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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

452 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Preul, Reiner

Titel/Untertitel:

Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. XI, 422 S. 8 = De Gruyter Studienbuch. Pb. DM 78,-. ISBN 3-11-015495-1.

Rezensent:

Manfred Josuttis

Die hier vorgelegte "Kirchentheorie" soll als Scharnier zwischen systematischer und praktischer Theologie "den dogmatischen Lehr- oder Wesensbegriff auf einen gegebenen kirchlichen Zustand mit dem Zweck einer kritischen Beurteilung und gegebenenfalls Verbesserung dieses Zustandes" (3) beziehen. Das Kirchenverständnis selbst ist neuprotestantisch fundiert. Schleiermacher sowie E. Herms und W. Härle werden laufend zitiert. Das Stichwort "Kultur" erscheint in immer neuen Varianten. Die Argumentationsstruktur operiert mit der Kombination von ideellen und institutionellen Aspekten.

Das zeigt sich vor allem im zentralen Kapitel über "Kirche als Institution in der modernen Gesellschaft" (128 ff.). Nach der Erörterung neuerer Institutionstheorien wird Kirche dem Bildungsbereich und damit einer Gruppe von Institutionen zugeordnet, "die sich an das Bewußtsein, das Gefühl und das Erleben der Menschen wenden" (141). Ihre spezifische Eigenart besteht in der kommunikativen Zirkulation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, das sich für P. aus den Grundsätzen der Rechtfertigungslehre entwickeln und zu einem religiösen "Sinnangebot" aktualisieren läßt (153 ff.). "Die gesellschaftsintegrierende und damit -stabilisierende Wirkung der Religion besteht also darin, daß sie das Handeln der Individuen auf einen gemeinsamen letzten Sinnhorizont bezieht und damit überhaupt verläßliches, weil auf einer gemeinsamen Erwartungsstruktur beruhendes gemeinsames Handeln ermöglicht" (164). Die Bedürfnislage wird dabei hier wie im ganzen Buch mehr durch soziologische und sozialphilosophische als durch sozialpsychologische Überlegungen skizziert.

Auf diesem Fundament werden zunächst Probleme der Volkskirche (178 ff.) behandelt, deren Profil im Gegensatz zur Obrigkeits- wie zur Freiwilligkeitskirche gezeichnet wird und deren entscheidende Aufgabe darin besteht, "daß sie sich auf alle, die ihr zugehören, einstellt" (184). Faktisch vollzieht sie ihre Arbeit als "Organisation" (204 ff.); deshalb müssen Fragen der Leitung (212 ff.), des Rechts (224 ff.) und der Repräsentation (235 ff.) behandelt werden. Hier wie in den anderen Teilen des Buchs ist das fundierte Gespräch mit außertheologischen Konzepten besonders hervorzuheben.

Die drei Schlußkapitel sind jenen gesellschaftlichen Bedürfnissen gewidmet, auf die sich laut "Kirchentheorie" die kirchliche Praxis funktional zu beziehen hat, nämlich den Amtshandlungen (242 ff.), den Phänomenen der Kultur (268ff.) und den politischen Konflikten (330 ff.). Aus der Fülle der Einzelthemen, die dabei angesprochen werden, sei besonders verwiesen auf das vorsichtige Plädoyer für neue Kasualangebote (254 ff.) sowie auf die überzeugende Verteidigung klassischer Formulierungen in der Sprache des Gottesdienstes: "Ein Glaube, der nur in brandneuen Formulierungen leben und sich keiner alten, ja uralten Elemente bedienen könnte, geriete in den Verdacht, auch nur eine vorübergehende, wenn nicht modische Erscheinung zu sein" (283). In einer Epoche, in der das Identitätsfundament der Gesellschaft durch die Ökonomie gelegt wird (340 ff., im Anschluß an E. Herms), gewinnt auch das alte Stichwort vom "Wächteramt der Kirche" (347 ff.) neue Bedeutung. Welche Qualitätsmerkmale kirchliche und pastorale Stellungnahmen in der öffentlichen Debatte aufweisen müssen, wird zum Abschluß an den Überlebensproblemen der Menschheit erörtert (374 ff.).

Die theologischen Vorentscheidungen dieses Entwurfs sind in den Einleitungskapiteln gefallen. P. geht aus von den Erwartungen, die die kirchensoziologische Forschung der letzten Jahrzehnte erhoben hat (18 ff.) und stellt dagegen die kybernetische Grundthese: "Die Evangelische Kirche wird durch die Auslegung ihrer eigenen Lehre geleitet" (43 ff.). Neben kurzen Hinweisen zu altkirchlichen Symbolen (51 ff.) und neutestamentlichen Metaphern (57 ff.) werden die lutherischen Bekenntnisschriften (72 ff.) sowie Luthers Kirchenlehre ins Zentrum gerückt (97 ff.).

Die Akzentverschiebungen zwischen reformatorischer Theologie und neuprotestantischer Interpretation werden faßbar, wenn es zur Kirchendefinition der CA heißt: "Die Evangelische Kirche ist somit von ihrer Grundidee her das Musterbeispiel einer zur flexiblen Selbststeuerung fähigen Institution" (87). Oder wenn das neue Gottesdienstverständnis Luthers folgendermaßen charakterisiert wird: "Der Gottesdienst ist ein dialogisches Geschehen zwischen Gott und Mensch auf der Ebene sprachlicher Bewußtheit" (99). Daß die reformatorische Rechtfertigungslehre nicht einfach anthropologische und ekklesiologische Prinzipien bereitstellt, sondern ein Machtgeschehen beschreibt, das Menschen verändert und eine Gemeinde schafft, kommt unter diesen Voraussetzungen nicht deutlich genug in den Blick.

Auch wer die systematisch-theologischen Grundlagen P.s nicht teilt, wird in diesem Buch fundierten Argumenten und differenzierten Gedankengängen begegnen. Insgesamt wird der "Zweck einer kritischen Beurteilung" der kirchlichen Zustände, wie er für diese Kirchentheorie angekündigt ist, nur in einem sehr eingeschränkten Ausmaß verfolgt.