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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1108 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wolzogen, Christoph von

Titel/Untertitel:

Emmanuel Levinas – Denken bis zum Äußersten.

Verlag:

Freiburg: Alber 2005. 231 S. 8°. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-495-48172-1.

Rezensent:

Joerg H. Y. Fehige

Emmanuel Levinas ist ohne Frage eine der herausragenden Persönlichkeiten des 20. Jh.s. Aus meiner Sicht imponiert besonders seine Doppelpassion als Philosoph und Theologe samt seinem Bemühen, diese Leidenschaften systematisch nicht zu vermischen. Philosophisch der Phänomenologie (18), theologisch dem Ostjudentum (17) verhaftet, ist Levinas in den letzten 20 Jahren auch in Deutschland zunehmend populär geworden. Besonders die christliche Theo­logie versucht, an ihn anzuknüpfen, um die nach wie vor drängende Verhältnisbestimmung von Glauben und Vernunft in Angriff zu nehmen. Dies scheint begrüßenswert, wenn man weder an die Wittgensteinsche Strategie (die sich Jürgen Habermas zunehmend zu Eigen macht und so die Diskurstheologen in Verlegenheit bringt) noch an die Lösungsansätze der Analytischen Philosophie anknüpfen möchte. Man muss dabei sicherlich nicht befürchten, dass der Diskurs klarer wird. Levinas zu lesen und zu verstehen, ist eine Herausforderung.
Christoph von Wolzogen wird mit seinem Sammelband sicherlich nicht den Anspruch erheben wollen, eine große Hilfestellung zu liefern, um leichter durch das Dickicht der Schriften von Levinas zu kommen. Studien der letzten 20 Jahre, einige schon vorab veröffentlicht, andere erstmals abgedruckt, dienen dem Aufweis der Leitthese, dass Levinas für die Vorgängigkeit des Ethischen in der intersubjektiven Begegnung eintritt (9.78.81.137.155.159.211.213). Levinas, so W., tritt für eine metaphysische Asymmetrie in der intersubjektiven Begegnung ein. Diese Begegnung ist folglich keine Beziehung (202), sondern ein Verhältnis, eine Obsession, ein Trauma, eine Verfolgung. Der Andere, das große Thema von Levinas, ist eine Infragestellung des Selben. Diese Infragestellung der je eigenen Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen wird als Ethik bezeichnet (10.169). Sehr gut gewählt und häufig angeführt ist Levinas’ Diktum aus seiner Schrift Totalität und Unendlichkeit, dass der Andere für die Vernunft nicht ein Skandal ist, der sie in eine dialektische Bewegung versetzt, sondern die erste vernünftige Unterweisung (131.190). Überzeugend ist die Zurückführung dieser Emphatik des Anderen auf den extremen Individualismus der Talmudtradition (188.216–219). Bedenkenswert ist die Kritik von Bemühungen, Levinas in die Tradition der Dialogphilosophie zu zwängen (81). Hier hätte man allerdings mehr über die Gründe erfahren wollen, die einen zögern lassen, in Levinas’ Philosophie ein dialogisches Denken am Werk zu sehen. Es ist auf jeden Fall plausibel, Levinas so zu lesen, dass er sich um eine Normativität zur Bereicherung der Ressourcen praktischer Philosophie bemüht, die weitaus basaler ist als die moralische Normativität (140–141). Auf die Notwendigkeit einer solchen basaleren Normativität hat jüngst in einem beachtenswerten Essay Harry G. Frankfurt aufmerksam gemacht (Gründe der Liebe, Suhrkamp 2005). Insofern hierin die eigentliche Sprengkraft des Levinasschen Denkens liegt, wäre das theologische Bemühen um Levinas in der Tat nicht vereitelt. Dies zumal deswegen, weil sich Levinas bei dem Bemühen um eine basalere Normativität als ein Denker der sozialen Beziehung insofern auszeichnet, dass er sie als unhintergehbare Beziehung der Transzendenz denken will (140–142). Für die Theologie ergibt sich das Problem der absoluten und doch nicht unüberbrückbaren Transzendenz im Offenbarungstraktat. Gott, der absolut transzendente, offenbart sich den Menschen ohne Einbuße seiner Transzendenz. Philosophisch korrespondiert dieser Spannung im Denken von Levinas eine Verhältnisbestimmung von biblisch orientierter Theologie einerseits und der sich mit den Vorsokratikern etablierenden westlichen Philosophie andererseits jenseits von friedlicher Koexistenz und Versöhnung (153.165.180.183.212). Theologisch korrespondiert der angesprochenen Spannung im Denken von Levinas eine unhintergehbare Offenheit der Offenbarung: Weil das Gesetz nicht vollendet ist, weil es in seiner kanonischen Form als Halacha immer unterwegs ist und in diesem Sinn kein Produkt, sondern Produktion ist, bedarf es der Wiederholung des Anderen zu seiner Vollendung (188).
Diese offenbarungstheologische Position verlangt natürlich be­sonders deswegen nach systematischer Klärung, weil es nicht mehr so ganz klar ist, was es heißen soll, dass die Heilige Schrift Wort Gottes enthält. Bei der systematischen Klärung wird W.s Sammelband nicht helfen können. Nicht etwa deswegen, weil sich hier ein Philosoph um Levinas bemüht. Vielmehr deswegen, weil sich W. über die zehn Kapitel hinweg eher für eine philosophiehistorische Verortung von Levinas’ Denken interessiert: Natorp, Heidegger, Hegel, Husserl, Lyotard, Cohen, Kant. Auch wenn W. seine Studien thematisch zu orientieren versucht, ist nicht selten sehr schwer nachzuvollziehen, worauf er hinaus will. Es fehlen einfach eine aussagekräftige Einleitung und ein Sachindex, um mit diesen Studien systematische Arbeit bewerkstelligen zu können. In der vorgelegten Edition erlauben die Studien nicht, mit Levinas bis zum Äußersten zu denken.