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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1093–1095

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brecht, Martin, u. Paul Peucker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 294 S. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 47. Geb. EUR 56,90. ISBN 3-525-55832-5.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Diese Aufsatzsammlung geht zurück auf Vorträge, die auf einer Tagung gehalten wurden, die anlässlich des 300. Geburtstags Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorfs im Oktober 2000 in Herrnhut stattfand. Sie wurde veranstaltet von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Es kann nur begrüßt werden, dass die Ergebnisse der Tagung mit diesem Band einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Immerhin gilt Zinzendorf – mindestens seit dem Jubiläumsjahr – anerkanntermaßen als einer der originellsten und inspirierendsten theologischen Denker und Praktiker des Protestantismus.
Der Sammelband spannt einen weiten Bogen, sowohl in inhaltlicher als auch in geographischer und zeitlicher Hinsicht. Inhaltlich: Es werden nicht nur theologische Fragestellungen aufgegriffen, sondern z. B. auch literaturwissenschaftliche Überlegungen der Zinzendorf-Forschung dokumentiert. Geographisch: Die Aufsätze zeigen die weltweiten Wirkungen von Zinzendorfs Theologie und gemeinde-praktischer Tätigkeit, die vom europäischen Festland über England bis nach Übersee reichten. Zeitlich: Zinzendorfs Leben und Werk werden nicht nur in seinen verschiedenen Lebensphasen thematisiert, vielmehr findet auch dessen Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart hinein angemessene Berücksich­tigung. Es gelingt dem Sammelband auf diese Weise, die Zinzendorf-Forschung aus der Beschränkung sowohl auf theologische Fra­gestellungen als auch auf die Zinzendorf-Zeit zu befreien und ihr gegenüber früheren Forschungsansätzen einen um vieles weiteren Horizont und ein reiches, noch weithin unbeackertes Betätigungsfeld zu erschließen. Damit beschreitet der Band den gleichen Weg, der bereits von der mehrbändigen »Geschichte des Pietismus« eingeschlagen worden ist, die vom gleichen Herausgeber im selben Verlag vor einigen Jahren veröffentlicht wurde.
Zum Inhalt im Einzelnen: Das Werk lässt sich in zwei – verschieden umfängliche – inhaltliche Teile untergliedern. In einem ersten, längeren und auch gewichtigeren Teil wird das Wirken des Grafen in dessen unterschiedlichen Lebensphasen wie ein bunter Blumenstrauß vor dem Leser ausgebreitet. Dabei werden wesentliche Themen der Zinzendorf-Forschung neu aufgegriffen: Hans Schneider unterzieht Zinzendorfs Ekklesiologie einer relecture. Thilo Daniel untersucht das Wirken des jungen Grafen im Rahmen des Dresdner Pietismus. Horst Weigelt thematisiert dessen Verhältnis zu den Schwenckfeldern; Edita Sterik seine Beziehungen zu den unterschiedlichen böhmischen Emigrantengruppen außerhalb Herrnhuts. Pia Schmid geht den Hintergründen und Besonderheiten der Kindererweckung in Herrnhut von 1727 nach. Hans-Jürgen Schrader beschreibt ausgehend von den im neuen Gesangbuch enthaltenen Zinzendorf-Liedern diesen als Dichter. Carola Wessel stellt Zinzendorfs Missiologie dar. Craig Atwood bemüht sich unter kritischer Sichtung der bisherigen brüderischen Historiographie um einen vorurteilsfreien Zugang zu den Überlegungen des Grafen aus der sog. Sichtungszeit (den 1740er Jahren). Colin Podmore schließlich fragt nach den Ursachen, warum Zinzendorfs Gedanken in den englischen Brüdergemeinen schon bald nach seinem Tod weithin vergessen wurden.
In den Beiträgen des zweiten Teils des Buches geht es um die Wirkungsgeschichte des Grafen: zunächst zu seinen Lebzeiten, vor allem aber in der Zeit nach seinem Tod bis in die Gegenwart. Martin Brecht stellt die Zinzendorf-Sicht seiner kirchlichen und theologischen Kritiker dar. Paul Raabe geht der Wirkung Zinzendorfs auf den kritischen Bewunderer Goethe nach. Eberhard Busch zeichnet Karls Barths Stellung gegenüber der Theologie des Grafen nach. Hans-Christoph Hahn zeigt auf, wie unterschiedlich das Bild Zinzendorfs in den verschiedenen Zeitepochen zwischen 1760 und 1900 aussah. Abgeschlossen wird der Band mit Dietrich Meyers Versuch, Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung zu skizzieren. Insgesamt bietet der Band vielfältige Perspektiven auf Zinzendorfs Werk und stellt auf diese Weise eine gute Einführung in das Denken des Grafen dar.
Trotz dieses positiven Gesamteindrucks stellen sich bei der Lektüre auch einige Fragen. So habe ich mir überlegt, wieso nicht der Akzent stärker auf solche Gebiete der Zinzendorf-Forschung gelegt worden ist, die weniger erforscht und zudem gegenwärtig be­son­ders relevant sind: seine Stellung zur Musik, zur Pädagogik und zu Frauen. Wieso ist angesichts des neuen Interesses am Gottesdienst seine Liturgik nicht aufgegriffen worden? Gewünscht hätte man sich auch ein Beispiel für die sozialgeschichtliche Perspektive auf Zinzendorf und die Brüdergemeine (ich erinnere an die in den letzten Jahren in Gang gekommene Erforschung der vielen in den Brüdergemeine-Archiven erhaltenen Lebensläufe von Mitgliedern der Brüdergemeine). Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Themen, die in diesem Band behandelt werden, bereits früher wesentlich ausführlicher – z. T. monographisch – untersucht worden sind. Ich erspare mir hier Nachweise im Einzelnen und verweise nur auf die bereits erwähnte mehrbändige »Ge­schichte des Pietismus«, auf viele Beiträge aus »Unitas Fratrum«, aber auch auf die Arbeiten von Erich Beyreuther, dem verstorbenen Altmeister der Zinzendorf-Forschung. Dadurch ergibt sich die Frage nach dem Erkenntnisfortschritt des vorgelegten Tagungsbandes, wobei zuzugestehen ist, dass die Frage weder an alle Artikel zu stellen ist noch die Funktion des Buches als Einführung in Zinzendorfs Wirken von dieser Kritik betroffen wird.
Dass ich an verschiedenen Stellen auch inhaltlich von den vorgelegten Ergebnissen nicht überzeugt bin, steht auf einem anderen Blatt und kann die Diskussion um Zinzendorfs Theologie befruchten. Das gilt besonders im Hinblick auf den Beitrag von Hans Schneider zu den ekklesiologischen Überlegungen des Grafen. Ich habe mit einer gewissen Verwunderung seine These zur Kenntnis genommen, wonach Zinzendorf einen durch und durch philadelphischen Ansatz vertreten habe. Diese Frage ist in der Vergangenheit schon mehrfach kontrovers diskutiert worden, allerdings mit dem Ergebnis, dass eine einseitige philadelphische Interpretation entsprechender Aussagen Zinzendorf nicht gerecht wird. Auch meine eigenen Forschungen haben mich zu einem anderen Ergebnis als Schneider gelangen lassen. Ohne den Grafen zum orthodoxen Lutheraner machen zu wollen, scheinen mir seine vielfältigen ekklesiologischen Aussagen und sein lebenslanger Einsatz dafür, dass die Brüdergemeine nach Selbstverständnis und Außenwahrnehmung nicht Freikirche wurde, sondern in der Landeskirche verblieb, in eine andere Richtung zu deuten. Selbst das schwere Zerwürfnis mit seiner Frau nach seiner zweiten Amerikareise hat m. E. darin seinen Grund, dass die Gräfin die Grundbestimmung der Brüdergemeine, wie der Graf sie verstand, in seinen Augen während seiner Abwesenheit verraten hatte: nämlich Menschen in den vorfindlichen Konfessionen zu einem lebendigen Christusglauben zu führen. Ich kann in diesem Zusammenhang auch Dietrich Meyers Auffassung nicht teilen, der Zinzendorfs Bedeutung gerade darin sieht, dass er ein freikirchliches Gemeindemodell geformt habe (275). Dagegen spricht schon die Beobachtung, dass bis nach dem Ersten Weltkrieg sämtliche Bewohner Herrnhuts automatisch Mitglieder der sächsischen evangelisch-lutherischen Kirche waren. Viel eher liegt die Bedeutung von Zinzendorfs Ekklesiologie darin, dass er der vierten Sozialgestalt von Kirche (Hans Dombois), den Orden, gegen größte Widerstände im Protestantismus erstmals Heimatrecht erkämpft hat.
Ungeachtet dieser Kritik bleibt das Buch eine Fundgrube von Einsichten aus dem weiten Raum der Zinzendorf-Forschung. Auch die äußere Aufmachung macht einen positiven Eindruck. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das beigefügte Personenregister.