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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1122–1124

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Arnemann, Michael

Titel/Untertitel:

Kirche und Polizei: Zwischen Gleichschaltung und Selbstbehauptung. Historische Grundlagen und aktuelle Perspektiven für kirchliches Handeln in staatlichen Institutionen.

Verlag:

Münster: LIT 2005. 351 S. m. Tab. gr.8° = Theologie und Praxis, 22. Kart. EUR 24,90. ISBN 3-8258-8105-9.

Rezensent:

Dieter Beese

Michael Arnemann, Polizeiseelsorger im Bistum Münster, legt mit der zu besprechenden Veröffentlichung die Druckfassung seiner Dissertation (Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Udo Schmälzle, Karl Gabriel, 2004) vor.
Angesichts aktueller Reform- und Programmdebatten in den beiden deutschen Volkskirchen kommt der Präsenz der Kirchen in öffentlichen Institutionen wie der Polizei besondere Bedeutung zu. Theoretische Durchdringung, konzeptionelle Integration in kirchliche Führungs- und Entscheidungsstrukturen sowie praktische Gestaltung des Arbeitsfeldes geben Auskunft über die Fähigkeit und die Bereitschaft der Kirchen, ihrem dem Evangelium entsprechenden Öffentlichkeitsauftrag nachzukommen. Das Interesse A.s besteht in der »Klärung des Übergangsprozesses von einer Standes- und Milieuseelsorge zu einem pastoralen Dienst in pluraler Gesellschaft« (20), um die »Bedeutung und Notwendigkeit einer gezielten Pastoralplanung als Unterstützungsleistung für die beteiligten Akteure zu unterstreichen« (22).
Ein erster Teil der Arbeit (23–169) bietet die »Entstehung und Entwicklung der Polizeiseelsorge im 20. Jahrhundert«. Ein zweiter Teil (170–236) befasst sich mit der »Polizeiseelsorge heute – zur Gegenwartssituation als Kategoriales Handlungsfeld in den Diözesen«. Der dritte Teil (237–302) entwickelt »Kirche und Polizei – Konsequenzen für Konzeptionen kirchlichen Handelns in staatlichen Institutionen«. Zusammenfassungen und Zwischenergebnisse helfen, den Text zu erschließen. Ein vierter Teil enthält »Tabellen und Diagramme zum Handlungsfeld Polizeiseelsorge« (303–323) mit staatskirchenrechtlichen Regelungen zur Polizeiseelsorge, Übersichten zum berufsethischen Unterricht und sozialstatistische Daten zur Mitarbeiterschaft in der Polizeiseelsorge. Es folgen die Abkürzungs-, Quellen und Literaturverzeichnisse (324–351).
In Auseinandersetzung mit der jungen Weimarer Demokratie findet ein Leitbildwechsel in der Polizei vom soldatischen Kämpfer zum Freund und Helfer statt (33). Auf kirchlicher Seite wächst die Polizeiseelsorge aus der gemeindlichen über die nebenamtliche Seelsorge in einem Prozess fortschreitender Abstimmung mit staatlichen Stellen zu einem Dienstbereich mit tragfähigen Strukturen heran. Inhaltlich bewegt sich die Tätigkeit der Polizeiseelsorge im Bereich einer noch nicht auseinanderdifferenzierten Einheit von Seelsorge und Bildung. Kirchlich-konfessionelle Integration und beruflich-institutionelle Persönlichkeitsbildung bilden zwei Spannungspole.
Die nationalsozialistische Herrschaft bedeutet den Niedergang der Polizeiseelsorge nach Erreichung des administrativen Höhepunkts. Der NS-Staat tritt aus taktischen Gründen zunächst als Garant kirchlicher Arbeit in Preußen auf. Dies ändert sich jedoch grundlegend mit der Militarisierung der Polizei im Einparteienstaat, der mit einem weiteren Leitbildwechsel vom Schutzmann zum Parteisoldaten verbunden ist. Am Beispiel des Polizeiseelsorgers Reinhold Friedrichs zeigt A. die systematische Ausgrenzung der Polizeiseelsorge durch die Partei (106–118).
Die angestrebte demokratische Neuausrichtung der Polizei in Deutschland nach 1945 weicht schon seit 1947 einer Doppelgleisigkeit von normaler Polizeitätigkeit und Truppenpolizei mit mili­tärischen Kommandostrukturen. Die angenommene Bedrohung durch einen möglichen gewalttätigen gesellschaftlichen Umsturz verzögert so den Zivilisierungsprozess der Polizei bis in die 60er Jahre. A. bestimmt zutreffend den Zeitraum ab 1953 als »erneute Erprobungsphase für das kirchliche Handeln in staatlicher Institution« (130). Inhaltlich wesentlich ist die beginnende Unterscheidung von Seelsorge als originär kirchlicher Tätigkeit und berufs­ ethischer Bildung als Teil der polizeilichen Bildungsarbeit in kirchlicher Verantwortung. Innerkirchlich wird die Spannung zwi­schen konfessioneller Integration und Tendenzen des Indifferentismus zu Gunsten einer starken »Verkirchlichung und Klerikalisierung des Arbeitsfelds« (167) aufgelöst.
Von 1962 an wird in den alten und neuen Bundesländern bis in die 1990er Jahre die Polizeiseelsorge beider Konfessionen in vertraglichen Regelungen verankert. Die Polizeiseelsorge etabliert sich dabei als ein Feld der Zusammenarbeit von Staat und Kirche. Sie leidet jedoch an inneren und äußeren Mängeln. Zwar ist der berufs­ethische Unterricht mit erhöhten Stundenzahlen ausgewiesen, auch ist ein Prozess der fachlichen Professionalisierung nicht zu leugnen, gleichwohl fehlt weithin eine klare und verbindliche Verankerung des Faches im polizeilichen Bildungswesen (192–195). Die inhaltliche Veränderung von der Lebenskunde für Beamte zur Berufsethik für die Polizei ist zwar vollzogen, dennoch kann von einer konsistenten Theorie und Didaktik der Ethik im Polizeiberuf mit hinreichender empirischer Verankerung, klaren Qualifizierungsverfahren der Unterrichtenden und einer nachvollziehbaren Evaluierung nicht die Rede sein. Auch für den genuin kirchlichen Verantwortungsbereich der Seelsorge weist A. deutliche Män­gel in Personaleinsatz, Organisationsstrukturen und Konzeptentwick­lung auf (221–232). »Die verfassungsrechtlich garantierte Möglichkeit zu seelsorglichem Dienst und die Beauftragung von kirchlichen Mitarbeitern für einen staatlich verantworteten Bildungsbereich finden außerhalb Deutschlands kein Parallelbeispiel.« (234) Das »Ge­fälle zwischen weitreichender rechtlicher Absicherung und kaum geleisteter innerkirchlicher Auseinandersetzung mit dem Handlungsfeld« muss jedoch »erstaunen« (235). A. plädiert für ein neues Verständnis des kirchlichen Dienstes in der Polizei: »Ak­teure und Akteurinnen begleiten – Raum für Deutungskompetenzen of­fen halten« (294) Die Pastoralplanung werde sich dem Thema »Bildungsverantwortung für Staat und Gesellschaft« neu zuwenden müssen (299) und dabei das Zusammenwirken von Unterricht, Seelsorge und Caritas/Diakonie stärker ins Bewusstsein zu rücken und bei der Polizeikultur anzusetzen haben.
A. verbindet eine kritische Bestandsaufnahme mit solide be­gründeten und konstruktiven Perspektiven für die Zukunftsplanung. Es wäre darüber hinaus verdienstvoll gewesen, die europäische Perspektive nicht nur anzusprechen (233, Anm. 784), sondern sie stärker als Bezugsrahmen heranzuziehen (Sicherheitsraum Europa, internationale Polizeieinsätze). Bei den weitreichenden Übereinstimmungen A.s mit der Bildungstheorie Preuls und den Analysen von Stephan und Buchter ist es bedauerlich, dass die Chancen ökumenischer Partnerschaft und Kooperation in der Polizei keine eigenständige Würdigung erfahren.