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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1056 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Heimbach-Steins, Marianne, Wielandt, Rotraud, u. Reinhard Zintl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Identität(en) und gemeinsame Re­ligionsfreiheit. Eine Herausforderung pluraler Gesellschaften.

Verlag:

Würzburg: Ergon 2006. 168 S. gr.8° = Judentum – Christentum – Islam. Bamberger Interreligiöse Studien, 3. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-89913-531-2.

Rezensent:

Adrian Loretan

Im Zentrum für Interreligiöse Studien der Universität Bamberg er­gänzen sich Innenansichten der Theologien und Außenansichten religionswissenschaftlicher, soziologischer, politikwissenschaftlicher und juristischer Art. Die Referate zweier Tagungen und einer Festakademie des Zentrums für Interreligiöse Studien aus dem Jahre 2004 werden in diesem Buch gemeinsam publiziert.
Ihre Einleitung zum Band überschreibt die Herausgeberin Marianne Heimbach-Steins mit dem Begriff ›Postsäkulare Gesellschaft‹. Im säkularen (d. h. religiös neutralen) Staat entsteht ihr zufolge eine Gesellschaft, in der neben der säkularen zugleich wieder religiöse Kommunikation in der Öffentlichkeit stattfindet, was eine Konfliktdynamik freisetzt. Die Religionsfreiheit bleibt ein Stachel: Der Überzeugung des Anderen, auch der religiös begründeten, ist dieselbe Dignität zuzumessen wie der eigenen. Es gilt, sich eines Urteils über die theologischen Prämissen des Anderen zu enthalten und auf einer strikten Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen zu bestehen. Vor diesem Hintergrund diskutieren die Beiträge des Bandes Implikationen der Religionsfreiheit für den Staat und die religiösen Akteure.
Religion ist wieder auf die politische Tagesordnung zurückgekehrt. Für Wolfgang Thierse beginnt das 21. Jh. als Zeitalter der Religionen, die eine Herausforderung für Staat und Gesellschaft sind. Es gilt, den Respekt vor der anderen Religion und den Einsatz für die eigene Überzeugung zusammenzudenken. Gerade die Er­fahrung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit könnte den Islam so verändern, dass er von sich aus ›unsere‹ grundlegenden Prinzipien akzeptieren kann. Die interkulturelle Kompetenz wird so zu einer Schlüsselqualifikation. Deshalb ist das Zentrum für Interreligiöse Studien von beträchtlicher gesellschaftlicher Relevanz, so Thierse.
Stefan Huster geht der Frage nach, wie Weltanschauungskonflikte (z. B. Kopftuch) mit den Mitteln des Verfassungsstaats bearbeitet werden. Er argumentiert mit drei begrifflichen Gegenüberstellungen: Begründungs- versus Wirkungsneutralität, Integration versus Trennung und Anerkennung versus To­leranz. Huster spricht von den universalistischen Prinzipien des Grundgesetzes, die im Sinne der Rechtsphilosophie Kants allen einsichtig sind. Niemandem können aber gewisse Anpassungsleistungen an das ›differenzblinde‹ staatliche Recht erspart bleiben.
Der nächste Beitrag benennt die Skepsis der Mehrheitsbevölkerung gegenüber der Meinung Thierses, Muslime könnten ein positives Verhältnis zum säkularen Rechtsstaat entwickeln. Dies betrifft aber nicht allein die Muslime, sondern die gesamte postsäkulare Gesellschaft, für die der neue religiöse Pluralismus eine Herausforderung ist, so Heiner Bielefeldt. An die Stelle der traditionellen Sorge des Staates für die Wahrheit der Religion tritt der Einsatz des Staates für die Freiheit der Person. Verschiedene muslimische Stimmen zum säkularen Rechtsstaat zeigen, dass es nicht den Islam gibt. Neben der fundamentalistischen Distanzierung gibt es eine pragmatische Akzeptanz, teilweise sogar eine theologische Würdigung des säkularen Rechtsstaates. Dabei wird die Gewährung der Religionsfreiheit unter einen ungeschriebenen ›Kulturvorbehalt‹ gestellt, was die normativen Grundlagen des säkularen Rechtsstaates unterminiert.
Duran Terzi zeigt die Sicht eines in Deutschland lebenden muslimischen Theologen türkischer Herkunft, der grundsätzliche und konkrete Aspekte des Miteinanders von religiöser Mehrheit und Minderheiten bespricht. Reza Hajatpour beschreibt die theologisch-philosophische Innenansicht der Frage der religiösen Pluralität aus Sicht des schiitischen Islams. Sie merkt an, »dass in einem Staat, in dem der Islam als Staatsreligion in der Verfassung verankert ist, die Frage des Pluralismus nicht frei und unbeeinflusst von der Machtfrage behandelt werden kann.« Für sie stellt sich die Frage, ob im Iran über den Pluralismus gesprochen werden kann, »ohne vorher die Frage des Säkularismus, der Menschenrechte, der Freiheit, des Individualismus … geklärt zu haben.«
Auch islamische Staaten (z. B. die Türkei) kennen die säkulare Trennung von Staat und Religion. Die nichtsäkulare, religiöse Gesellschaft verunmöglichte aber im Fall der Türkei dieses französische Importprodukt der Eliten oder schränkte es doch sehr stark ein, wie Cevat Kara darlegt.
Das pluralitätsbezogene Politikverständnis von Hanna Arendt wird von Chris­ta Schnabl dargestellt. Gemäß der jüdischen Philosophin Arendt gibt es nur das »Recht, Rechte zu haben«. Die Herstellung der Rechtlosigkeit war die Vorstufe für die Ausrottung der Juden. Sie stellt die übliche Nachordnung der politischen Beteiligungsrechte im Vergleich zu den Freiheitsrechten in Frage. Gleichheit heißt für sie nicht ›gleich sein, sondern gleiche Rechte für ungleiche Menschen‹. Arendt kämpfte für den Eigenstand des Politischen und gegen die einseitige Herrschaft des Homo faber bzw. der Ökonomie.
Karl-Wilhelm Merks geht der Frage des christlichen Staatsbürgers nach. Christen haben sich am Anfang gegen den Staat aufgelehnt (Offb 13). Das Chris­tentum wurde Staatsreligion (380). Wo Religion und Politik sich in den Großorganisationen Kirche und Staat treffen, heißt Staatsbürgerschaft gleich doppelter Gehorsam (Röm 13). Dieser Vorrang der Institution gegenüber dem Individuum wurde erst im 20. Jh. aufgebrochen, u. a. durch die Menschenrechte und die autonome Moral. Unter politischer Ethik »verstehe ich die Frage nach guten, gerechten Institutionen«. Merks wendet diese Ethik aber nicht auf die religiösen Institutionen an, z. B. mit der Frage nach den ›Menschenrechten in den Religionen‹.
Wie kann das »christliche Abendland« dialogfähige Identitäten ausbilden, fragt Regina Ammicht Quinn. Sie fordert den »Homo religiosus« auf, die eigene Identität dialogoffen zu entwerfen. Ihre Anhängerinnen und Anhänger und ihre institutionellen Repräsentationen haben die Spannung von Wahrheit und Freiheit konstruktiv zu verarbeiten. Die eigene Überzeugung kann nicht auf Kosten des friedlichen Miteinanders vertreten werden.

Das interdisziplinäre Vorgehen von Außen- und Innensichten gibt dem Buch und dem neuen Bamberger Zentrum für Interreligiöse Studien die methodischen Möglichkeiten, einen Beitrag zur Lö­sung der anstehenden Fragen des Zeitalters der Religionen zu leis­ten. Mit meinen Studierenden werde ich dieses Buch lesen, weil es auf dem neuesten Stand der Begrifflichkeit die Frage der friedlichen Pluralität in gut verständlicher Weise angeht und den religionsrechtlichen Spielregeln des Zusammenlebens den angemessenen Platz einräumt. Dabei hat ein Gedanke von John Rawls (›overlapping consensus‹) über die Vermittlung von Jürgen Habermas Eingang gefunden: Auch die Theologien der Religionen werden in Zukunft vor dem Forum Öffentlichkeit über die rechtsstaatlichen Grundlagen der postsäkularen Gesellschaft mitzureden haben.