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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1187–1189

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Meyer, Harding

Titel/Untertitel:

Ökumenische Zielvorstellungen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996 187 S. 8° = Bensheimer Hefte, 78. Kart. DM 24,80. ISBN 3-525-87166-X

Rezensent:

Helmut Zeddies

Seitdem es die ökumenische Bewegung gibt, begleitet sie die Rede von ihrer Krise wie ihr eigener Schatten. Gleichwohl kann diese Rede heute auf deutliche Indizien verweisen. Motivation und Identität ökumenischer Bemühungen lassen nach. Mühsam erarbeitete Übereinstimmungen lassen sich nur schwer umsetzen. Das führt zu Enttäuschungen oder zu der Neigung, sich mit dem Erreichten als dem Erreichbaren abzufinden. Das verstärkt wiederum die Unsicherheit im Blick auf ökumenische Zielvorstellungen. Gewiß hat der konziliare Prozeß mit der gegenseitigen Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der ökumenischen Bewegung neuen Auftrieb gegeben. Mit seiner deutlichen Orientierung auf die gemeinsame Verantwortung angesichts der Bedrohungen der Menschheit verbindet sich jedoch nicht unbedingt ein ähnlich starker Impuls für die Einheit der Kirche. Eher im Gegenteil: sie erscheint jetzt weniger wichtig als die Einheit der Menschheit.

Harding Meyer läßt in seinem Buch keinen Zweifel daran, daß ­ so bedeutsam der konziliare Prozeß ist ­ um der Integrität und Unteilbarkeit der ökumenischen Bewegung willen dieser Tendenz zu widerstehen ist. Er erinnert daran, daß diese Bewegung von ihrem Ursprung her von dem Ringen um die sichtbare Einheit der Christen und Kirchen geprägt ist. Die Frage nach der Zielvorstellung ist damit notwendigerweise von Anfang an eines ihrer zentralen Themen gewesen. Dabei ist zwischen dem Verständnis von Einheit der Kirche und den Modellen der Einigung, die der Verwirklichung der Einheit dienen wollen, zu unterscheiden. Beim Verständnis kirchlicher Einheit geht es um ihr Wesen, "um ihre wesentlichen Merkmale, um Kennzeichen, ihre konstitutiven Elemente, ihre grundlegenden Erfordernisse" (15). Trotz aller Verschiedenheit nicht nur der Kirchen, sondern auch ihrer Einheitsverständnisse gibt es im Verständnis der Einheit der Kirche dennoch grundlegende Gemeinsamkeiten, die vom Vf. unter Bezug auf einschlägige ökumenische Texte im einzelnen herausgearbeitet werden.

Diese Gemeinsamkeiten kommen natürlich in konfessionsspezifischen und darum unterschiedlichen Ausprägungen zum Ausdruck. Auch diese werden für die Kirchen, die ihre Traditionen in die ökumenische Bewegung einbringen, im einzelnen dargestellt. Der Vf. trifft dabei auf das Grundproblem von Einheit und Verschiedenheit, mit dem die Christenheit bereits von ihren Anfängen an konfrontiert ist. Die Unterscheidung zwischen dem, was zur Wahrung der Gemeinschaft der Christen "notwendig" und "nicht notwendig" ist, führt zu einem Verständnis, das die Einheit der Kirche grundsätzlich als "Einheit in Verschiedenheit" begreift (49). Wieweit die konfessionsspezifischen Einheitsverständnisse diesem Prinzip Rechnung tragen, wird ebenfalls untersucht.

Neben diesen für die Kirchen und ihre Rolle im ÖRK wichtigen Klärungen hat jedoch auch der Weltrat der Kirchen selber das Verständnis kirchlicher Einheit immer wieder auf seine Tagesordnung gesetzt. Von herausragender Bedeutung ist dabei die Erklärung der Vollversammlung in Neu-Delhi (1961), die der Vf. im einzelnen analysiert. Sie hat in der Folgezeit zu der vom Vf. dargestellten akzentuierenden und konkretisierenden Weiterentwicklung des Einheitsverständnisses geführt, bis schließlich ­ nicht zuletzt unter der Einwirkung bilateraler ökumenischer Dialoge ­ der aus der Ekklesiologie aufgenommene Koinonia-Begriff sich auch als förderlich erwies, um Unterschiede im Verständnis von Kirche und ihrer Einheit zu überwinden.

Modelle der Einigung ­ neben dem Verständnis der Einheit der andere Leitbegriff der Untersuchung ­ sind dem Vf. zufolge "operative Umsetzungen des Einheitsverständnisses". Entscheidender Gesichtspunkt ist dabei, "ob sie dem Verständnis von Einheit entsprechen, wie es sich in der ökumenischen Bewegung herausgebildet hat" (88). Unter dieser Voraussetzung kann es durchaus verschiedene Einigungsmodelle zur Umsetzung eines gemeinsamen Einheitsverständnisses geben. Mit dem kooperativ-föderativen Modell, dem Modell gegenseitiger Anerkennung und dem Modell organischer Union unterscheidet der Vf. drei Grundmodelle, die ausführlich dargestellt werden.

Auch ihre Weiterentwicklung unter dem Einfluß der Debatte in den 70er Jahren findet gebührende Beachtung. Besondere Würdigung erfährt dabei die "Leuenberger Kirchengemeinschaft" der reformatorischen Kirchen in Europa als überzeugendes Beispiel eines zur Kirchengemeinschaft fortgeschriebenen Modells gegenseitiger Anerkennung. Bemerkenswert erscheint auch die Feststellung, daß von katholischer Seite zwar "bislang noch kein Einigungsmodell im eigentlichen Sinne entwickelt" wurde; verschiedene katholische Stellungnahmen weisen jedoch "deutlich in Richtung auf ein Einigungsmodell, das dem der Kirchengemeinschaft sehr verwandt ist" (134).

Die erwähnte Debatte hat darüber hinausreichende Anstöße gegeben. Das gilt für die von der ÖRK-Vollversammlung in Nairobi (1975) aufgenommene Vorstellung von der einen "Kirche als konziliarer Gemeinschaft" von Ortskirchen, die ihrerseits tatsächlich vereinigt sind, wie von dem Gedanken der "Einheit in versöhnter Verschiedenheit", der von den Konfessionellen Weltbünden entwickelt worden ist. Beide sind keine Einigungsmodelle im eigentlichen Sinn. Sie stehen jedoch dem Modell der organischen Union bzw. dem Modell gegenseitiger Anerkennung nahe. Am Ende haben sich sowohl die Vertreter des ÖRK wie der Konfessionellen Weltbünde darauf verständigt, daß die konziliare Gemeinschaft der Kirchen ein weiterführender Aspekt des gemeinsamen Verständnisses kirchlicher Einheit ist. Dieser fordert nicht notwendigerweise ein bestimmtes Einigungsmodell. Das Modell der organischen Union und der "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" sind unterschiedliche Zugangswege zur Umsetzung des Verständnisses von Einheit der Kirche, dem sie beide entsprechen.

Was in der ökumenischen Bewegung über Jahrzehnte hinweg ihr erklärtes Ziel war, ihr Orientierung gegeben und trotz aller Barrieren beachtliche Erfolge gebracht hat, sieht der Vf. nun in Frage gestellt, wenn infolge eines verengten Verständnisses des konziliaren Prozesses die Betonung künftig einseitig auf dem weltzugewandten gemeinsamen Handeln der Christen liegen sollte, d. h. der Einheit ad extra, während die Einheit ad intra, also der Kirche und Christen untereinander, an Gewicht verliert. Dies tangiert die ökumenische Bewegung als ganze. Die unterschiedlichen Intentionen müssen aufeinander bezogen bleiben. Darum plädiert der Vf. für die Integrität und die Unteilbarkeit der ökumenischen Bewegung.

Harding Meyer, bis 1993 Forschungsprofessor am Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg und für mehrere Jahre auch sein Direktor, hat einen starken persönlichen Anteil an der von ihm beschriebenen Entwicklung. An einer Vielzahl von Dialogen und ökumenischen Konsultationen und an ihren weiterführenden Überlegungen war er maßgeblich beteiligt. Das Buch verdeutlicht seine profunden Kenntnisse, wenn es um Quellen, Literaturverweise oder Textanalysen geht.

Der Vf. geht vielen verschiedenen Spuren nach, zeigt Zusammenhänge und Parallelentwicklungen auf. So entsteht aus der Frage nach den ökumenischen Zielvorstellungen ein Netzwerk kirchlicher Einigungsbemühungen. Seine Person tritt dabei ganz hinter der Sache zurück, der er sich verpflichtet weiß. Dennoch ist das Buch mehr als ein Forschungsbericht; es gibt, ohne daß dies besonders betont wird, auch Auskunft über eine sehr persönliche Bilanz im Einsatz für gewachsene kirchliche Einheit.