Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1097–1100

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hebeisen, Erika

Titel/Untertitel:

Leidenschaftlich fromm. Die pietistische Be­wegung in Basel 1750–1830.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2005. VII, 334 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 3-412-14305-7.

Rezensent:

Martin H. Jung

Dieses Buch gibt, anders als es der Untertitel vermuten lassen könnte, keinen geschichtlichen Überblick über den Pietismus in Basel im Übergang zur Erweckungsbewegung, sondern behandelt, wie die Überschrift der Einleitung formuliert, exemplarisch die »Geschichte gewöhnlicher Frommer« (1) in Basel innerhalb dieses Zeitraums. Sie interessiert sich für den gelebten Pietismus, für die einzelnen Menschen und ihre Familien, für Kommunikations- und Sozialisationsprozesse, für »die Aneignung von pietistischer Religiosität durch einzelne Akteurinnen und Akteurgruppen« (25) und führt dies in dichter Beschreibung am Beispiel von zwei prominenten Baseler Familien durch. Gleichzeitig bekundet die Un­tersuchung ein starkes Interesse an der Geschlechterforschung.
Die beiden Familien sind die des Strumpfwarenfabrikanten Johannes Brenner und die von Johann Rudolf Burckhardt, einem Pfarrer. Bei beiden hat sich ein Familienarchiv erhalten, das neben anderen Archivalien ausgewertet wurde. Allerdings ließen sich in den Archiven kaum wirklich intime Quellen finden, es gibt kaum private Briefe und keine Tagebücher. Außerdem zeugen die Familienarchive mehr von den männlichen Familienmitgliedern als von den weiblichen. Dieser Tatbestand markiert die Grenzen, die dem »akteurzentrierten, geschlechtergeschichtlichen Zugriff auf pietistische Religiosität« (28) vorgegeben waren.
Die Familie Brenner, eine wohlhabende, alteingesessene Familie der Stadt, war in der Mitte des 18. Jh.s im radikalen, obrigkeitskritischen Flügel des Pietismus engagiert. Sechs der acht Familienmitglieder waren in den Baseler Separatistenprozess 1750/51 involviert und saßen wegen ihrer »pietistischen Umtriebe« teilweise mehrere Jahre im Gefängnis. Die Vfn. stellt diese Auseinandersetzungen anhand verschiedener Archivalien, die sich erhalten haben, darunter die Verhörprotokolle, detailliert dar und gibt somit neue Einblicke in jene bewegenden Jahre und in »die Formierung der radikalpietistischen Bewegung« (28). Ihr Interesse gilt dabei den einzelnen Akteuren, insbesondere den beteiligten Frauen, und den von ihnen »ausgebildeten Frömmigkeitspraktiken« (28) inklusive ihres Erlebens und Verarbeitens der Verfolgung und Bestrafung. Näher porträtiert werden u. a. die radikalpietistische Dienstbotin Elisabeth Mächtig (142–147) und die ebenfalls dem radikalen Pietismus zugehörige Ehefrau Magdalena Miville-Strasser (147–151). Thematisiert werden aber auch die öffentlichen Auseinandersetzungen um den radikalen Pietismus. Theologische Aspekte bleiben jedoch ausgeklammert. Die Untersuchung kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass das Verhalten der Baseler Radikalpietisten andere Baseler dazu »ermutigt« hat, trotz des Verbots pietistischer Versammlungen »ihre Religiosität gemeinschaftlich zu pflegen« (96).
In die Darstellung integriert ist ein kurzes, auf Sekundärliteratur basierendes Porträt von Hieronymus Annoni (99 f.). Weiterführend ist die Vorstellung der Pietisten-Gegner Johann Jakob Spreng (101–105) und Christoph Beck (105–108). Spreng war Professor und Gefängnisseelsorger und hing Gedanken der Aufklärung an, Beck war ebenfalls Professor und in kirchenleitender Funktion tätig und gilt als Vertreter der »vernünftigen Orthodoxie«.
Der Familie Brenner ist der erste der beiden Hauptteile der Untersuchung gewidmet, das unter der Überschrift »In Bewegung: Religiosität praktizieren und produzieren« firmierende Kapitel II. Diese Überschrift lässt nicht erkennen, um was es faktisch geht, sondern formuliert das inhaltliche Interesse und Ziel der Untersuchung. Diese Art der Überschriftenformulierung charakterisiert die ganze Arbeit. Sie ist wohl überlegt, aber für den Leser nicht unproblematisch. Der an den Ereignissen an sich oder an den konkreten Personen interessierte Leser findet anhand der Überschriften keine Orientierung. Die Vorstellung der Mitglieder der Familie Brenner (151–172) wird unter der Überschrift »Religiosität im biografischen Wandel« versteckt. Erschwerend kommt hinzu, dass eine um ihre jeweiligen Themen kreisende, keine lineare, keine chronologische Darstellungsform gewählt wurde.
Unter der Überschrift »Zwischen Generationen: Religiosität formen und aneignen« wird in Kapitel III und damit im zweiten Hauptteil der Untersuchung die Familie Burckhardt vorgestellt, eine ebenfalls alteingesessene und ebenfalls wohlhabende Familie, die viele Pfarrer hervorbrachte, aber auch in der Seidenband-Indus­trie und im Handel tätig war. Aus ihr stammt der berühmte Kulturhistoriker Jakob Burckhardt, der jedoch selbst, geboren 1818, in der Untersuchung keine Rolle mehr spielt. Durch die Beleuchtung der Familie, aus der er stammte, trägt die Untersuchung aber auch etwas zur Burckhardt-Forschung in diesem Sinne bei. Das Hauptinteresse gilt jedoch der »familienbezogene[n] Tradierung pietistischer Religiosität von Generation zu Generation und [der] Aneignung entsprechender Lebensweisen« (28).
Die Familie Burckhardt war mit der Familie Brenner bekannt und teilweise sogar verwandt, wie das in städtischen Oberschichten nicht unüblich ist, aber sie war nicht radikalpietistisch engagiert, sondern in zwei für Basel wichtigen Organisationen verankert, der Deutschen Christentumsgesellschaft und der örtlichen Sozietät der Herrnhuter Brüdergemeine. Die Untersuchung trägt somit indirekt auch zur Erforschung der Christentumsgesellschaft und des Herrnhuter Pietismus bei. Das Pfarrhaus Burckhardt, die dort abgehaltenen pietistischen Versammlungen, die Christentumsgesellschaft und die Brüdersozietät, die entgegen ihrem Namen, wie gezeigt wird, stark weiblich dominiert war, werden unter der Überschrift »Räume pietistischer Selbstvergewisserung« (195) dargestellt.
Im Abschnitt »Ehe zwischen Hierarchie und Gottesdienst« (190) wird die Verbindung Pfarrer Rudolf Burckhardts mit Margaretha Merian, einer ehemaligen Konfirmandin des Pfarrers, behandelt. Trotz der 20 Jahre Altersunterschied zwischen den beiden war die Ehe, wie anhand von Briefen gezeigt wird, von gegenseitiger Wertschätzung gekennzeichnet und vom protestantischen Eheideal ebenso geprägt wie vom gottesdienstlichen pietistischen Eheideal.
Verfolgt werden die Schulung und Ausbildung der Söhne und ihre Karrieren und die im Gegensatz dazu nur »fragmentarische Bildung« (237) der Töchter. Hierbei werden allerdings interessante Einblicke gegeben in die Rolle von Montmirail bei der pietistischen Mädchenerziehung in der Schweiz. Insgesamt gibt es, wie die Vfn. bedauernd feststellt, nur wenige Informationen über das Leben der Töchter zwischen Taufe und Heirat. Die »Erinnerung an die weibliche Jugend« wurde bei der »Produktion von Quellen« in der Familie Burckhardt »systematisch« vernachlässigt (245). Der Werdegang der Söhne ist jedoch gut dokumentiert. Sie entfernten sich teilweise zeitweise oder ganz vom Pietismus, womit sich in der Terminologie der Vfn. »Relativierungen ... von Frömmigkeit« (30) vollzogen.
Unter der Überschrift »Mentale Modellierungen im Elternhaus« (208) werden, frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtlich interessant, der pietistische Umgang mit Geburt und Tod, Schmerz, Angst und Trauer sowie Eltern-Kind-Beziehungen und die häusliche Erziehung und Bildung thematisiert .

Die Untersuchung betrachtet Einzelfälle, wenige Einzelfälle. Es stellt sich die Frage, ob man sie verallgemeinern kann. Was war typisch, was war untypisch? Auf jeden Fall geben die behandelten Fälle »gewöhnlicher Frommer« nur Einblicke in die Oberschicht und sind insofern auf jeden Fall untypisch, denn der Pietismus war auch bei Handwerkern und Bauern verankert. Einblicke in das Leben der einfachen gewöhnlichen Menschen zu gewinnen, wäre leider nicht in gleicher Weise möglich.
Die Studie ist originell hinsichtlich ihrer Quellenbasis, hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes und hinsichtlich ihrer erkenntnisleitenden Interessen. Es wird ein anderer Blickwinkel eingenommen als der in der Kirchen- und Theologiegeschichte übliche. Wirklich Neues oder Überraschendes wird jedoch nicht zu Tage gefördert. Kommunikationswege, Vergesellschaftungsformen und Geschlechterverhältnisse gehörten zwar nicht zu den Standardthemen der älteren Pietismusforschung, haben sich aber in der jüngeren Pietismusforschung bereits fest etabliert. Davon zeugt der vierte Band des Handbuchs »Geschichte des Pietismus«. Vergleicht man die im Schlusskapitel (289–304) festgehaltenen Ergebnisse der Studie mit den einschlägigen Kapiteln des Handbuchs, so wird man kaum Neues entdecken. Dies gilt auch für die Gesamtbewertung des Pietismus als einer modernisierenden Be­wegung. Die »Strategien der Vergesellschaftung« und die »so­zi­ale[n] Praktiken«, die im Pietismus entwickelt wurden, waren, so stellt die Vfn. fest, »genuin modern« (289). Diese Sicht widerspricht zwar Vorurteilen, wie sie gerade in kirchlichen Kreisen unter dem Eindruck des real existierenden Pietismus noch heute bestehen, ist für die Forschung aber ein alter Hut. Schon Horst Stephan hatte den Pietismus als »Träger des Fortschritts« bezeichnet, und dass der Pietismus erhebliche Gemeinsamkeiten mit der Aufklärung hat, lässt sich in den von Kirchenhistorikern verfassten einschlägigen Lehrbüchern nachlesen.
Somit liegt der bleibende Wert der Untersuchung letztlich doch wieder im Bereich der auf Grund der Arbeit mit neuen Quellen gefundenen biographischen und ereignisgeschichtlichen Fakten und Zusammenhänge. Diese sind jedoch, wie schon deutlich wurde, wegen der Eigenarten der Überschriftengestaltung in dem Buch nur schwer aufzufinden. Die Verwertung des Buches wird leider auch nicht durch Register erleichtert. Auf diese wurde nämlich gänzlich verzichtet. Sach-, Personen- und Ortsregister wären möglich und sinnvoll gewesen. Ein Personenregister hätte den Zugriff auf die Fülle personenbezogener Informationen, die der Band enthält, ermöglicht. Ein Sachregister hätte Themen wie Abendmahl oder Taufe erschlossen. Ein Ortsregister hätte die weit verstreuten Informationen zu Montmirail zugänglich gemacht. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis ist jedoch vorhanden.
Die Studie ist als geschichtswissenschaftliche Dissertation in Basel entstanden. Merkwürdig berührt, dass an keiner Stelle der Arbeit auf die in Basel in der Theologie beheimatete kirchen- und theologiegeschichtliche Pietismusforschung Bezug genommen wird.