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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1073 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fenske, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Wie Jesus zum »Arier« wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 288 S. gr.8°. Geb. EUR 59,90. ISBN 3-534-18928-0.

Rezensent:

Roland Deines

Unter einem plakativen Titel widmet sich der Münchner Privatdozent für Neues Testament dem brisanten Thema der »Entjudaisierung« Jesu, die schließlich beim arischen Jesus zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft einen (vorläufigen) Höhepunkt fand. Der Untertitel verweist auf den ambitionierten Versuch, eine Traditionsgeschichte dieser unheilvollen Entwicklung vorzulegen. Das Thema ist wichtig und beileibe nicht nur von antiquarischem Interesse, wie die Kapitelüberschrift »Nachwirkungen (von 1945 bis zur Ge­genwart)« erkennen lässt. Darum sind Einblicke in die For­schungs­geschichte, die sich auch mit ihren Schattenseiten be­schäftigt, sehr zu begrüßen, zumal die Publikation in der »Wissenschaftlichen Buchgesellschaft« dazu beitragen kann, auch über den engeren Kreis der Fachwissenschaft hinaus Interesse zu wecken. Im Vorwort gibt der Vf. der Hoffnung Ausdruck, dass das Buch auch im Schulunterricht Verwendung findet, wozu er gleich die entsprechenden Anregungen liefert. Es sind hohe Erwartungen, die durch Titel, Anspruch und Vorwort geweckt werden – Erwartungen allerdings, die das Buch nach Meinung des Rezensenten in keiner Weise erfüllt.
Was den Leser erwartet, ist eine nur vorläufig geordnete Materialsammlung, die großen Fleiß und einen gewissen aufklärerischen Eifer verrät, aber wenig gestalterisches Vermögen und noch weniger historisches Verständnis. Zwar lässt sich manches Unbekannte entdecken, auch lassen sich Anregungen für eigene Studien und Untersuchungen holen, aber – und das ist der Hauptkritikpunkt an diesem Buch – man erhält keine wirklichen Analysen trotz der vielen Zusammenfassungen, Überblicke und Querschnitte.
Schon das Vorwort liefert eine erste Übersicht auf einer viertel Seite (mit der zu diesem Zeitpunkt niemand etwas anfangen kann, weil nicht klar ist, was sich mit den einzelnen Namen verbindet), dann kommt ein einführender »Überblick über die im Hauptteil genannte Literatur« (9–38). Dieser wird von einer »Zusammenfassung« abgeschlossen (30–33), der dann noch einmal eine »Tabellarische Zusammenfassung« (33–35) folgt – also vier Zusam­men­fassungen auf den ersten knapp 40 Seiten. Dabei ist man durchaus bereit, dem Vf. in seinem Anliegen von vornherein zuzustimmen. Denn er weist zu Recht darauf hin, dass die Adaption der Christologie an gesellschaftlich vorgegebene Erwartungen kein Problem der Vergangenheit, sondern bis hin zum gegenwärtigen Dialog der Religionen aktuell geblieben ist (etwa 29). Aber gerade weil das Thema so wichtig ist, hätte man ihm eine sorgfältigere Darstellung gewünscht. Misslich ist m. E. vor allem, dass das plakative Stichwort der »Arisierung« zum Leitbegriff gewählt wurde. Denn der »arische Jesus« ist auch bei dem in diesem Buch Dargestellten eher die Ausnahme als die Regel. Gemeinsamer Nenner ist stattdessen die in unterschiedlicher Gestalt auftretende »Entjudaisierung« Jesu mit Hilfe philosophischer, dogmatischer oder historischer Konstrukte, die das Judesein des Menschen Jesus marginalisieren. Dass dazu auch die in­nerjüdische Differenzierung zählt (Jesus als Galiläer), wird zu wenig deutlich. Völlig übergangen wird in seiner Übersicht der Beitrag der jüdischen Jesusforschung, die im 19. Jh. ebenfalls Anteil an dieser »Entjudaisierung« Jesu hatte.
Im Hauptteil des Buches (39–235), eingeteilt in drei Phasen, werden Namen aus völlig unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen, von denen viele nicht zu Unrecht dem Vergessen anheimgefallen sind, in kurzen, plakativen ›Karteikarten‹ (ein bis zwei Seiten) vorgestellt und in das Gesamtthema eingepresst.
Als erste Phase beschreibt der Vf. die Zeit von 1800–1880 unter der Überschrift »Genese der Vorstellung der arischen Herkunft Jesu«. Darauf folgt die Zeit von 1880–1899 als »Verschärfung«, in der hintereinander aufgeführt werden: Paul de Lagarde, Richard Wagner, Eugen Dühring, Max Sebald, Friedrich Nietzsche, Theodor Fritsch, Willibald Beyschlag, Friedrich Naumann, Hugo Delff, Wilhelm Bousset, Rudolf von Ihering. Die dritte Phase »Verbreitung (1899–1945)« beginnt mit H. St. Chamberlain und endet mit der Gruppe (in der Reihenfolge des Vf.s): Grundmann, Kuhn, Fiebig, Hirsch, Pohlmann, Hitler. Dazwischen werden behandelt (oh­ne Vollständigkeit, aber in Reihenfolge des Vf.s): Harnack, Johannes Weiß, Rudolf Steiner, Artur Dinter, Bultmann, Walter Bauer, Gerhard Kittel, Drews, Hauer, Rosenberg, Goebbels, Maurenbrecher, Stapel, Mathilde Ludendorff, Stange, Preisker, Künneth, Frör und Erich Ludendorff.
Zu all diesen Namen werden nach einer Minibiographie im Lexikonstil und einer kurzen Werkvorstellung kontextlose Zitate und oftmals das Banale streifende Kommentierungen geboten, im ersten Teil verbunden mit dem Hinweis darauf, dass »eine spätere Zeit« (vgl. z. B. 38.43 f.47.65 f. u. ö.) aus solchen Ansätzen dann einen »arischen Jesus« konstruiert habe. Es wird zwar betont, dass dies beim jeweils behandelten Autor »noch nicht« so gewesen sei, aber dabei impliziert: All das diente als Wegbereitung dazu. So schließt der Abschnitt über Hegel mit dem Satz: »Später kann diese Intention neu gefüllt werden: Der arische Mensch weiß um seine Einheit mit der (arisierten) Gottheit« (44). Und David Friedrich Strauß muss sich als Weiterführung seines Denkens die Bemerkung gefallen lassen: »Der arische Mensch feiert in Jesus seine eigene arische Gattung, die er in diesen (sic!) über ihn hinausgehend findet« (62). Dass es Strauß darum überhaupt nicht ging, tut dem Vorwurf keinen Abbruch, ebenfalls Wegbereiter eines rassisch kodierten Jesusbildes gewesen zu sein. Diese assoziativen Verknüpfungen (und mehr ist es nie) sind das Ergebnis von sieben Zeilen biographischem Hintergrund, 19 Zeilen Werkbericht, 41 Zeilen Paraphrasierung und Kommentierung sowie 13 Zeilen in fünf Anmerkungen. Und das ist kein Einzelbeispiel, sondern Methode. Dazwischen gibt es immer wieder kurze Exkurse (insgesamt 13), die ebenfalls allzu knapp und pauschal die großen Zusammenhänge herzustellen ver­suchen (»Anfänge des rassischen Denkens«; »Gnostische Ansätze«; »Differenzkriterium und Markuspriorität«, um nur einige Beispiele zu nennen).
Wie angestrengt überall nach »arischen« Spuren gesucht wird, zeigt der Eintrag zu Karl Georg Kuhn. Da dieser kein Jesusbuch geschrieben hat, ist unklar, wie er über Jesus gedacht hat. Aber die Beschäftigung Kuhns mit Qumran und iranischen Quellen »kann erkennen lassen, dass für Kuhn Teile der in Judäa/ Galiläa lebenden Menschen arischer Abstammung waren«. Es wird ferner darüber spekuliert, was die Studierenden bei ihm gehört haben »könnten« und welche »negative Assoziation mit dem Menschen, dem Juden Jesus« (223, sic!) er als Lehrer hervorgerufen haben mochte. Das dient dem Anliegen einer Aufarbeitung der Verstrickung der neutestamentlichen Wissenschaft in den Antisemitismus nicht.
Der letzte Teil (»Anmerkungen gegen die Arisierung Jesu Christi«) enthält neben einer erneuten, eher systematisierenden Zusam­menfassung den Versuch einer Christologie, »die nicht antijüdisch ausgerichtet ist« (260). Da dem Vf. durchaus an einer klassischen Hochchristologie gelegen ist, kommt er – ohne es freilich zu bemerken – in dieselben Schwierigkeiten, die er bei anderen angreift. Einer­seits verteidigt er den Satz »Jesus war Jude«, aber das soll ihn »nicht als Mensch einer bestimmten Rasse« qualifizieren, sondern: »Es qualifiziert ihn … aus dem Glauben heraus« (255). Damit wechselt er von der historischen auf eine theologische Ebene, weil auch er vor der Schwierigkeit steht, dass Jesus Christus im Glauben der Kirche (und so schon im Neuen Testament) nicht ausreichend bekannt ist, wenn man von ihm als dem »Juden Jesus« spricht.
Abgeschlossen wird das Buch mit einem einseitigen Personenregister und einem umfangreichen Literaturverzeichnis, das als Materialbasis hilfreich, aber selbst für die eigentliche Titelfrage nach dem arischen Jesus nicht vollständig ist. Es ist erkennbar ein Buch, das mit zu wenig Vorbereitung und zu schnell geschrieben wurde. Optisch und stilistisch wirkt es wie das Handout einer Vorlesung (etwa 33–35.216 f.).