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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1087–1089

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Briskina, Anna

Titel/Untertitel:

Philipp Melanchthon und Andreas Osiander im Ringen um die Rechtfertigungslehre. Ein reformatorischer Streit aus der ostkirchlichen Perspektive.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2006. 374 S. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII: Theologie, 821. Kart. EUR 56,50. ISBN 3-631-54141-4.

Rezensent:

Günther Frank

Mit dem Streit zwischen Melanchthon und Osiander über das Verständnis der Rechtfertigungslehre greift die Vfn. eine der heftigs­ten Kontroversen der Reformationszeit auf, die auch im 19. und 20. Jh. Gegenstand vielfältiger Untersuchungen wurde. Ihre Analyse der neuzeitlichen Forschungen führt die Vfn. zu den ihre eigene Studie bestimmenden Fragestellungen, denenzufolge sich in der Forschung zwei gegensätzliche Wertungen dieser Auseinandersetzung gegenüberstünden, wobei der Bezug zu Luther in beiden Fällen das Kriterium der Bewertung sei: Einerseits werde Osianders Lehre in Übereinstimmung mit der ursprünglichen lutherischen Reformation gesehen oder im Widerspruch zu dieser. Der gleiche Meinungszwiespalt lasse sich andererseits auch im Blick auf Me­lanchthon beobachten. Daneben sei auffallend, dass die Interpretation der Lehren Osianders häufig auf der Lektüre der antiosiandrischen Schriften Melanchthons, mithin vom »Geist Melanchthons« beschränkt sei, so dass Osiander »oft einfach entstellt« worden sei. So sei der Vorwurf von Johannes Brenz, man habe Osiander Lehren zugeschrieben, die er nie gelehrt habe, noch heute aktuell. In dieser Kontroverse – so die Vfn. – fehle eine eingehende Darstellung und Analyse des theologischen Verhältnisses zwischen Me­lanchthon und Osiander, wobei die Perspektive dieser Kontroverse von einem ostkirchlichen Kontext bestimmt wird, d. h. von der Suche nach »theologischen Motiven ...«, die »den ostkirchlichen analog wären« (47).
Ihre Analyse des theologischen Verhältnisses der beiden Kontrahenten entwickelt die Vfn. in drei umfangreichen Kapiteln: I. Die Zeit von der Ankunft Osianders in Königsberg bis zu seinem Tod (1549–1552); II. Melanchthons Auseinandersetzung mit Osiander nach dessen Tod und bis zu seinem eigenen Tod; und schließlich III. Die Rezeption der Teilhabe- und Einwohnungslehre (Osianders) in der Konkordienformel von 1577 und in der finnischen Lutherforschung des 20. Jh.s. In einem einleitenden Abschnitt analysiert die Vfn. das theologische Verhältnis zwischen Osiander und Melanchthon vor dem Beginn der großen Streitschriften. Die Analyse ist wie die der späteren Streitschriften insofern dialogisch aufgebaut, als die Quellen beider Kontrahenten chronologisch dargestellt und analysiert werden, beide Autoren mithin gleichermaßen zu Wort kommen. Hierbei bewegt sich die Vfn. souverän auch – und das gilt für die gesamte Studie – im jeweiligen Briefwechsel, was der Kontextualisierung der theologischen Auseinandersetzung zweifellos sehr zugute kommt. Schon in dieser Zeit werden jedoch die Perspektiven der Problemstellung deutlich: Es geht um die Fragen der Gerechtigkeit Christi, der Einwohnung Christi im Gläubigen und die Wiedergeburt des Menschen. Schon hier werde aber auch Melanchthon von Osiander auf Grund seiner »fleischlichen gedanken und philosophia« (78) unter Häresieverdacht gestellt.
Die Diskussion der einzelnen, folgenden Streitschriften folgt einem klaren Aufbau und einleuchtenden Schema: Der Analyse der jeweiligen Schrift werden der eigentliche Anlass und ihr Aufbau vorausgeschickt, die wichtigsten theologischen Motive, ggf. mit den entsprechenden exegetischen Bezügen vorgestellt und analysiert und die Ergebnisse der Analyse schließlich kurz zusammengefasst. Schon die Darstellung der beiden ersten Streitschriften Osianders, der »Disputatio de lege et evangelio« vom 5. April 1549, sowie der öffentlichen »Disputatio de justificatione« vom 24. Okto­ber 1550 verdeutlichten nach der Vfn.: »Hier stießen zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen des Rechtfertigungsgeschehens aufeinander: die juridische und die effektive« (93). Auch die Schriften und Äußerungen vor Osianders großer Bekenntnisschrift »Vom einigen Mittler« aus dem Jahr 1551, die Vermittlungsversuche der Königsberger Kollegen Osianders (die 15 Artikel Mörlins), die Äußerungen Osianders in dessen Briefwechsel, die Kritik Friedrich Staphylus’ an Osianders Lehren sowie Melanchthons Äußerungen in dessen Briefwechsel zeigen unterschiedliche Deutungen der Rechtfertigungslehre, und zwar in der Einwohnungslehre, in der Lehre vom Verdienst Christ und in der Frage nach dem Zusammenhang der Gerechtigkeit mit dem Glaubenstrost. Den Kern des Streites hatte Osiander in seiner Bekenntnisschrift »Vom einigen Mittler« selbst in der Frage formuliert: »Ob Christus, uns von Gott zur gerechtigkeit gemacht, nach seiner göttlichen natur allein oder nach seiner menschlichen natur allein unser gerechtigkeit sey oder ob die beyde natur zugleich, in einer einigen person verei­nigt, unser gerechtigkeit seien.« (155, kursiv G. F.) Osianders Ausführungen konnten natürlich von seinen Gegnern so gedeutet werden, dass er nicht an der Inkarnation interessiert sei, sondern allein an der göttlichen Natur Christi, das Kreuzesgeschehen mithin mehr oder weniger bedeutungslos sei und er also ein »solus Deus« lehre. Auch könne der Gedanke der »Vergottung« des Menschen konditional missverstanden werden, »um vor Gott bestehen zu können« (161). Die Vfn. sieht hier eine gewissen Nähe zur ostkirchlichen Tradition, vor allem zur Theologie des Gregorios Palamas, der in Auseinandersetzung mit Aristoteles und Pseudo-Dionysios Areopagitas eine »theologia negativa« bzw. »symbolica« ent wickelt hatte. Dieser motivgeschichtliche Bezug zur ostkirchlichen Theologie wird ein wenig ungeschickt als »ostkirchlicher Realismus und Materialismus« beschrieben – beide Begriffe sind semantisch klar belegt. Eher sollte man von einem Symbolismus sprechen, so wie dies auch Pawel Florenski, russischer Mystiker und Religionsphilosophie des 20. Jh.s, auf den sich die Vfn. häufig beruft, in seinem Versuch einer symbolistischen Deutung der or­thodoxen Ikonographie in vielfältigen Studien unternommen hatte. Wenn die Vfn. aber einerseits – so schon in ihrer Exposition, aber auch wiederholt in der Studie – davon spricht, dass Osiander Lehren zugeschrieben worden seien, die dieser gar nicht gelehrt habe, sie aber andererseits in der Ana­lyse der Bekenntnisschrift »Vom einigen Mittler« zu solchen Ergebnissen gelangt wie: »Beraubt Osiander den rechtfertigenden Glauben nicht seiner Rolle, indem er die Rechtfertigung mit dem Leben [Christi in uns] identifiziert? Führt solch eine Identifizierung nicht zu der römisch-katho­lischen Lehre von der iustitia infusa und von dem habitus?« (183) Oder: »Unter der Rechtfertigung versteht Osiander nicht ein ›re­putatives‹ Gerechtsprechen und ein Für-gerecht-Halten, sondern das ›imputative‹ Gerechtmachen und Gerechtwerden, wobei sich sein Verständnis der ›Imputation‹ deutlich von dem melanchthonischen unterscheidet und in dem damaligen theologischen Kontext eher der römisch-katholischen Lehre von dem ›Eingießen‹ der Gnade ähnelt.« (187) – Sind damit nicht die Fragen der Kritiker doch gerechtfertigt?