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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1113–1116

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schneider-Flume, Gunda, u. Doris Hiller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dogmatik erzählen? Die Bedeutung des Erzählens für eine biblisch orientierte Dogmatik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2005. VIII, 182 S. 8°. Kart. EUR 24,90. ISBN 3-7887-2112-X.

Rezensent:

Gesche Linde

Es ist ein so augenfälliger wie erklärungsbedürftiger Umstand, dass unter den Reflexionsformen des christlichen Glaubens die Erzählung außerhalb der Bibel wenig Raum einnimmt. Zumal Dogmatiken pflegen nicht zu erzählen, sondern treten mit dem auf, was man mit Schleiermacher einen »darstellend belehrenden« Sprachgestus nennen könnte. Auf diese theologische Marginalisierung der Erzählung im Christentum reagiert dieser Band, der auf ein Symposium an der evangelisch-theologischen Fakultät Leipzig im November 2002 und auf die Tagung einer dort angesiedelten Ar­beitsgruppe im Dezember 2004 zurückgeht. Er greift das von den Herausgeberinnen diagnostizierte Problem auf, dass dogmatische »Großbegriffe« – »Sünde«, »Rechtfertigung«, selbst »Gott« (Schneider-Flume, Einleitung, 3) – nicht mehr in der Lage seien, christliche Erfahrung verständlich zu artikulieren, und vertritt die These, »die Christen bzw. die Kirchen« (ebd.) sollten stattdessen die von ihnen geglaubte »Geschichte Gottes mit den Menschen« (5) erzählen. Für die Dogmatik soll daraus zwar nicht resultieren, dass sie nun ihrerseits ebenfalls das Erzählen anzufangen habe (daher das Fragezeichen im Bandtitel) – sie soll nicht narrative Theologie werden, die sich »Beliebigkeit und ideologischem Missbrauch« ausgesetzt habe (4) –, wohl aber, dass sie erstens als Reflexion auf ein solches christliches Erzählen und zweitens (da sich das christliche Erzählen offenbar maßgeblich in der Bibel ereignet) als biblische Theologie bestimmt werden muss, in der es eben »um das Zerbrechen dogmatischer Großbegriffe geht« (3). Dieses Dogmatik-Verständnis leitete bereits Schneider-Flumes »Grundkurs Dogmatik« (2004).
Das skizzierte Programm buchstabiert der Band in drei Teilen aus. Die »fundamentaltheologischen Beiträge« werden durch den Beitrag Manfred Landfesters eröffnet, der »Argumentation als Modus des Erzählens« ausweist, indem er einen Abriss der klassisch-antiken Argumentationslehre bietet und zeigt, dass in der Bibel argumentative Formen (im aristotelischen Sinn) auch innerhalb narrativer Gattungen verwendet werden. Schneider-Flume bringt den Befund der »vielen Geschichten der biblischen Tradition« (30) mit dem reformatorischen Satz von Jesus Christus als Einheit und Mitte der Schrift dadurch in Übereinstimmung, dass sie in den Geschichten selbst, die von Gottes Erbarmen, von der Entsprechung zwischen Ruf und Rettung und von Gottes Gerechtigkeit erzählen, die »Spuren« (12.41) der »eine(n) Geschichte Gottes« (30) erkennt, die zuletzt in Jesus Christus »konkret« (49) werden. Hiller ruft gegen die Verbannung der Einzelgeschichten ins Reich des Ornamentalen etwa durch Wolfhart (nicht: »Wolfhard«, 52) Pannenberg das Mimesis-Konzept Ricœurs auf und wendet es auf die biblischen Geschichten an: Die Vielzahl der – fiktiven – Ge­schichten ist nicht auf die eine – tatsächliche – Geschichte Gottes mit den Menschen reduzierbar, weil jene diese erst prä-, kon- und refigurieren. Mit dem einzigen Aufsatz, der an dem Programm der Herausgeberinnen offene Kritik äußert, schließt Matthias Petzoldt die Sektion ab: Vom Sprechakt des religiösen Erzählens mit dessen Anrede-Charakter muss die diskursiv strukturierte Metasprache der Dogmatik unterschieden bleiben, die in Gestalt dialogdefiniter und widerspruchsfreier Sätze auftritt.
Die »exegetischen Beiträge« setzen mit einem Aufsatz von Rüdiger Lux zu den »Sprachformen des Leidens und seiner Überwindung im Hiobbuch« des Alten Testaments ein: Die narratio der Rahmenerzählung, in die disputatio und acclamatio eingebettet werden, leistet eine Fiktionalisierung, durch die der je gegenwärtigen Wirklichkeit ein totalitärer Geltungsanspruch bestritten wird. Oda Wischmeyer stellt anhand von Lk 22,41–44 und Hebr 4,15 »Überlegungen zur theologischen Bedeutung der neutestamentlichen Erzählungen von Jesus« an, deren Funktion darin besteht, die Hörer (Leser) die Geschichte Jesu so miterleben zu lassen, dass sie dieser gleichzeitig werden, und ihnen auf diese Weise das euangélion in seiner ganzen Bedeutungsfülle zu vermitteln. Eve-Marie Becker befasst sich mit den für die neutestamentliche Historiographie relevanten Aspekten der Narratologie am Beispiel des Redaktors Markus und identifiziert als zentrale Form des Markusevangeliums die Erzählung, die wiederum dem geschichtlichen Ereignis Ausdruck verleiht.
Die »dogmatischen Beiträge« schließlich (die programmgemäß den »exegetischen« erst folgen) werden von Wolf Krötke eingeleitet, der Schneider-Flumes Programm insofern nicht uneingeschränkt zu folgen scheint, als er angesichts der heutigen Situation der Gottvergessenheit die »einseitige« (142) Rede von Gott in Form von sprachlich konzentrierten Gottesartikulationen – also »Großbegriffen« bzw. »Wesensdefinitionen« – im Lichte der Geschichte Jesu Christi (»Wahrheit«, »Liebe« etc.) empfiehlt, die es erst ermöglichen sollen, die ganze Vielfalt des christlichen Redens von Gott wieder neu zu entdecken. Martin Petzoldt hält fest, dass die erzählten Reich-Gottes-Gleichnisse Jesu, die direkte Gottesprädikationen vermeiden und stattdessen die Liebe Gottes zum Menschen durch Analogien zum Verhältnis zwischen Mensch und Mensch konkret werden lassen, zur Elementarisierung der Rede von Gott beitragen. Die Schöpfungslehre, die Oswald Bayer skizziert und sodann zur Prozessphilosophie Whiteheads ins Verhältnis bringt, setzt nicht mit einem »theistisch-personalistisch fixierten ›Schöpfer‹« (159) ein, sondern mit dem göttlichen Schöpfungshandeln, verstanden als Anrede, von dem infolgedessen erzählt werden muss. Schneider-Flume schließlich fragt nach der Verschränkung von jener Ge­schichte, die der Mensch selbst ist, mit der Geschichte Gottes und bringt die Zerstörung jener Geschichte durch die Sünde von der in den Gottesreich-Gleichnissen erzählten Gotteswirklichkeit aus zur Sprache.
Abgesehen davon, dass die Beiträge eine Fülle wertvoller Anregungen bieten, stößt der Band in seiner Gesamtkonzeption eine Diskussion um die verwickelten Probleme der Narratologie neu an, der man in jedem Falle mehr theologische Aufmerksamkeit wünschen möchte. Dazu seien einige Anfragen vorgetragen.
1. Ein Beitrag zur sprachlogischen Struktur von Erzählungen fehlt. Das ist schade, denn wenn schon die »Erzählung« auf Kosten der »Wesensdefinition« stark gemacht werden soll, weil nur Erzählungen erkennen lassen sollen, »wer Gott ist« (9) – eine von Dietrich Ritschl entlehnte These –, so wüsste man gerne mehr über die Merkmale beider. Von Schneider-Flume erfährt man, Erzählungen gewönnen ihre Konkretheit »vornehmlich durch Verben und Zeitansagen, weniger durch Verwendung von Substantiven. Substantive sind in der Regel schon Abstraktionen, die erst durch eine Geschichte konkretisiert werden müssen« (ebd.). Aber: Weshalb und inwiefern Verben (übrigens eine gram­matische, keine sprachlogische Kategorie) nicht ebenso auf sprachliche Ab­straktionsprozesse zurückgehen sollen, wird nirgends erläutert. Dass gerade Verben mit Zeitansagen in fiktiven und realen Texten je unterschiedliche Funktionen übernehmen und insofern alles andere als ein einfaches Phänomen darstellen, hat Käte Hamburger in ihrer »Logik der Dichtung« gezeigt. Umgekehrt kommen auch Erzählungen üblicherweise nicht ganz ohne Substantive aus: Diese werden sich also kaum nur definitorisch verstehen lassen. Und dass »Wesensdefinitionen« auf Situationsunabhängigkeit Anspruch erheben, heißt nicht, dass sie für keine Situation, sondern für alle nur möglichen Situationen gelten wollen: So übersetzt Paulus die Passionsgeschichte Jesu in den »Großbegriff« der Rechtfertigung oder in das »Wort vom Kreuz«, weil erst der Begriff eine Applikabilität auf gegenwärtige und zukünftige Fälle (die Adressaten) herstellt.
2. Eine genaue Bestimmung des Verhältnisses zwischen erzählendem und argumentierendem Sprachmodus unterbleibt, auch wenn Lux mit der Weinrichschen Unterscheidung zwischen erzählter und besprochener Welt operiert und Wischmeyer einen erzählenden und einen argumentierenden Text ne­beneinanderstellt. Aber es wirkt verwirrend, wenn Schneider-Flume davon spricht, dass Luther in seiner »Disputatio de homine« den Menschen als Ge­schichte erzähle (170); und insofern hängt auch der informative Beitrag Landfesters im Gesamtzusammenhang des Bandes ein wenig in der Luft: Niemand wird bestreiten, dass Argumentationen als Teil von Erzählungen fungieren können; worin aber genau die Funktion der Argumentation innerhalb einer Erzählung als Erzählung besteht, bleibt unbeantwortet.
3. Die Programmthese des Bandes, es seien die erzählten Ge­schichten, die den Wirklichkeitsbezug dogmatischer Aussagen sicherten (vgl. Schneider-Flume, 7 f.; Hiller, 52), leidet in dieser Form zumindest an einer gewissen Unterbestimmung, weil Erzählungen als solche es noch nicht erlauben, zwischen »Wahrheit« und »Dichtung« zu unterscheiden: Erzählt werden kann schließlich nicht nur von Jesus, sondern auch von Bilbo Beutlin.
4. Ob und inwiefern zur Struktur des erzählenden Aktes die Person des Erzählers gehört, wird nicht thematisiert, wenngleich Wischmeyer für das neutestamentliche Umfeld zu einer historischen Unterscheidung zwischen verschiedenen Erzählergruppen gelangt. Für die jesuanischen Gleichniserzählungen, auf die Martin Petzoldt und Schneider-Flume Bezug nehmen, stellt sich diese Frage sogar potenziert, denn sie werden als Erzählungen eines ganz bestimmten (nicht beliebigen) Erzählers (Jesus) präsentiert, über den bereits zuvor wiederum ein Erzähler (der »Evangelist«) erzählt hat.
5. Vom Erzählen wie vom Sich-Erzählen-Lassen wird suggeriert, es handele sich um einen unproblematischen Akt. Doch ist das der Fall? Wer heute mit Anspruch auf Wirklichkeitsbezug erzählt, ist sich der mit dem Erzählen verbundenen theoretischen Probleme bewusst (des Verhältnisses der erzählten Geschichte zu anderen Geschichten, ihrer Perspektivität etc.). Auf Seiten des Hörers wiederum wird die Einschreibung der eigenen Lebensgeschichte in die erzählte fremde Geschichte schon deswegen nicht umstandslos funktionieren, weil wir nun einmal kritisch geschult sind, wie Matthias Petzoldt in Erinnerung ruft (vgl. 74).

Die in der an die heutige Christenheit adressierten Aufforderung zum Erzählen von Gott implizierte These von der Prolongierbarkeit des biblischen Erzählens in die Gegenwart hinein (vgl. Schneider-Flume, 3) wirft dogmatische Folgeprobleme auf. Die christ­liche Marginalisierung der Erzählung mag mit der insbesondere bei Protestanten wirksamen Überzeugung zu tun haben, dass letztlich nur da von Gott erzählt werden kann, wo Gott selbst von sich erzählt, wo er sich nämlich sowohl zum Erzählten als auch zum Erzähler macht – in Jesus Christus, wie er von der Schrift bezeugt wird –, so dass wir unsererseits allenfalls von unserem Glauben an Gott (vom Heiligen Geist) erzählen können. Wird die Differenz zwischen dem Erzählen der Schrift und unserem Erzählen verwischt, dann droht ein kryptokatholischer Offenbarungs­begriff. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die narrative Theologie in Deutschland zuerst von katholischen Autoren – Johann Metz und Harald Weinrich 1973 – aufgebracht wurde. Wenn andererseits ge­meint sein sollte, dass unser Erzählen lediglich ein Nacherzählen der biblischen Geschichten zu sein habe, dann wäre erneut das unter 5. angeschnittene Problem aufgeworfen, dass in einer »post-narrativen« Zeit (Harald Weinrich) sich die »narrative Unschuld« (Harald Weinrich) des Christentums – sollte es sie je gegeben ha­ben– nicht einfach wiederherstellen lässt.