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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1101–1103

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Capelle, Philippe

Titel/Untertitel:

Finitude et mystère.

Verlag:

Paris: Cerf 2005. 235 S. 8° = Philosophie & théologie. Kart. EUR 25,00. ISBN 2-204-07976-6.

Rezensent:

Martin Leiner

Arbeiten über das Verhältnis von Philosophie und Theologie leiden nicht selten an einem typischen Mangel. Philosophie und Theologie werden als zwei Blöcke behandelt, die man als solche in ein Verhältnis setzt. Dieses Verhältnis ist nach einer neuscholastischen Lesart das einer Überordnung der übernatürlichen Wissenschaft Theologie über die Philosophie, die dann als Ausdruck der natürlichen Vernunft angesehen wird. Nach einer bestimmten lutherischen Tradition, die Unterstützung bei Blaise Pascal findet, wird stattdessen der Gegensatz zwischen Philosophie und Theologie, Vernunft und Glaube betont.
Es stellt einen nicht geringen Fortschritt dar, wenn man sieht, wie Philippe Capelle, Ehrendekan der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique in Paris und Vorsitzender der Weltkonferenz der philosophischen Fakultäten an katholischen Universitäten (Comiucap), das Konzept eines viel differenzierteren Verhältnisses von Philosophie und Theologie entwickelt.
Im Hintergrund steht folgende historische These: Antike und Mittelalter zielten auf eine Absorption der Theologie in die Philo­sophie (bei Plato als theiologie; bei Aristoteles als theologie) oder umgekehrt (so Justin und Augustin). Das Hohe Mittelalter ent­wickel­te eine Überordnung der Theologie über die Philosophie (Thomas) und die Neuzeit vertrat eine meist polemische Trennung von Philosophie und Theologie (so Ockham, Luther, Descartes), die sich bis heute in einem gegenseitigen Desinteresse zeigt (11–13.9). Nun breche, so C.s These, eine Zeit an, in der man Theologie und Philosophie als zwei irreduzible, nebeneinander bestehende Denkformen anerkennen müsse. Keine von ihnen könne die Vereinheitlichung des Wissens leisten. Dabei öffnet sich das Diskussionsfeld um zwei weitere Partner: die Einzelwissenschaften und die Ästhetik (33–39). Unter diesen vier Größen besteht ein Spiel vielfältiger notwendiger Interaktionen. Um dieses Spiel näher zu erläutern und um die These einer neuen Phase im Verhältnis von Philosophie und Theologie zu begründen, veröffentlicht C. in diesem Band eine Reihe von Vorträgen, die er selbst in den Jahren 2000–2005 gehalten hat. Flankiert wird das Werk durch eine vierbändige Anthologie zur Geschichte des Verhältnisses von Philosophie und Theologie (Bd. 1 und 2, Antike und Mittelalter, sind 2005 in Paris erschienen). Der besondere Akzent des neuen Verhältnisses von Theologie und Philosophie wird durch den Titel bezeichnet: Endlichkeit und Geheimnis sind Charakteris­tika sowohl der Theologie als auch der Philosophie (14). Theologie und Philosophie sollen sich gegenseitig daran erinnern, dass der Mensch Mensch und Gott Gott ist (77). Neben dieser vorrangig auf Einsicht in Endlichkeit ausgerichteten Interaktion zwischen Theologie und Philosophie spricht C. aber auch andere Verhältnisse an: So kann die Theologie beispielsweise der Philosophie neue Impulse und Denkaufgaben mitteilen (10), wie C. an der Aufnahme der Inkarnation bei Vattimo und Henry zeigt (26–30). Man kann den Glauben im Grunde des Wissens finden und sich bei diesem Glauben fragen, wie er sich zum christlichen Glauben verhält, so wie C. im Anschluss an Derrida ausführt (24–26). Man kann etwa auch mit Francis Jacques von der Philosophie kommend wiederentdecken, wie sehr die Frage und das insistierende Fragen Kennzeichen des biblischen und theologischen Denkens ist (30–32).
In den drei Kapiteln: »Abgrenzungen«, »Institutionen« und »Ge­stalten« werden die unterschiedlichen Facetten der Thematik deutlich. Der erste Vortrag über den Glauben und philosophische Strömungen der Gegenwart wurde bereits dargestellt. Bleibt noch zu ergänzen, dass C. als ausgezeichneter Kenner Heideggers es nicht versäumt, die jeweiligen Bezüge zu dem deutschen Philosophen deutlich zu machen. Die übrigen vier Aufsätze im Kapitel »Abgrenzungen« sind eher programmatisch ausgerichtet. Bemerkenswert sind einmal die Rolle, die C. der biblischen Weisheit zuweist. Sie ist an ganz anderen Orten zu finden, als die philosophische Weisheitssuche glaubt, sie finden zu können: in dem neugeborenen Jesuskind (Lk 2,40) und im Gekreuzigten (1Kor 1,20–24) (53 f.). Dies führt zu der Forderung, dass die Philosophie auch biblische Inhalte im Dialog mit der Theologie bedenken soll (55). Bemerkenswert ist ferner, dass C. eine Transformation der Apologetik ins Auge fasst, die zu einer Wissenschaft der Kommunikation der Rationalitäten werden soll (92). Apologetik ist unvermeidbar, sie endet aber meistens mit einem Schweigen, über das C. die Worte Karl Barths zu Hegel stellt: »Eine große Frage, eine große Enttäuschung und vielleicht – trotz allem – eine große Verheißung« (93).
Das zweite Kapitel »Institutionen« behandelt die lehramtlichen Äußerungen zur Philosophie, insbesondere »Aeterni Patris« und »Fides et ratio«, sowie die Rolle und die Freiheit der Philosophie in katholischen Universitäten. C. greift gerne die Impulse des Lehramtes für verstärkte philosophische Studien auf und betont die interdisziplinäre Offenheit, die die Philosophie in katholischen theologischen Fakultäten kennzeichnen soll.
Das dritte Kapitel besteht aus Einzelstudien zu den vielfältigen Beziehungen, die zwischen Philosophie und Theologie bestehen. Der Aufsatz »Heidegger als Leser Augustins« geht aus von Heideggers autobiographischen Äußerungen zu seiner katholischen Herkunft (die bei Heidegger immer auch Zukunft bedeutet) und seiner Begegnung mit dem Protestantismus als etwas zu Überwindendem (vgl. Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 96, und Besinnung, GA 66 [1998], 415). C. stellt die augustinischen Einflüsse auf Heideggers Zeitverständnis und auf seine Rede von Faktizität und von »Vorlaufen« dar, bemerkt aber gleichzeitig die Selektivität der Augustininterpretation. Fast noch interessanter als diese werkgeschichtlichen Deutungen ist eine Frage von Jacques Derrida, die am Ende des Aufsatzes abgedruckt ist (166 f.). Derrida teilt die Auffassung, dass man durch die Veröffentlichung der frühen Vorlesungen und weiterer Texte Heideggers den Einfluss des Christentums auf ihn stärker betonen muss. Er geht sogar über C. hinaus, indem er Heideggers Entfernung von seinen christlichen Wurzeln immer auch als ein auf sie Bezogensein verstanden wissen will. C. betont in seiner Antwort, dass eine theologische Lesart Heideggers nicht gerechtfertigt sei, und verteidigt das Recht der christlichen Theologie, gegen Heideggers Einsperren der christlichen Theologie in die Ontotheologie zu protestieren (167 f.). Die zweite Studie über Edith Stein zeigt den inneren Zusammenhang von Phänomenologie und Mystik, die sich im Lauf eines Lebens- und Denkweges gegenseitig auf den Plan rufen (169–180). Die beiden folgenden Studien über Blondels »Histoire et dogme« (1904) und Karl Löwiths »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« (1953) behandeln die Begegnung von Philosophie und Theologie im Feld des Themas Geschichte, während die abschließende Studie über Hans Urs von Balthasar die vielfachen Beziehungen zwischen Theologie und Phänomenologie von Seiten eines Autors thematisieren, der normalerweise der Theologie zugeordnet wird.
Das neue Verhältnis, das C. für Philosophie und Theologie entwickelt, könnte sich im Protestantismus auf das Beispiel Schleiermachers und Ricœurs berufen. Es ist vielversprechend für die Zukunft.