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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1178–1182

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hauss, Gisela

Titel/Untertitel:

Retten, Erziehen, Ausbilden. Zu den Anfängen der Sozialpädagogik als Beruf. Eine Gegenüberstellung der Entwicklungsgeschichte der Armenschullehrer-Anstalt Beuggen und des Brüderinstituts am Rauhen Haus in Hamburg.

Verlag:

Bern-Berlin-Frankfurt/M.-New York-Wien: Lang 1995. 332 S. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe XI: Pädagogik, 660. Kart. DM 88,­. ISBN 3-906-755-62-2.

Rezensent:

Bernhard Suin de Boutemard

In der seit 20 Jahren einsetzenden Geschichtsschreibung der sozialen Arbeit kommt der Beitrag von Christen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sozialer Berufe zu kurz. Deswegen ist eine Arbeit wie die vorliegende Dissertation der Universität Zürich, Philosophische Fakultät I, nur zu begrüßen. Die Vfn., Gisela Hauss, befaßt sich mit den Anfängen der Entstehung sozialpädagogischer Berufe. Sie untersucht die Entwicklungsgeschichte des Berufes, indem sie den süddeutschen-pietistischen Ansatz mit dem norddeutschen-erwecklichen vergleicht. Zum Exponenten des süddeutschen Typs wird die Armenschullehrer-Anstalt Beuggen gewählt, die 1820 von Christian Heinrich Zeller (1779-1860) gegründet und zum Modell für weitere Gründungen von Rettungshäusern wurde (15-100). Der norddeutsche Typ wird am Brüderinstitut der 1833 gegründeten Kinderanstalt im Rauhen Haus in Hamburg festgemacht, das seine Arbeit erst informell 1835 mit 5 Gehilfen (131) aufnehmen und dann ab 1838/39 auch als ein vom Verwaltungsrat des Rauhen Hauses genehmigtes Gehilfeninstitut geführt werden konnte (101-205). Begründer des der Erweckungsbewegung nahestehenden norddeutschen Berufstyps ist Johann Hinrich Wichern (1808-1881). Ein dritter, die Arbeit abschließender Abschnitt (207-242) stellt die Konzepte der sozialen Hilfe von Zeller in Beuggen und Wichern in Hamburg gegenüber. Zwei Erstdrucke des bislang als verschollen gegoltenen 2. und 7. Umschreibens Wicherns von 1853 und 1857, ein Literaturverzeichnis, Verzeichnisse der ungedruckten und gedruckten Quellen der Anstalt Beuggen und des Rauhen Hauses schließen den Band ab.

Zu Recht betont die Vfn., daß eine "umfassende Geschichtsschreibung" "der beruflich ausgeübten Sozialpädagogik ... bis heute nicht vorliegt" und ihre Arbeit darum nur einen Anfang bilden kann (11). Damit die angestrebte Geschichtsschreibung über die ",Verberuflichung’ in der Sozialpädagogik" (17) erfolgen kann, müssen die unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Konzepte erschlossen werden, einschließlich die dahinterstehenden sozialen und religiösen Bewegungen. Neben diesen soziohistorischen Hintergründen sind "Kategorien" erforderlich, welche die Vfn. auszuarbeiten verspricht (104).

Für Zeller wurden seine Schriften, die Jahresberichte aus Beuggen, die Monatsblätter und ungedruckte Quellen aus dem Staatsarchiv Basel, dem Landeskirchlichen Archiv in Karlsruhe und dem nicht geordneten Familienarchiv Zeller in Männedorf herangezogen (18). Zu Wichern wurden gedruckte und ungedruckte Quellen aus den Archiven des Rauhen Hauses, der Landeskirche in Hamburg, des Diakonischen Werkes in Berlin und aus dem Staatsarchiv Hamburg benutzt. Dabei entdeckte die Vfn. im landeskirchlichen Archiv, das als verloren angesehene 2. und 7. Umschreiben Wicherns. Aufgrund ihrer umfangreichen Archivforschung konnte die Vfn. auch die Angabe zum Fundort von Wicherns Randbemerkungen zu den Beuggener Jahresberichten (275) in der Wichernausgabe von Meinhold IV/2:376/11/4 und VIII:236/44/4 korrigieren, ebenso eine falsche Personenzuordnung (280) in X:176.

Eine Auseinandersetzung mit den, bei allen Unterschieden, für die Entwicklung sozialer Arbeit entscheidenden Gemeinsamkeiten zwischen dem süddeutschen Pietismus und der Aufklärung erfolgt nicht. Dann wäre in der praxis pietatis der einen der "absolutistische Formwille des Menschen" erkennbar geworden, der für Pietisten und Rationalisten gemeinsam ist, wie es Karl Barth in "Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts" (78 ff.) herausgearbeitet hat. Der aufklärerische Glaube an die Machbarkeit der Lebensverhältnisse äußert sich in der Rettungshauspädagogik von Zeller darin, das Rettunghaus als geschlossene Gesellschaft zu konzipieren, weswegen ­ anders als im Rauhen Haus ­ der Kontakt der zu rettenden Kinder zu ihren Eltern strikt unterbunden wird. Als Muster für das Konzept der geschlossenen Gesellschaft dient das vorindustrielle Modell des "ganzen Hauses" (75 ff., 223) und die sich auch emotional selbst versorgende "Großfamilie mit über 100 Personen" (71, 91, 99; "von bis zu 100 Personen": 228). Es wird wie so vieles bei Zeller und auch bei Wichern normativ abgeleitet vom biblischen Bild der Sippe Abrahams (236). "In einer Art ’Laborsituation’ würde Erziehung planbar werden" und "die Erziehungsanstalt ein in sich geschlossenes ’Menschenbildungsmittel’" (52).

Diese rationalistische Pädagogik wird von der Vfn. mit der Kategorie "ganzheitliche Erziehung und Bildung" (74) versehen, die dann nur "Unterordnung und Einordnung" (86) "in eine umfassende göttliche Ordnung" (86) zuläßt. Zellers Strategie des Ausgrenzens ging so weit, daß er naturwissenschaftliche Fächer nicht zuließ (63), die schon 100 Jahre zuvor der Pietist August Hermann Francke (1663-1727) in Halle mit der Absicht einer Gestaltung der Welt im Sinne einer praxis pietatis in seinen Lehrplan aufgenommen hatte. Überhaupt muß für Zeller die Differenzierung und Spezialisierung der Moderne Grund al-len sozialen Übels gewesen sein. Darum wandte er sich mit einer normativen Didaktik "gegen eine Zersplitterung des Un-terrichts in eine Vielzahl von Fächern" (60), so daß es beispielsweise über die Zulassung des Faches "’Literaturgeschichte’ eine heftige Auseinandersetzung" gab, weil ihr Unterricht "das klar eingegrenzte Berufsbild in Frage stellen" würde (64).

Das Berufsbild der sozialen Arbeit des Beuggener Rettungshauses ist eine Kombination von unterrichtendem Lehrer an Armenschulen und Erzieher in Heimen (51), um auf diesem Wege zu missionieren. Die Beuggener Ausbildungsstätte war für Zeller ein "christliches Missionsschullehrerinstitut" (50) und seine Absolventen "Lehrer-Missionare" (48, 79), die gegebenenfalls durch handwerkliche und landwirtschaftliche Fertigkeiten sich selbst versorgen können. Normatives Modell hierfür war der Apostel Paulus (70). Ab 1840 wurden die Beuggener Absolventen zur staatlichen Lehrerprüfung zugelassen. Damit die Armenschullehrer "mitten in der Verelendung der unteren Schichten ein Modell für ein würdiges Leben in Armut zu setzen" in der Lage waren (89), wurden sie in Beuggen nach den Leitprinzipien Armut und Demut (85 ff.) ausgebildet. Denn "das Leben in Armut hielt die Armenschullehrer davon ab", wie Zeller glaubte, "sich aus ’ihrem Stand’ herauszuarbeiten und damit den Zugang zu den Menschen zu verlieren, die im ’Sumpf’ der Armut lebten" (89).

Die Entwicklung der Emanzipation und Professionalisierung sozialer Berufe wurde darum weniger bei Zeller als durch die Ansiedlung in den Slums vorangetrieben, die die University Extention Movement in Ostlondon und die Settlementbewegung in den USA vornahmen, die auf einen politisch reaktionären und hierarchisch zentralistischen Herrschaftsanspruch verzichteten. Der geringe Grad an Differenzierung und Spezialisierung des Beuggener Missionar-Lehrers, die normative Setzung vorindustrieller und antik-biblischer Lebensstile und sozialer Verkehrsformen werden in der Arbeit von der Vfn. idealisiert und als "Berufsbild des polyvalenten Armenschullehrers und Erziehers" (240) interpretiert. Die Kategorie "poly-valent" (in mehrfacher Beziehung wirksam; 93, 98, 232) wird nirgends definiert. Dient sie dazu, den professionellen Universaldilettantismus der Beuggener Absolventen zu verschleiern, die ­ mit der weiteren Übernahme eines Etiketts ­ als "sozialpädagogische Universalinstrumente" (98) bezeichnet werden? Das normativ verengte Berufsbild war der künftigen Entwicklung nicht gewachsen.

Am norddeutschen Modell von Johann Hinrich Wichern macht die Vfn. deutlich, wie "die Einheit von Erziehung und Unterricht begann sich aufzulösen ... Die Veränderungen und Krisen der modernen Gesellschaft bedingten eine Pluralisierung und Differenzierung der Arbeitsfelder" (241). Das Beuggener Modell wurde in der Schweiz eher ein Bremsklotz für die Professionalisierung sozialer Berufe, wie die Vfn. abschließend darlegt (244).

Beispielhafter für die Entwicklung wurde das von Wichern entwickelte Berufsbild sozialer Arbeit der "Mitarbeiter der In-neren Mission ... die sich unabhängig von der Institution Schule auf verschiedene Aufgaben und Arbeitsgebiete spezialisierten" (241). Es orientierte sich an den gesellschaftlichen Herausforderungen der Industrialisierung, Verstädterung und Revolution (150 ff.), am Wandel der Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereiche (233), am Zerfall der bürgerlichen Familie, also an den Krisen, die heute in der Soziologie als Folgen der Ersten Moderne ab-gehandelt werden. "Soziale Hilfe konnte sich nicht länger auf die Armenkindererziehung beschränken. Eine Neuorganisation und Neudefinition sozialer Arbeit (sic!) wurde notwendig," urteilt die Autorin (150).

"In der veränderten gesellschaftlichen Situation sah Wichern die Möglichkeit für einen neuen, umfassenden Ansatz sozialer Hilfe. Überall dort, wo Krisen ausbrachen, begann die Innere Mission mit ihrer Arbeit" (154). Das von Wichern erstmals 1843 vorgestellte und dann fortgeschriebene Ausbildungsprogramm sah in der letzten Ausbildungsstufe, der sechsten, eine Spezialisierung durch Schwerpunktsetzung vor: Für die arbeitsbedingte Migration Kolporteure und pilgernde Handwerksbrüder unter Eisenbahnarbeitern und in Herbergen zur Heimat; für Auswanderer und in Siedlungsgebieten Kolonistenprediger und -lehrer; Spezialisten zur Krisenintervention in Katastrophengebieten; staatlich angestellte Gefängniswärter; Hausväter oder Gehilfen in der Leitung und Verwaltung von Rettungshäusern oder als Armenpfleger in Arbeits- und Armenhäusern (156 ff.).

Für die Professionalisierung besonders interessant ist das Berufsbild des Stadtmissionars. Er sollte unter anderem die soziale Hilfe in den Großstädten vernetzen (171 f.). Damit greift Wichern 20 Jahre vor der Gründung der Charity Organisation Society (COS) eine Aufgabe auf, die 1869 in London und dann in den USA die Entwicklung der ersten professionellen Methode der sozialen Arbeit, nämlich die Einzelfallhilfe (social case work), einleitete.

Gut herausgearbeitet wird der romantische und organologische Ansatz Wicherns (103, 108 ff., 224, 237). "Wichern lebte im Geschichts- und Staatsverständnis der Romantik", urteilt die Vfn. (155), und in der Zuordnung des einzelnen zu Familie, Staat und Kirche (116). Die Verknüpfung mit der Mandatslehre der Lutherischen Orthodoxie wird aber nicht erkannt. Dafür wird die Staatsnähe des Wichernschen Ansatzes gesehen.

Für Zeller breitete sich die Innere Mission "in ’scheinbarer Großartigkeit’ allzu früh und allzu weit aus" (215). Ihm war es "wichtiger, ’im Kleinen recht treu und standhaft’ zu arbeiten" (215), "als sich in große Pläne zu versteigen" (225). Die Vfn. urteilt, es gebe keinen Anhalt dafür, "daß die Arbeit Wicherns im Rauhen Haus auf Zeller zurückgewirkt habe" (215). Eher wirkte Wicherns Organisationsprinzip der dezentralen Familiengruppen auf andere schweizerische "Armenerziehungs- und Rettungsanstalten" (218 ff., 283 Anm. 23). Umgekehrt nahm "die norddeutsche Erweckungsbewegung ... eine größere Offenheit gegenüber Welt, Geschichte und Natur für sich in Anspruch. Wichern grenzte sich in diesem Zusammenhang vom Pietismus ab, kritisierte ihn als eine ’fehlerhafte, verkrüppelte, geängstigte, verengte und verrenkte Form der christlichen Frömmigkeit’ (225). Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis: "Wichern nutzte die Möglichkeiten und Methoden der Moderne, orientierte sich aber weiterhin an tradierten Werten," (155), "gefangen in der Spannung zwischen struktureller Modernität und politischem Konservatismus" (156, auch 223 f.).

Überblickt man diese Arbeit unter dem selbstgestellten Anspruch, einen Beitrag zu den Anfängen "beruflich ausgeübter Sozialpädagogik im deutschen Sprachraum" zu leisten (11) und hierzu "Kategorien" (104) auszuarbeiten, dann ist ihr Ergebnis enttäuschend. Die Arbeit ist weit davon entfernt, die erkenntnisleitenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen der sozialen Arbeit von Zeller und Wichern bei der Interpretation ihrer Konzepte aufzugreifen. Die am Schluß der Darstellung von Beuggen unvermutet angestellten Überlegungen ("Anstelle eines Fazits: Fragen an eine 150jährige Tradition", 98-100) beheben diesen systematischen Mangel nicht.

Was Sozialpädagogik ist, wird nirgends definiert und obendrein erst in einer Anmerkung des Schlußteils (271, Anm. 1) der Hinweis gebracht: "Der Begriff Sozialpädagogik wird hier rückwirkend angewendet. Weder Zeller noch Wichern nannten ihre Tätigkeit Sozialpädagogik". Warum er dennoch auf beide angewendet wird, hätte erklärt werden müssen. Die Schlußfolgerung, daß in Beuggen und Hamburg "der Rahmen der heutigen Sozialpädagogik abgesteckt" wurde (244), wird durch die Arbeit nicht bestätigt.

Im einzelnen ist noch anzumerken: Nicht erkennbar ist, warum am Schluß der Arbeit für den Austritt aus dem Schweizerischen Berufsverband für Sozialarbeit und für die Gründung eines eigenen Schweizerischen Berufsverbandes für Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen" plädiert wird (244). ­ Der Erziehungsroman "Emil oder über die Erziehung" von J. J. Rousseau (1712-1778) erschien 1762 und nicht "Ende des 18. Jahrhunderts" (38). ­ Die "allgemeinen Aufsichtsregeln von Bengel", auf deren Seiten 21 f. verwiesen wird (68), werden in keinem der beigefügten Literatur- oder Quellenverzeichnisse angeführt. ­ Nicht ersichtlich ist, warum die Aufzählung württembergischer Sozialeinrichtungen mit der Paulinenpflege Stuttgart (1829) anstatt mit der sonst chronologisch angeordneten Abfolge, also mit Winnenden (1823), beginnt. ­ Die Erscheinungsjahre der Wichernbiographie von M. Gerhardt sind 1927/1928/1929, nicht 1827/1829/1830. ­ Irritierend ist der Sprachgebrauch von "sogenannt": "sog. Moderne" (19, 91), "sogenannter Neu-Pietismus" (34), "sog. ’Aufseher’ (67), "das sogenannte pädagogische Zeitalter" (75), "sogenannte soziale Frage des 19. Jahrhunderts" (244). ­ Unklar bleibt, wie Chr. Fr. Spittler, der 1867 starb, sich 1872, 1876, 1878 und noch 1879 an Wichern wenden kann (277, Anm. 14). ­ Wichern besuchte die Schweiz 1869 und nicht 1868 (220).