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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1045–1047

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Oser-Grote, Carolin M., u. Andreas E. J. Grote [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Simon Fidati von Cascia OESA. Augustinische Theologie und Philosophie im späten Mittelalter.

Verlag:

Würzburg: Augustinus-Verlag bei Echter 2006. 474 S. m. Abb. 8° = Cassiciacum, 52. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-7613-0216-3.

Rezensent:

Manfred Schulze

Dieser Band ist eine Festschrift aus doppeltem Anlass: Zu seinem 70. Geburtstag wird Willigis Eckermann OSA geehrt, emeritierter Professor für katholische Theologie und Direktor des Augustinus-Instituts in Würzburg. Er begann mit der Herausgabe des Prologs zum Sentenzenkommentar Gregors von Rimini OESA (†1358) und setzte seine Editionsarbeit fort mit der Herausgabe der Sentenzenlesung Hugolins von Orvieto OESA († 1373). Die Festschrift verweist auf die Vollendung der Herausgabe des Evangelienkommentars Simon Fidatis von Cascia OESA († 1348): De gestis Domini Salvatoris, Bde. 1–7, Würzburg 1998–2003. Diese Ausgabe wird in absehbarer Zeit ergänzt durch einen achten Band mit Einzelschriften und Zeugnissen. Die ›Gesta‹ sind der Gegenstand der Festschrift mit insgesamt 19 Beiträgen, denen eine Bibliographie, ein Stellenregis­ter und Autorenverzeichnis beigegeben sind.
Man erhält durch Carolin M. Oser-Grote die wichtigsten Auskünfte zum Lebenslauf Simons (13 ff.), die ergänzt werden durch einen Spaziergang in Cascia (417 ff.), den Willigis Eckermann beschrieben und Achim Krümmel photographiert hat. Geboren um 1295 in Cascia erfährt Simon durch einen Ungenannten – wahrscheinlich Angelo Clareno – eine Bekehrung. Er tritt in Cascia dem Augustinerorden bei und wird in der Folge bekannt als Wanderprediger. Gestorben ist er am 2. Februar 1348, wohl in Florenz; seine Gebeine haben erst im 20. Jh. zu Cascia in einer Kapelle der Basilika Santa Rita ihre letzte Ruhe gefunden (Anhang, Abb. 10). Darüber informiert Carlos Alonso (403 ff.), der auch über Simons Gedächtnis wie über seine Seligsprechung durch Papst Gregor XVI. im Jahre 1833 berichtet.
Andreas E. J. Grote folgt Simon, dem Mönchstheologen (145 ff.), der sich anhand patristischer und byzantinischer Literatur mit den Idealen des Klosterlebens beschäftigt. Er nimmt die monastische Frömmigkeit des Griechen Johannes Klimakos zur Kenntnis, der zu den prägenden Gestalten des Hesychasmus gehört. Die Aufnahme altkirchlicher und byzantinischer Mönchstraditionen spiegelt sich in den ›Gesta‹, etwa im Lob der Wüste, das der Leser als Kritik an der monastischen Gegenwart wahrnehmen kann (159 f.).
Simons umfängliche Hinterlassenschaft sind die ›Gesta‹ Jesu, deren Überlieferungsgeschichte von Venicío Marcolino zusam­mengefasst wird (83 ff.). Das unvollendete und ungeordnete Material Simons bearbeitet sein Schüler Johannes von Salerno, der den Stoff auf 14 Bücher verteilt unter dem Titel »De vita christiana« (86). Dieser Version folgt die moderne Edition. Ein unbekannter Redaktor hat eine weitere korrigierende Bearbeitung vorgenommen und dem Werk durch Umstellungen ein 15. Buch hinzufügt (87). Diese Redaktion trägt den Titel, den auch die Edition übernommen hat: »De gestis Domini Salvatoris« (85).
Die ›Gesta‹ lassen sich als anwendungsorientierte Schriftkommentare lesen. Armin Kretzer (57 ff.) greift das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf, in dem sich Gottes Liebeshandeln so spiegelt, dass ein jeder dem anderen der Nächste sein soll. Willigis Eckermann (65 ff.) prüft die Deutung des eigenartigen Textes »accedat homo ad cor altum et exaltabitur deus« (Ps 63/64,7 f.), den Simon im Kontext von Jesu Verklärung (Mt 17,1–8) dazu nutzt, im Nachsinnen über die Offenbarung die Möglichkeit eines Aufstiegs zu Gott aufzuzeigen, den alle Menschen zu leisten vermögen.
Über die Präsentation von Einzelbeispielen hinaus entdeckt Lud­wig Hödl (25 ff.) die ›Gesta‹ als aufrüttelnde und gewinnende Predigt, die den Sprachschatz nicht der schola, sondern der ›biblia‹ ausbreitet und darin die Geschichte der Menschen und des Landes unterbringt. Damit verbindet sich Simons Überzeugung vom Ur­sprung der evangelischen Geschichte, die vom Erlöser selbst be­wahrheitet ist und somit durch diesen für sich selbst steht (53). Der Blick nach vorne zur Reformation drängt sich auf und wird von Hödl auch nicht abgedrängt. Von Adolar Zumkeller liest man die Erinnerung (399 ff.), dass die Versuche, Luthers Theologie aus der Augustinerschule des Mit­telalters herzuleiten, nicht nur nicht überzeugend, sondern sogar gescheitert sind. Aber: Auch wenn der direkte Zugriff von Luther zu­rück auf die Augustinertradition sich verbietet, ist das kein Grund, die Frage nach der ›reformatio‹ des späten Mittelalters auszuschalten. Der Leser möchte etwa wissen, wie sich die Berufung auf den direkten Zugang zur Schrift mit den Ansprüchen der Kirche und den Konzepten der Theologien dieser Zeit verträgt.
Willigis Eckermann hat Simons Selbstbewusstsein der Bevollmächtigung durch den Heiligen Geist herausgearbeitet (161 ff.): »Ich bin ein Christ, ich spreche im Glauben, ich habe dafür vom Heiligen Geist ... die Erlaubnis erhalten. Ich sage, dass weder der Heilige Vater noch die Übrigen sich der Philosophie oder der freien Künste widmen dürfen« (168 f.). Das ist die eine Seite der Geistvollmacht, dass Weltwissen und christliche Lebensweisheit zu Alternativen werden. Wie weit die Kritik an der Philosophie allerdings reicht, ist mit ihrem Faktum nicht schon beantwortet, wie Franz-Bernhard Stammkötter (391 ff.) zu Recht einwendet.
Zum Verdacht, dass Simon Fidati dem Heiligen Geist mehr zutraut als nur die traditionelle Kirchlichkeit zu bewirken, erwartet man eine Antwort von Martijn Schrama (269 ff.), der die Geschichtsdeutung Joachims von Fiore zusammenfasst und auch die Frage nach der Bedeutung der Geistprophetie für den Augustinerorden beantwortet: Sie bleibt marginal (291). Nicht verständlich ist, dass Schrama die Frage nach Simon von Cascia gänzlich ignoriert. Angesichts solchen Mangels muss man sich mit dem Ergebnis von Willigis Eckermann bescheiden, dass Simon kein neues Evangelium entwickelte, sondern das vorliegende als ›Evangelium aeternum‹ propagierte (169). Doch Simon hat auch das ›alte‹ Evangelium nicht als Botschaft der Botmäßigkeit gepredigt, sondern als Ruf zur Buße und zur »Christusförmigkeit«. Was aber heißt das und welche Konsequenzen birgt es?
Es verbleibt im Bereich des Akzeptierten, dass der Büßer wissen muss, wessen er schuldig ist. Die Sündenlehre ist Simons besonderes Anliegen, mit der sich Venicío Marcolino befasst (105 ff.): Es gehört zur Aufgabe der Theologie, die Christen über die Sünde aufzuklären und Anleitungen zu ihrer Vermeidung anzubieten. Simon differenziert traditionell feingliedrig die vielfältigen Möglichkeiten, Gott zu missfallen und sich selbst damit zu schaden (112)– schon jetzt. Deshalb ist die Abkehr von der Sünde dringend geboten, gerade jetzt (143)!
Daniela Müller erwägt die Möglichkeit, dass die Konsequenzen der Chris­tusförmigkeit über das kirchlich Akzeptierte hinausgehen (189 ff.), vor allem angesichts der Kontakte Simons zu Frauen, die er zur Buße drängt unbeschadet des geforderten Gehorsams (197 f.). Das birgt Gefahrenpotentiale, die Jo­hannes von Salerno unter anderem mit dem Hinweis auszuräumen sucht, dass Simon unangefochten über lange Zeit hinweg gepredigt habe. In der Tat: Die Inquisition ließ niemanden, der nicht seinen Gehorsam unter Beweis stellte, so lange – 27 Jahre – »ungeschoren davonkommen« (201). Dafür präsentiert Daniela Müller aus eigener Forschung eindrückliche Beispiele zweier ›ungehorsamer‹ Frauen, die verfolgt und verbrannt wurden. Für Simon von Cascia ist deutlich, dass er im Rahmen des Gehorsams bleibt; unbeantwortet aber ist die Frage, wie dieser Rahmen gefüllt wird und wo Grenzüberschreitungen drohen.
Carolin M. Oser-Grote ergreift am Beispiel der Maria Magdalena die Gelegenheit, die Frauensichten Augustins und Simons zu vergleichen und zu profilieren (217 ff.). Simon gestaltet ›augustinisch‹ die Magdalenen-Geschichten (Joh 20,1–18) zum Psychodrama, das typisch menschliche Verhaltensweisen offenlegt (225). Die Frau aus Magdala ist eine Frau des täglichen Lebens, die sich bis zum Ungehorsam in den Gehorsam der Nachfolge begeben hat (242 f.). So ist sie eine Gestalt der Heilsgeschichte geworden: von der stadtbekannten Sünderin zur »Evangelistin« der Auferstehung (240).

Auch in diesem Forschungsband melden sich die Probleme von Festschriften: Die Vielfalt des Verschiedenen. Simon wird mit Eckhard verglichen (245 ff.), mit Albertus Magnus (305 ff.) und mit Nikolaus von Kues (371 ff.). Das alles ist zweifellos ›interessant‹ zu lesen, doch der Ertrag für Simon und seine Zeit bleibt dürftig. Tragfähig ist hingegen durch Guiseppe Battista der Vergleich mit dem italienischen Dominikaner Giovanni Dominici († 1419) (323 ff.). Simon und Giovanni verfassen beide in Florenz volkssprachliche Erziehungsschriften, Simon 1333 und Giovanni 70 Jahre später. Es zeigt sich das Fortschreiten der Zeit: Simon stellt sich die ›simplices‹ als Ansprechpartner vor und verfasst für deren individuelle Lebensgestaltung eine Methodologie der Liebe (332). Giovanni hingegen macht christlich humanistische Ideale sichtbar (344) und stellt die Sozialbindung der Erziehung heraus.
Festschriften werden auch durch vorgegebene Themenbindungen nicht zum einheitlichen Ganzen. Trotz dieser Grenzen trägt der Band in hohem Maße zur Forschung bei. Das gilt einmal für den Aufweis, dass mit der Edition ein neues Quellenkorpus zur Verfügung steht, das die Forschung zum Augustinerorden und zum 14. Jh. voranbringen wird. Ferner zeigt die Festschrift, dass die neue Quelle zu einer Vielfalt von Fragestellungen führt, die teilweise berührt, teilweise von ferne gesichtet, alle aber längst nicht ausgeschöpft sind. Der Leser entdeckt Simon als Reformer der Praxis des Christenlebens und will diese Praxis auch sichten in ihren Umfeldern von Kirche und Theologie, Politik und Gesellschaft.