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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1111–1113

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schneider-Flume, Gunda

Titel/Untertitel:

Glaube in einer säkularen Welt. Ausgewählte Aufsätze.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 300 S. gr.8°. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02423-0.

Rezensent:

Wolf Krötke

In diesem Band sind 17 Vorträge und zwei akademische Vorlesungen zusammengestellt, welche die Vfn. im vergangenen Jahrzehnt gehalten hat; sechs davon sind unveröffentlicht. Der Titel dieser Auswahl zeigt an, was sie eint. Es geht darum, wie und wo sich der christliche Glaube in der »säkularen Welt« darzustellen hat. »Säkular« wird im Vorwort lapidar mit der Charakterisierung »gottvergessen« definiert (7). Das geschieht vor allem unter dem Eindruck der massenhaften Gleichgültigkeit der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber dem Glauben an Gott. Die Leipziger Systematikerin stellt sich dieser Situation. Einer der Vorträge (»Kirche und Theologie im Osten Deutschland aus evangelischer Sicht«, 191–209) reflektiert explizit, was die besondere Art von Säkularismus, die hier begegnet, für das christliche Reden von Gott, aber auch von der Sünde bedeutet. Ein anderer (»Überlegungen zur Gedenkfeier für die Verstorbenen der Anatomie in Leipzig«, 210–220), zeigt, wie sich die Vfn. direkt an eine Versammlung überwiegend »konfessionsloser« Menschen wendet.
Die theologischen Denkweisen, von denen sie sich dabei leiten lässt, werden in einem ersten Komplex von fünf Beiträgen in Erinnerung gerufen (vgl. 10–89) Sie sind »Leben in der Geschichte mit Gott« überschrieben. Das ist die Kurzformel für ein am biblischen Erzählen von Gott orientiertes theologisches Denken. Gott kann, wo diese Orientierung grundlegend ist, nicht mehr in der Tradition des metaphysischen Denkens wie ein allmächtiger »Allesmacher« (63) verstanden werden. Biblisches Erzählen übt, wie die Vfn. zu wiederholen nicht müde wird, ein »Gedenken Gottes« (59 u. ö.) ein, durch das Menschen an einer »Bewegung Gottes« (17 u. ö.) An­teil bekommen. Es ist die »Bewegung des Erbarmens« (30 u. ö.), die konstitutiv für das biblische Gottesverständnis ist.
»Erbarmen« wird als die »Fähigkeit« verstanden, »sich Leben und Menschen und Not bis ans Herz gehen zu lassen« (ebd.) und auf sie mit der Eröffnung eines neuen »Lebensraumes« (39) einzugehen. Die Psalmen (vgl. 36.39–52), vor allem aber das Kreuz Jesu Christi (vgl. 61–66) zeigen, dass Gott dieses Erbarmen bis zur »Selbstzu­rück­nahme« (53) übt. Er »unterbricht«, entgrenzt und weitet (vgl. 14 f.) mit dem Geist des Erbarmens den geschlossenen Lebensraum der auf die Sünde der »Selbstverwirklichung« (vgl. 56–61) fixierten Menschen. Er bewirkt ein »Verblüffen« darüber – wie die Vfn. besonders gerne sagt (vgl. 35.56 u. ö.) –, wer Gott entgegen allen Bildern von ihm ist. Er integriert Menschen in eine Geschichte von weither und mit einer Zukunft, die »Erbarmen« zum Lebenssinn von Menschen macht.
Ein zweiter Komplex von acht Vorträgen konkretisiert das in verschiedenen Hinsichten (vgl. 90–220). Er trägt die einem dieser Vorträge entlehnte Überschrift »Das Kreuz in der Mitte der christlichen Kirche« (vgl. 158–172). Die Vfn. wendet sich gegen alle Interpretationen des Kreuzes Jesu Christi, die einer »Logik« folgen, »nach welcher der Zorn des himmlischen Vaters durch ein Opfer be­schwichtigt werden müsse« (169). Das Kreuz »enttäuscht« aber auch alle Gottesvorstellungen, die Gott nur in einer »heilen Welt« wahrzunehmen vermögen (vgl. 164). »Gott selbst« war vielmehr »im To­de« Jesu Christi (169). In der »Logik der Bewegung des Erbarmens« (169) war er das geradezu mit »innerer Notwendigkeit« (167). Denn er tritt in dieser Bewegung immer für Menschen ein, »wo Leben zerstört und verwirkt ist« (169), und durchbricht mit dieser Hingabe an Leid und Tod »Lebenszerstörung, Gottesferne und Lieblosigkeit« (167). »Gott in der Zeit« (vgl. 93–112) »steht gegen den gewaltsamen Abbruch der Zeit eines jeden Menschen« (112). Er schenkt vielmehr Zeit für ein freies Gestalten der Gegenwart, das nicht mehr von der Angst bestimmt ist, im »Schwinden der Zeit« das eigene Selbst zu verlieren.
In zwei Beiträgen zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Entwürfen feministischer Theologie (vgl. 113–131: »Frauensünde?«; 132–149: »Das Kreuz mit dem Selbst«) übt die Vfn. darum Kritik an Theologiekonzepten, bei denen »das Thema Selbstsuche die gesamte Theologie auf die Identitätsproblematik schrumpfen lässt« (148). Weibliche Erfahrungen von Sünde und Gottesglaube müssen zwar gegen den Patriarchalismus der theologischen Tradition geltend gemacht werden, der Vfn. liegt aber daran, dass in der »Geschichte Gottes« menschliche Erfahrungen nicht »ein für allemal fixiert« (149) und so zum Kriterium christlicher Theologie und Verkündigung werden. Auf die Zukunft neuer Erfahrungen ausgerichtet zu sein, ist vielmehr Charakteristikum einer Kirche, die in ihren Gottesdiensten die Freiheit von der menschlichen Selbstfixierung feiert (vgl. hierzu den Vortrag: »Kirche auf dem Weg ins dritte Jahrtausend«, 173–190).
Am Schluss des Bandes hat die Vfn. unter der Überschrift »Der Realismus der Barmherzigkeit« Beiträge zur bioethischen Debatte (223–239), zur Medizinethik (242–251; 252–261), zur »Sterbehilfe« (262–273) und zum Thema »Vorsehung und Behinderung« (274–282) zusammengestellt. »Realismus der Barmherzigkeit« bedeutet: Menschen werden in der Realität ihrer subjekt-fixierten Lebensführung als des »Erbarmens bedürftig und offen für Neuschöpfung« wahrgenommen (227). Die Vfn. wendet sich darum gegen einen wissenschaftlich-forschenden und lebenspraktischen Um­gang mit dem Beginn, mit dem Vollzug und dem Ende menschlichen Lebens, bei dem das Leitbild autonomer Verfügung über das menschliche Leben durchscheint. Der »Realismus der Barmherzigkeit« setzt sich für das Offenhalten der Lebensmöglichkeiten und für die Respektierung der Grenzen menschlichen Lebens ein, die allein in Gottes Hand liegen. Er ist ein starker Anwalt der Menschenwürde, die dem Zugriff von Menschen und damit allem »Verbrauch« menschlichen Lebens entzogen ist. Im Zusammenhang der Erörterung der ethischen Verantwortbarkeit der Genforschung ist der Begriff des »menschlichen Lebens«, den die Vfn. verwendet, m. E. zwar präzisierungsbedürftig. Die Sensibilität für die Spielräume und Grenzen menschlichen Handelns, die Gottes Erbarmen im Verständnis der Vfn. bewirkt, darf dabei aber auf keinen Fall verloren gehen.
Die in einer genuin biblischen Entdeckung begründete Einseitigkeit, in welcher die Vfn. das »Erbarmen Gottes« ins Zentrum rückt, dürfte überhaupt das eigentlich Wertvolle dieses Bandes theo­logisch engagierter Zeitgenossenschaft sein. Es verwundert so­gar ein wenig, warum er nicht einfach »Gottes Erbarmen in unserer Zeit« überschrieben ist. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass »Erbarmen« in der Alltagssprache unter die »verlorenen Worte« geraten ist und sich deshalb nicht als werbeträchtiger Titel empfiehlt. Die Intensität, mit der die Vfn. ein mit diesem Wort bezeichnetes Wesensmerkmal des biblischen Gottes in seiner Beziehung auf die Menschenwelt auslotet, zeigt aber, dass gerade dieses für Menschen heute fremd gewordene Wort sie mit dem ihnen fremd gewordenen Gott auf eine ihre Erfahrungen ernst nehmende Weise neu vertraut machen – oder sei es denn »verblüffen« – kann. Der Mut zur auch ungewohnten Konkretion, in der Gott laut biblischer Erfahrung für Menschen Gott ist, darf der evangelischen Kirche und der Theologie nicht verloren gehen. Er schafft in einem gottesvergessenen Umfeld Ankerplätze für Gotteserfahrung.