2. Kart. EUR 24,90. ISBN 3-593-37081-6.
Zeitschrift im Blick auf Nazitäter: Holocaust and Genocide Studies (HGS), Oxford: University Press 1986 ff.; Zeitschrift im Blick auf Jugendkriminalität: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ), hrsg. von der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V., Hannover, 1989 ff.
Schriftenreihe: DVJJ-Schriftenreihe, Bonn: Forum Verlag (hier auch die Dokumentationen des Deutschen Jugendgerichtstages).
Forschungsstätten: Fritz Bauer Institut. Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt a. M.: www.fritz-bauer-institut.de; Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart: www.uni-stuttgart.de/hing/; weitere Links: www.remember.org.
13) Daniel Jonah Goldhagen veröffentlichte 1996 sein Buch: Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York: Knopf (deutsch: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Aus dem Amerikanischen übers. von Klaus Kochmann, Berlin: Siedler 1996). Zu den damaligen heftigen Auseinandersetzungen siehe knapp Michael Schneider, Die »Goldhagen-Debatte«: ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft, Bonn: FES 1997.
14) Siehe dazu Michael Mann, Were the Perpetrators of Genocide ›Ordinary Men‹ or ›Real Nazis‹? Results from Fifteen Hundred Biographies, in: HGS (Holocaust and Genocide Studies) 14, 2000, 331–366 (343 ff.).
15) Masse und Macht, Düsseldorf: Claassen 1960, 287.
16) Unter Berufung auf die einschlägigen Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen; siehe dazu knapp zusammenfassend Christian Pfeiffer/Peter Wetzels, Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland. Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde, in: APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) Bd. 26, 1999, 3–22.
17) Das berührt sich meines Wissens teilweise mit dem soziologischen Konzept des oben erwähnten Hans-Georg Soeffner; siehe sein Gespräch mit Jo Reichert zum Thema »Das Handlungsrepertoire von Gesellschaften erweitern«, in: FQS (Forum Qualitative Sozialforschung; online-journal) 5, Nr. 3, Art. 29 (2004).
18) Siehe Christoph Morgenthaler/Gina Schibler, Religiös-existenzielle Beratung. Eine Einführung, Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2002; Christoph Morgenthaler, Zerbrochene Geschichten. Systemische Trauerseelsorge in narrativer Perspektive, in: Familiendynamik 31, 2006, 280–293.
19) Françoise D. Alsaker, Quälgeister und ihre Opfer. Mobbing unter Kindern und wie man damit umgeht, Bern: Huber 2003; Hurrelmann, Klaus, Rixius, Norbert, u. Heinz Schirp: Gewalt in der Schule. Ursachen – Vorbeugung – Intervention. M. Beiträgen v. G. Böth, I. Engert u. B. Sturzenhecker. Aktualisierte Neuausgabe. Weinheim-Basel-Berlin: Beltz 1999. 253 S. m. Abb. u. Tab. 8° = Beltz Taschenbuch, 50. Kart. EUR 10,90. ISBN 3-407-22050-2; Kirsner, Inge, u. Michael Wermke [Hrsg.]: Gewalt – Filmanalysen für den Religionsunterricht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 187 S. gr.8°. Kart. EUR 23,90. ISBN 3-525-61487-X; Oemichen, Manfred, Kaatsch, Hans-Jürgen, u. Hartmut A. G. Bosinski [Hrsg.]: Gewalt gegen Frauen und Kinder. Be­standsaufnahme – Diagnose – Prävention. Violence against Women and Children. State of the Art – Diagnosis – Prevention. Lübeck: Schmidt-Römhild 2004. 324 S. m. Abb. u. Tab. 8° = Research in Legal Medicine, 32. Kart. EUR 48,00. ISBN 3-7950-0329-6.
Die Menge der Zeitschriften in diesem Bereich ist für mich völlig unübersehbar. Im Anhang von Hurrelmann u. a. (1999) findet man sehr viele nützliche Internet-Links, Literatur, Materialien, Adressen, Medien und einschlägige Institutionen.
20) Siehe das Bulletin des NFP 40: Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität, hrsg. von Eva Wyss, Bern: NFP 40, 1997 ff.
21) Siehe Informationszentrum Sozialwissenschaften (Bonn), Gewalt in der Schule – Bestandsaufnahme im Jahr 2006 (www.gesis.org/Information/SowiNet/sowiOnline/Gewalt&Schule [10.3.2007]).
22) Wahrscheinlich sind es eher die technisch und künstlerisch minderwertigen Medienprodukte, die unerwünschte Wirkungen haben, weil die Benützer der Medien (unbewusst) spüren, dass ihnen Schund verkauft wird und sie nicht ernst genommen werden. Aber das wäre eine erst noch zu testende Hypothese.
23) Günter Albrecht, Sinn und Unsinn der Prognose von Gewaltkriminalität, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Gewalt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, 475–524; Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, Bern-Stuttgart-Wien: Haupt (1994) 42004; Michael Walter, Gewaltkriminalität. Erscheinungsformen – Ursachen – Antworten, Stuttgart u. a.: Richard Boorberg Verlag 2006.
Zeitschriften: unübersehbar.
Internet: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg: www.iuscrim.mpg.de; Institut für Kriminologie der Universität Tübingen: www.ifk.jura.uni-tuebingen.de; dort zahlreiche Links zu Zeitschriften, Reihen, Institutionen sowie Zugang zur Literatur-Recherche über: KrimDok-Online; Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe e. V.: www.bag-straffaelligenhilfe.de.
24) Siehe dazu Wolfgang Heinz/Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Rückfallforschung, Wiesbaden: Eigenverlag der Kriminologischen Zentralstelle e. V. 2004.
25) Vgl. W. Lienemann, Gewaltlosigkeit als Ziel für die moderne Gesellschaft? Rechtsethische Perspektiven, besonders im Blick auf den Umgang mit der Gewalt bei Jugendlichen, in: ZJJ 16, 2005, 253–260.
26) In der Schweiz hat der Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Diens­tes (PPD) im Justizvollzug des Kantons Zürich ein anspruchsvolles Prognoseverfahren entwickelt; siehe Frank Urbaniok, FOTRES. Forensisches operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System, Oberhofen: Zytglogge Verlag 2004; ders., Was sind das für Menschen – was können wir tun. Nachdenken über die Straftäter, Oberhofen: Zytglogge Verlag 2003, sowie aus juristischer Sicht, insbesondere im Blick auf die lebenslängliche »Verwahrung«, Thomas Noll, Statistische Prognosemethoden zur Ermittlung der Rückfallgefahr bei Gewalt- und Sexualstraftätern: Aktueller Forschungsstand – Methoden – Evaluation, Diss. iur. Zürich o. J. (2006). Noll geht m. E. leider nicht angemessen auf die Argumente von Kritikern wie Albrecht ein. So behauptet er in dem entsprechenden Abschnitt 3.6 über die »Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens«: »Da das Verhalten einer Person die direkte, kausale Folge seiner (sic, W. L.) inneren Prozesse ist, können aus dem objektiven, beobachtbaren Verhalten eines Menschen in den meisten Fällen Rückschlüsse über seine psychischen Vorgänge gezogen werden.« (43) Vom äußeren Verhalten wird hier unter Verweis auf die Kategorie der Kausalität auf die psychischen Vorgänge geschlossen. Die zu Grunde liegende deterministische Auffassung wird lediglich eingeschränkt durch die Wendung »in den meisten Fällen« und den Hinweis auf ein »Spektrum individuell determinierter Möglichkeiten und Prägungen« (45). Wenn man die Kritik von G. Albrecht oder die Untersuchungen von F. Sutterlüty damit konfrontiert, werden die fragwürdigen Prämissen und die Einseitigkeit dieses Prognose-Ansatzes deutlich.
27) Baudler, Georg: Gewalt in den Weltreligionen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 219 S. gr.8°. Geb. EUR 34,90. ISBN 3-534-15995-0; Christoph Bultmann/Benedikt Kranemann/Jörg Rüpke (Hrsg.), Religion. Gewalt. Gewaltlosigkeit. Probleme – Positionen – Perspektiven, Münster: Aschendorff 2004 (dieses Buch wurde schon besprochen in ThLZ 129 [2004], 1172, weshalb ich hier nicht erneut darauf eingehe); Ceming, Katharina: Gewalt und Weltreligionen. Eine interkulturelle Perspektive. Nordhausen: Bautz 2005. 133 S. 8° = Interkulturelle Bibliothek, 102. Kart. EUR 10,00. ISBN 3-88309-280-0; J. Harold Ellens (Ed.), The Destructive Power of Religion. Violence in Judaism, Christianity, and Islam (vol. 1: Sacred Scriptures, Ideology, and Violence; vol. 2: Religion, Psychology, and Violence; vol. 3: Models and Cases of Violence in Religion; vol. 4: Contemporary Views on Spirituality and Violence), Westport, CT-London: Praeger 2004; Adel Thodor Khoury u. a, (Hrsg.), Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg-Basel-Wien: Herder 2003; Mieth, Dietmar, u. Hadewych Snijdewind [Hrsg.]: Religion zwischen Ge­walt und Beliebigkeit. Tübingen-Basel: Francke 2001. 122 S. gr.8°. Kart. EUR 23,00. ISBN 3-7720-2761-X; Werner H. Ritter/Joachim Kügler (Hrsg.), Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik, Berlin: LIT 2006; Raymund Schwager/Józef Niewiadomski (Hrsg.), Religion erzeugt Gewalt – Einspruch! Innsbrucker Forschungsprojekt »Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung«, Münster-Hamburg-London: LIT 2003; Spirit and Power. A 10-Country Survey of Pentecostals (The Pew Forum on Religion & Public Life), Washington D. C.: Pew Research Center 2006; Robert Wuthnow (Ed.), The Encyclopdedia of Politics and Religion, 2 vols., London: Routledge.
28) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Vgl. auch ders., Krieg und Friede in den Weltreligionen, ZRG 36, 1984, 6–20. Im Hintergrund von Gensichens damaligem Interesse standen die »Weltkonferenzen der Religionen für den Frieden« (WRCP), deren erste 1970 in Kyoto zusammentrat. Eine wichtige Wurzel der WRCP liegt im japanischen Buddhismus, in der Rissho Kosei-kai (Gesellschaft für Aufrichtung von Recht und mitmenschlichen Beziehungen). Im August 2006 fand in Tokyo die achte Weltkonferenz statt. Näheres unter: www.religionsforpeace.net; siehe auch Homer A. Jack, WCRP. A History of the World Conference on Religion and Peace, New York: WCRP 1993. Homer Jack, langjähriger Generalsekretär, hat zu etlichen dieser Weltkonferenzen die Tagungsbände herausgegeben.
29) Angst und Gewalt. Ihre Funktionen und ihre Bewältigung in den Religionen, in: Ders., Angst und Gewalt. Ihre Präsenz und Bewältigung in den Religionen, Düsseldorf: Patmos 1979, 311–337 (312 f.).
30) Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/ 44), Ders., Frühe Schriften, Bd. I, hrsg. v. Hans-Joachim Lieber/Peter Furth, Stuttgart: Cotta 1962, 488–505 (497).
31) Eine Übersicht gibt Heinz Georg Lederleitner, Erlösung erschließen – Wahrnehmungen gewaltloser Gottesmacht nach Georg Baudler, Münster: LIT 2000.
32) Paris: Grasset 1972, deutsch: Das Heilige und die Gewalt, aus dem Französischen von E. Mainberger-Ruh, Zürich: Benziger 1987 (seither zahlreiche Auflagen).
33) Nach Jaspers sind in der Zeit zwischen etwa 800 und 200 v. Chr. in den vier Kulturräumen von Indien, China, dem (nahen und mittleren) Orient sowie Griechenland unabhängig voneinander diejenigen gedanklichen Konzeptionen und zivilisatorischen Fähigkeiten entstanden, auf denen die Weltreligionen wie die modernen Kulturen beruhen; siehe dazu Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München: Piper; Zürich: Artemis 1949 (seither zahlreiche Auflagen, auch als Taschenbuch: S. Fischer). Dass man in dieser Fragestellung historisch und sozialwissenschaftlich viel genauer differenzieren muss und kann, ist offensichtlich; ich verweise nur auf die Forschungen von Shmuel N. Eisenstadt (Hrsg.), Kulturen der Achsenzeit, 5 Bde., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987/1992. M. E. zu unkritisch schließt neuerdings wieder Karen Armstrong bei Jaspers an: Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen, Berlin: Siedler 2006. Das Achsenzeit-Theorem findet sich im Übrigen schon lange vor Jaspers, nämlich im 18. Jh. bei dem französischen Iranisten Anquetil Duperron, oder im 20. Jh. bei Alfred Weber (und in gewisser Weise auch in Max Webers Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen); siehe dazu die Hinweise bei Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München: Hanser 2003, 12 mit Anm. 2 und 3.
34) ZKTh 118, 1996, 317–344.
35) Diese Themawahl ließ mich aufmerken, hat mich aber in der Durchführung sehr enttäuscht. Hailer bezieht sich nur auf eine einzige Stelle im »Stern der Erlösung« (Den Haag: Nijhoff 1976, 370 f.), ohne den Rosenzweigschen Kontext zu berücksichtigen. Rosenzweig schreibt über den Staat (möglicherweise in diesem ganzen Abschnitt in einer stillen Auseinandersetzung mit Max Weber begriffen) u. a.: »Er kann keinen Augenblick das Schwert aus der Hand legen«. Das korrespondiert dem Trotzkij-Zitat in Webers »Politik als Beruf« (Ende Januar 1919): »Jeder Staat ist auf Gewalt gegründet« (Gesammelte Politische Schriften, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 21958, 493–548 [494]). Allerdings wird Weber völlig falsch verstanden, wenn man das vom Staat monopolisierte Ge­waltmittel von seinem Zusammenhang mit dem Recht löst. Was Hailer dazu näher ausführt, hat mich sehr irritiert. Er schreibt: »Das Ziel des Staates ist das Recht. Sein Mittel kann aber nur (? W. L.) die Gewalt sein. Wahlkampf ist Gewalt, verbale zumindest, die das Klima des Gemeinwesens ziemlich vergiften kann. Parlamente sind leidlich zivilisierte Arenen von Kampf und Gewalt. Jede Verurteilung vor Gericht agiert Gewalt aus und das präzise im Namen des Rechts. Der Staat kann nicht anders, als in diesem Sinne Gewalt auszuüben.« (140) Dann folgt der zitierte Rosenzweig-Satz. Abgesehen davon, dass hier wieder einmal – zu Lasten des Rechts – ein konturenloser Gewal t»begriff« begegnet, scheint mir diese Erläuterung (a) als Rosenzweig-Interpretation unhaltbar zu sein und (b) Gesetzgebung und Rechtsprechung in unvertretbarer Weise herabzusetzen.
36) Ich muss mich mit wenigen Hinweisen begnügen, weil ich kein Rezensionsexemplar erhalten konnte und mir erst kurz vor Abschluss dieses Berichtes das Werk via Fernleihe zugänglich wurde.
37) Dazu Hinweise im nächsten Abschnitt.
38) Siehe dazu J. Steven O’Malley, Art. Pfingstkirchen/Charismatische Bewegung, TRE 26 (1996), 398–410. In den USA sollen sich inzwischen über 20 % der Christen zu einer Pfingstkirche, in Brasilien über 40 % als zugehörig betrachten. Auch wenn man derartige Zahlen vorsichtig behandeln muss, ist es dringend geboten, diese Realität theologisch und politisch aufmerksamer als bisher zu beachten. Instruktiv: Antje Schrupp, Im Namen des Heiligen Geistes. Pfingst­kirchen erobern die Dritte Welt: www.antjeschrupp.de/pfingstkirchen.htm (10.3. 2007), gekürzt auch in: Die Brücke (2003).
39) Karen Armstrong, The Battle for God. Fundamentalism in Judaism, Chris­tianity and Islam, London: Harper Collins 2000 (deutsch: Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam, aus dem Englischen von B. Schaden, Berlin: Siedler 2004); Thomas Grumke, Rechtsextremismus in den USA, Opladen: Leske + Budrich 2001; Hall, John R., with Philip D. Schuyler and Sylvaine Trinh: Apocalypse Observed. Religious movements and vio­lence in North America, Europe and Japan. London-New York: Routledge 2000. XI, 228 S. m. Abb. gr.8°. Kart. £ 21,99. ISBN 0-415-19277-3; Juergensmeyer, Mark: Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence. Third Edition. Revised and Updated. Berkeley-Los Angeles-London: University of California Press 2003. XVII, 319 S. m. Abb. gr.8° = Comparative Studies in Religion and Society, 13. Kart. £ 12,50. ISBN 0-520-24011-1 (deutsch: Terror im Namen Gottes. Ein Blick hinter die Kulissen des gewalttätigen Fundamentalismus, aus dem Ame­rikanischen von F. Mosthaf, Freiburg-Basel-Wien: Herder 2004); Erhard Kamphausen/Gerhard Köberlin (Hrsg.), Gewalt und Gewaltüberwindung. Stationen eines theologischen Dialogs, Frankfurt a. M.: Lembeck 2006; Larsson, J. P.: Understanding Religious Violence. Thinking Outside the Box on Ter­ror­ism. Al­dershot-Burlington: Ashgate 2004. X, 173 S. 8°. Geb. £ 47,50. ISBN 0-7546-3908-8.
40) Siehe zu den Ereignissen: The 9/11 Commission Report. Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks upon the United States. Autho­riz­ed Edition, New York-London: W. W. Norton & Co. o. J. (2004).
41) Siehe Walter Laqueur, A History of Terrorism, New York: Little, Brown 1997. Eine kurze Einführung gibt Ulrike Neureither, Terrorismus als Herausforderung an die internationale Politik, in: Friedensgutachten 1996, Münster: LIT 1996, 216–228.
42) The New Cold War? Religious Nationalism Confronts the Secular State, Berkeley u. a.: University of California Press 1993 (Paperback 1994).
43) Auf der 3. revidierten und aktualisierten Aufl. 2003 basiert die deutsche Übersetzung, nach der ich zitiere.
44) Im Original »world view«. Die Übersetzerin gibt diesen Ausdruck mit »Ideologie«, »Weltsicht«, »Weltanschauung« oder »Perspektive« wieder. Das ist aber nicht einfach eine sprachliche Variation, sondern schon eine Deutung.
45) Juergensmeyer bezieht sich damit auf ähnliche Überlegungen besonders bei Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Clifford Geertz. Von Letzterem übernimmt er explizit die Annahme, dass derartige »kulturelle Systeme« säkularer wie religiöser Art sein können (36).
46) So zu fragen, schließt nicht notwendig die Option für eine bestimmte Religionstheorie, etwa eine funktionalistische, ein. Wohl aber bedeutet es, dass die Aufmerksamkeit auf die pragmatische Dimension des Gebrauchs religiöser Texte, Symbole und Handlungen gelenkt wird.
47) Manche Übereinstimmungen mit den vom früheren russischen Geheimdienst erfundenen »Protokolle(n) der Weisen von Zion« liegen auf der Hand. Zu diesem ungemein verbreiteten Grundtext des Antisemitismus im 20. Jh. siehe Norman Cohn, »Die Protokolle der Weisen von Zion«. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Aus dem Englischen von K. Röhmer, mit einer kommentierten Bibliographie von M. Hagemeister, Baden-Baden-Zürich: Elster Verlag 1997 (die Erstausgabe erschien 1967 unter dem Titel »Warrant for Genocide«, deutsch 1969 unter dem jetzigen Titel).
48) Siehe auch Erich Geldbach, Protestantischer Fundamentalismus in den USA und Deutschland, Münster: LIT 2001.
49) Die American Academy of Arts and Sciences (AARS) hat zwischen 1988 und 1994 ein Fundamentalismus-Projekt gefördert; siehe dazu Martin E. Marty/R. Scott Appleby (Eds.), Fundamentalism Observed, Chicago: UP 1991; eine kürzere deutsche Fassung: Dies. (Hrsg.), Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, übersetzt von Chris­toph Münz, Nachwort Hans G. Kippenberg, Frankfurt a. M.: Campus 1996. Kamphausen (2006) hat diese Zusammenhänge differenziert dargestellt.
50) Zu den wenigen Frauen in terroristischen Szenen siehe Juergensmeyer (2004), 268 f.
51) Die Anhänger der japanischen Aum Shinrikyo erwarten einen Dritten Weltkrieg, im Verhältnis zu dem sich die Atom- und Wasserstoffbomben wie Spielzeug ausnehmen (Juergensmeyer 2004, 209). Wer in Chemielabors hochwirksames Nervengas herstellen kann, kann vermutlich auch Nuklearwaffen produzieren.
52) Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München: Hanser 2003; ders., Monotheismus und die Sprache der Gewalt, in: Walter (s. unten) 2005, 18–38; Dietrich, Walter, u. Moisés Mayor­domo [Hrsg.]: Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel. Hrsg. in Zu­sammenarbeit m. C. Henne-Einsele u. einem studentischen Autorenteam. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2005. 280 S. Kart. SFR 28,00. ISBN 978-3-290-17341-8; Erhard Kamphausen/Gerhard Köberlin (Hrsg.), Gewalt und Gewaltüberwindung. Statio­nen eines theologischen Dialogs, Frankfurt a. M.: Lembeck 2006; Lermen, Birgit, u. Günther Rüther [Hrsg.]: In Gottes Namen? Zur kulturellen und poli­tischen Debatte um Religion und Gewalt. Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung 2004. 179 S. 8°. Kart. ISBN 3-937731-20-2; Peter Walter (Hrsg.), Das Gewaltpoten­tial des Monotheismus und der dreieinige Gott, Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005.
53) Unter »inklusivem Monotheismus« versteht Assmann den Typ der An­nahme: Alle Götter sind (letztlich) eins. Exklusiver Monotheismus bedeute da­gegen: Keine Götter außer (unserem) Gott. Siehe Assmann 2005, 20.
54) Wichtige Beiträge zur Debatte findet man im Anhang von Assmann 2003 (Rolf Rendtorff, Erich Zenger, Klaus Koch, Gerhard Kaiser, Karl-Josef Kuschel) und in Walter 2005 (besonders die Replik von Erich Zenger).
55) Zwei Beispiele: Assmann weiß natürlich, dass das deuteronomistische Kriegsrecht niemals geltendes Recht war, aber er bezieht sich auf die Semantik (den Bedeutungs- und Bildgehalt) dieser Überlieferung, nicht auf die pragma­tische Verwendung (Assmann 2005, 30). Oder er bezieht sich auf das Phänomen der Konversion (ebd., 35), zweifellos für jeden exklusiven Monotheismus ein fundamentales Problem. Ich finde indes das Faktum der Abgrenzung (wahr/ falsch plus Heil/Unheil) nicht so spannend wie die Frage, wie man denn im alten Israel, eingedenk der Tora, die gleichwohl im Alltagsleben unvermeidlichen Konversionen bewältigt hat.
56) Abu-Nimer, Mohammed: Nonviolence and Peace Building in Islam. Theory and Practice. Gainesville-Tallahassee-Tampa-Boca Raton-Pensacola-Orlando-Miami-Jacksonville-Ft. Myers: University Press of Florida 2003. X, 234 S. gr.8°. Geb. US$ 55,00. ISBN 0-8130-2595-8; Ardley, Jane: The Tibetan Independence Movement. Political, Religious and Gandhian Perspectives. London-New York Routledge Curzon 2002. XII, 211 S. gr.8°. Geb. £ 60,00. ISBN 0-7007-1572-X; Eckert, Julia: Partizipation und die Politik der Gewalt. Hindunationalismus und De­mokratie in Indien. Baden-Baden: Nomos 2004. 278 S. m. Tab. gr.8° = Studien zu Ethnizität, Religion und Demokratie, 5. Kart. EUR 59,00. ISBN 3-8329-0861-7; Heuser, Andreas: Shembe, Gandhi und die Soldaten Gottes. Wurzeln der Gewalt­freiheit in Südafrika. Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 2003. 324 S. 8° = Religion and Society in Transition, 4. Kart. EUR 29,90. ISBN 3-8309-1224-2; Houben, Jan E. M., and Karel R. van Kooij [Eds.]: Violence Denied. Violence, Non-Violence and the Rationalization of Violence in South Asian Cultural History. Leiden-Boston-Köln: Brill 1999. IX, 387 S. u. 7 Bildtafeln im Anhang. gr.8° = Brills Indological Library, 16. Lw. EUR 134,00. ISBN 90-04-11344-4; Schell, Jonathan: Die Politik des Friedens. Macht, Ge­waltlosigkeit und die Interessen der Völker. Aus d. Amerikanischen v. H. Kober. München-Wien: Hanser 2003. 414 S. gr.8°. Geb. EUR 25,90. ISBN 3-446-20482-2.
57) Siehe aber die umsichtigen differenzierten Darstellungen von Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden: Nomos 1999; dies., Gute Regierungsführung: Neue Stimmen aus der islamischen Welt, in: VRÜ 38, 2005, 258–275; dies., Islam und Toleranz, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2005, 1119–1129.
58) Abu-Nimer spricht von der »limited- or defensive-war perspective« (35), denkt aber dabei anscheinend weder an die übliche völkerrechtliche Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten noch an die militärische Differenz zwischen »limited« und »all out« Kriegen (d. h. letztere unter Verwendung von strategischen Massenvernichtungswaffen).
59) »... pacifism in its pure and absolute sense, without due consideration of justice, cannot accurately reflect authentic Islamic teachings.« (36, Hervorhebung W. L.) Das erinnert verblüffend an die berühmte Formulierung Augustins: remota iustitia quod sunt regna nisi magna latrocinia? Hier hängt alles an den Begriffen von Recht und Gerechtigkeit. Die mir bekannten islamischen Positionen scheinen an dieser Stelle die augustinische Ambivalenz zu teilen, die darin besteht, dass der Gerechtigkeitsbegriff unterbestimmt ist bzw. nicht gegen eine Selbstlegitimation gefeit ist; siehe dazu näher meine Überlegungen: »Eschatologik« als Antipolitik? Politische Ethik zwischen weltlichem Staat und christlichem Friedenszeugnis: Überlegungen im Blick auf Augustins de civ. Dei XIX, in: Ruth Hess/Martin Leiner (Hrsg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße (FS J. Christine Janowski), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2005, 409–425.
60) Siehe besonders die von Chaiwat Satha-Anand übernommenen acht Kriterien (38).
61) Sehr hilfreich ist Karénina Kollmar-Paulenz, Kleine Geschichte Tibets, München: Beck 2006.
62) Für Unterstützung dankt er u. a. den Experten Gerhardus C. Oosthuizen und Hans-Jürgen Becken.
63) Geht auf eine deutschsprachige Veröffentlichung des Vf.s aus dem Jahre 1996 zurück.
64) Damit wird der Titel der amerikanischen Originalausgabe »The Unconquerable World« aufgenommen.